Eva Hesse: Ezra Pound

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Eva Hesse: Ezra Pound

Hesse-Ezra Pound

ERSTES KAPITEL

Eine Zeit zu reden, eine Zeit zu schweigen

Die Worte des Predigers Salomo, die der amerikanische Dichter Ezra Pound zuerst in „Canto XXXI“ (1931) aufgreift, gewinnen für ihn in seinem „zweiten Dasein“, der Zeit seiner Verfemung und seines Ausschlusses aus der menschlichen Gesellschaft, ein unheimliches Eigenleben. Sie kommen ihm zuerst vierzehn Jahre später wieder in den Sinn, als er im militärischen Straflager von Pisa in der Einzelhaft sitzt und es den Mitgefangenen streng untersagt ist, mit ihm zu reden, doch nun in der Umkehrung:

Eine Zeit zu schweigen, eine Zeit zu reden
[„Canto LXXIV“]

Er ist nun „Wondjina“, der westaustralische Regengott, dessen Vater ihm das Mundwerk wegnahm [LXXIV], aber unter dem äußeren Zwang der Stummheit und Kontaktlosigkeit schreibt er damals die elf Pisan Cantos, die ohne Frage zu den eigentümlichsten Dichtungen unserer Zeit gehören. Nach sieben Monaten im Straflager wird er nach Washington geflogen, wo er als Hochverräter vor Gericht gestellt werden soll. Psychisch ist der damals Sechzigjährige noch von dem Trauma gezeichnet, das er erlitten hatte, als man ihn im Lager in einen Käfig sperrte – nach einer Woche stellten sich bereits Bewußtseinsstörungen, Platzangst und Gedächtnisverlust ein. In diesem Zustand ließ man ihn dann noch weitere zwei Wochen im Käfig „schmoren“, ehe er in Einzelhaft überführt wurde. Sein Anwalt in Washington, Julien Cornell, ein Vertreter der amerikanischen Civil Liberties Union, berichtet über das erste Zusammentreffen mit seinem Mandanten:

Ich fand den armen Teufel in einer recht verzweifelten Verfassung vor. Geistig ist er reichlich flatterig, und wenn auch seine Redeweise noch rational ist, so springt er doch ohne Übergang von einem Gedanken zum nächsten. Er ist nicht imstande, sich auf die Beantwortung einzelner Fragen zu konzentrieren, ohne sogleich vom Thema abzuirren. Wir unterhielten uns die meiste Zeit über Konfuzius, Jefferson und die geldwirtschaftlichen und politischen Folgerungen, die aus deren Ideen gezogen werden können. Ich ließ seiner Rede freien Lauf, obwohl ich dadurch nicht zu den Informationen gelangte, die ich brauche, denn es wäre mir herzlos erschienen, ihm die Freude, reden zu können, die man ihm so lange Zeit fast gänzlich verwehrt hat, zu nehmen.

Er konnte also nach der langen Isolationshaft wieder reden, und – wie wir hören – brach die Rede geradezu aus ihm heraus. Dennoch hat man den Eindruck, als ob der Wechsel von Reden und Verstummen von nun an Gesetzen folgt, die nicht mehr ganz seinem Willen unterliegen. Julien Cornell berichtet von einer Unterhaltung im November 1945 :

Als ich ihn am Dienstag, den 27. November, vormittags sah, befand er sich im Zustand beinahe vollständiger körperlicher und nervlicher Erschöpfung. Ich verbrachte eine Stunde bei ihm, indem ich einige seiner Gedichte mit ihm durchging; erst nach Ablauf dieser Zeit erwähnte ich zum erstenmal die Gerichtsverhandlung, die für den Nachmittag desselben Tages angesetzt war. Ich informierte ihn, daß man die Anklage gegen ihn verlesen werde und daß er sich in der einen oder anderen Richtung dazu äußern müsse. Ich regte an, daß es wegen seiner gegenwärtigen Verfassung vielleicht am besten wäre, sich vor dem Gericht nicht für ,nicht schuldig‘ zu erklären, sondern zu der Anklage zu schweigen, und ich setzte ihm die juristischen Folgen der beiden Verhaltensweisen auseinander. Als ich ihn fragte, ob er vor Gericht lieber schweigen oder sich für „nicht schuldig“ bekennen wolle, war er außerstande, mir zu antworten. Sein Mund öffnete sich ein-, zweimal, als ob er etwas sagen wollte, aber keine Worte kamen heraus. Er blickte nach oben, auf die Decke, und es zuckte in seinem Gesicht. Schließlich sagte er, daß er sich nicht wohl fühle und ob er in die Krankenabteilung zurückgehen dürfe. Ich hatte die gleichen Reaktionen, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt, bei früheren Gelegenheiten beobachtet.

Vor Gericht schwieg Pound zu der Anklage. Die für ihn bestellten Psychiater erkannten auf Zurechnungsfähigkeit. Die Tore der „staatlichen Anstalt für kriminelle Wahnsinnige“ von St. Elizabeths in WashingIon D.C. schlossen sich hinter ihm. Das war im Dezember 1945. Das Besondere an diesem Spruch war, daß es – da er nicht verurteilt worden war – für seine Inhaftierung auch kein absehbares Ende gab. Zwölf Jahre wurden daraus. Die ersten fünfzehn Monate der Anstaltszeit verbrachte er in „Howard Hall“, einem Gemeinschaftsraum ohne Tageslicht mit Gummiwänden, in dem die Gefangenen in den akuten Phasen ihrer Krankheit untergebracht waren. Hier, wo „jeder zweite Insasse“ in der Zwangsjacke saß, empfing er, in Gegenwart von zwei bewaffneten Wachen, den ersten Besuch seines Freundes T.S. Eliot. Dessen schriftlicher Protest bei der Anstaltsleitung, daß eine solche Umgebung sich keinesfalls günstig auf Pounds geistigen Zustand auswirken könne, stieß zunächst auf taube Ohren. Erst Monate später, am 4. Februar 1947, wurde Pound in eine andere Abteilung, „Chestnut Ward“, verlegt, in der vor allem senile Patienten untergebracht waren. Hier hatte er eine kleine Kabine, ein Bett und einen Tisch, die – ohne Tür – auf den gemeinschaftlichen Aufenthaltsraum der anderen Anstaltsinsassen hinausging. Hier erhielt er auch die Erlaubnis, zu einer gewissen Tageszeit Besuche zu empfangen. Alle Berichte, die wir über Pounds Zeit in der Anstalt in Washington haben, stammen aus dieser zweiten Periode.

Merkwürdigerweise entfaltete Pound in den fast dreizehn Jahren, in denen er den normalen menschlichen Kontakten entzogen war, eine unheimliche Energie: seine eigenwilligen Versionen von drei der konfuzianischen kanonischen Bücher und die noch eigenartigere Version der konfuzianischen Anthologie, das sogenannte Buch der „Oden“, erschienen; auch seine kühne Modernisierung von Sophokles’ Trachiniae („The Women of Trachis“, 1953) stammt aus dieser Zeit. Schon 1948 waren die Pisan Cantos herausgekommen und 1955 elf weitere Cantos unter dem Titel Section: Rock-Drill de los Cantares LXXXV–XCV; die ersten zwei Cantos des nachfolgenden Canto-Bandes, unter dem Titel Thrones de los Cantares XCVI–CIX (1959), sind auch noch in der Anstalt entstanden. Ein Jahr nach seiner Entlassung schrieb er die allerletzten Cantos, die erst 1969 unter dem Titel Drafts & Fragments of Cantos CX–CXVII in Buchform veröffentlicht wurden, aber zuvor schon über die Jahre 1962 bis 1969 einzeln in verschiedenen kleinen Zeitschriften erschienen waren.
Die Entlassung war möglich geworden, weil die amerikanische Regierung schließlich am 18. April 1958 die Anklage auf Hochverrat fallen ließ. Ein Prozeß oder Schuldspruch hatte also trotz der langen Inhaftierung nie stattgefunden. Nach 12 ½ Jahren Gefangenschaft kehrte er entmündigt, unter Vormundschaft seiner Frau, zu seiner Familie nach Italien zurück. Aber jetzt geschieht wieder etwas Seltsames: nach etwa zwanzig Monaten in der Freiheit versiegt im Herbst 1959 die schöpferische Energie, die ihn all die Jahre getragen hat. Er zieht sich in ein totales Schweigen zurück, das seinem dichterischen Leben ein Ende setzt.
Es handelt sich dabei offenbar um eine seltsame Art von Suizid, unmittelbar von einigen Entwicklungen in seinem Privatleben ausgelöst; aber die eigentlichen Gründe liegen tiefer. Wir können sie erst erkennen, wenn wir uns darüber klarwerden, daß der Anschein der großen schöpferischen Phase Pounds, seiner „elisabethanischen Periode“, die Öffentlichkeit über die seelische Verfassung des Dichters hinweggetäuscht hat, wobei die „Schwierigkeit“ der späten Dichtung eine Rolle spielte.
Der entscheidende Unterschied gegenüber den früheren Cantos liegt darin, daß der Autor die Canto-Fahrt, zu der er in der persona des Odysseus aufgebrochen war, als nicht mehr von ihm selbst gesteuert sieht.
Die Weltpresse hat das Schweigen, das ihn zuletzt überholte, auf mancherlei Weise gedeutet. Er selber aber sah seine Aphasie gar nicht als einen Akt des eigenen Willens:

Ich bin nicht in das Schweigen eingetreten. Das Schweigen hat mich in Beschlag gelegt (Interview mit Grazia Livi).

Seit der Existenzkrise von Pisa kommen seine Worte zunehmend aus einem Schweigen in seiner Mitte, das er keineswegs als sein eigenes akzeptiert. Dieses unpersönliche Schweigen greift in seinem Leben nun allmählich immer weiter um sich. Er wehrt sich dagegen, und eben darum ist seine Wortlosigkeit und Leere von den Fragmenten seines Schiffbruchs bevölkert: Visionen, Stimmen, Zitatfetzen, Geister, Dämonen, seltsame Gestalten und Erscheinungen füllen seine Stille an. Im Jahre 1959, in den allerletzten Cantos, in denen sein ursprünglicher revolutionärer Impuls noch einmal aufflackerte, versuchte er sich die Trümmer seiner großen Fahrt ein letztes Mal auf seine Weise zunutze zu machen:

Aus dem Wrack und Ruin der Zeit geborgen
aaadiese Fragmente wider mein Scheitern angedämmt

[„Canto CX“]

An dieser Stelle wird deutlich, daß er die Funktion seines Gedichtes nunmehr rein defensiv versteht: es ist ein Notanker geworden, und das steht in vollkommenem Widerspruch zur anfänglichen Konzeption der großen weltoffenen Erkundungsfahrt. Als Schiffbrüchigen (wie Odysseus) bezeichnet sich Pound fortgesetzt seit dem psychischen Zusammenbruch im Käfig von Pisa. So fragte er den Leser damals:

bist du geschwommen in einem Meer von Maschendraht je durch ein Äon des Nichts,
als das Floß entzwei ging und sich die Wasser über mir verliefen?

[„Canto LXXX“]

Die große Fahrt setzt sich nun fort:

wie Winde raumen, wie das Floß hintreibt.
[„Canto LXXIV“]

In der Folge beginnt eine neue Gottheit eine überragende Rolle in den Cantos zu spielen. Es ist Fortuna, die Verwalterin aller „splendor mondan“, die nach Dante („Inferno“ VII) dafür zu sorgen hat, daß die Schätze dieser Welt nicht auf alle Zeiten in denselben Händen verbleiben. In dieser Rolle bleibt sie gegenüber dem Willen des einzelnen unerbittlich:

Irdischem Lob sind ihre Ohren taub („Fortunas“)

Fortuna, auf die der Mensch sich einstimmen muß, wenn sein Werk gedeihen soll, wurde in der Philosophie des Mittelalters der Natura gleichgestellt. Der Mensch untersteht völlig ihrer Herrschaft:

Ihre Augen pervenche
aaaalles unter dem Mond ist unter Fortuna

CHÊN e che permutasse
[„Canto XCVI“]

(„pervenche“: franz. immergrün; der Mond repräsentiert in der hierarchischen Rangfolge der Lichtreligionen das weibliche Prinzip, da er sein Licht von der Sonne, dem männlichen Prinzip, empfängt; „che permutasse“: ital. die wandelt; „chên“: chin. der Donner, nach dem „I-ching“ der Gott, der aus der Erde aufsteigt und das tremendum verursacht, mithin auch: Beben, Entsetzen, Erregung).

Das Wirken der Fortuna als die verteilende Gerechtigkeit, das Pound mitunter auch mit der Zirkulation des Geldes, die den allgemeinen Wohlstand bestimmt, assoziiert, wird nun zu einem Schlüssel für ein eigenes glückloses Schicksal. Der „splendor tuondan“ bedeutet für ihn persönlich ganz sicher vor allem die dichterische Inspiration, die sich ihm in den allerletzten Cantos so sehr verweigert, daß wir hier fast nur noch die Stimmen der anderen hören, bis zu seinem endgültigen Verstummen. All dies steckt in der Kurzformel aus „Canto CXII“

Geworfelt im Schicksalssieb
aaaunterm
aaaaaaMondreich

[„Canto CXII“]

In den allerletzten Cantos sehen wir den Dichter dann gegen das große unpersönliche Schweigen, das Ihn nach unbekannten katatonischen Gesetzen zudeckt und aufdeckt, ankämpfen, indem er seine verlorenen Schätze, die persönlichsten Erinnerungen, die stärksten Augenblicke seines dichterischen Schaffens herbeizitiert:

oder ein Lerchenfeld zu Allègre,
aaa„es laissa cader“

[„Canto CXVII“]

Die Besinnung auf das bekannte Lied des Troubadours Bernard von Ventadour, der den Lerchenflug dem dichterischen Schaffensrausch gleichsetzte („Wenn ich die Lerche steigen seh, die sich hochschwingt zur Sonne und sich in der Freude ihres Herzens vergißt und fallen läßt“), soll ihm die tragende Kraft seiner jungen Jahre heraufholen. Umsonst.

Daß im Herbst des Jahres 1969 ein schmales Bändchen – ganze 25 Seiten – erschien, unter dem Titel Drafts & Fragments of Cantos CX–CXVII widerspricht Pounds Äußerung nicht. Denn bei näherem Hinsehen sind all diese Entwürfe nachweislich noch Mai bis Juli 1959, also ein Jahr nach seiner Entlassung, entstanden, und schon der Umstand, daß er zehn Jahre zögerte, bis er sie in mehr oder minder unfertigem Zustand in Buchform veröffentlichte, spricht für die Annahme, daß er selbst darauf gewartet hat, ob sich die Phasen von Reden und Schweigen nicht doch noch einmal für ihn verschieben würden. Aber das Schweigen hat ihn nicht mehr entlassen. Für die Canto-Entwürfe und Fragmente selber gelten die Worte Salomos, die Pound dort aufgreift:

nicht begann noch endet irgendwas
[„Canto CXIV“]

Ein jegliches Ding hat seine Zeit… schweigen und reden, lieben und hassen, denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.

Dem Anschein nach ist gerade die Anstaltszeit für Pound eine große Schaffensperiode gewesen. Aber bei näherem Hinsehen läßt sich ausmachen, daß das psychische Trauma Pounds Cantos in dieser Zeit zu einer völligen Kursänderung gezwungen hat – entgegen den akademischen Exegeten, die darin nach wie vor eine genauestens vorausgeplante und bruchlos durchgeführte Gesamtkonzeption sehen wollen. Der unsichere und fatale Zickzackkurs, den Pound in seiner späten Dichtung steuert, soll in den folgenden Kapiteln auf den verschiedenen ästhetischen, philosophischen, poetologischen, politischen, psychischen und lebensgeschichtlichen Ebenen nachgezeichnet worden.

 

 

 

Vorwort

Kunst ist ein Medium der Kommunikation.
Sie unterliegt dem Willen des Künstlers,
geht aber darüber hinaus.
Ezra Pound

Die Auseinandersetzung mit den Formen des analytischen und dialektischen Denkens soll in dieser Betrachtung das Spannungsfeld abstecken, in dem die Leistungen und Fehlleistungen des amerikanischen Dichters Ezra Pound erst Stellenwert und Standort erhalten. Für Philologen eine Warnung: nämlich die, daß dies Bezugssystem eine Abkehr von der immer noch vorherrschenden werkimmanenten Interpretation dichterischer Texte zugunsten der Weltimmanenz mit sich bringt, einer „überschießenden Interpretation“ (W. v. Humboldt) also, die den Fragen der Politik, Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Geschichte, Religion und Philosophie Rede steht und letzten Endes das Jahrhundertproblem der Krise der westlichen Vernunft in den Brennpunkt rückt, die zugleich eine Krise der Kommunikation und der Identität ist. Das Wort Immanenz, das ursprünglich ein lebendiges Wirken und Eingeschlossensein in das Weltganze meinte, wird in der literaturwissenschaftlichen Anwendung ja leider umgepolt; dort bedeutet es den Ausschluß des Werkes aus der Wirklichkeit, um es allein für sich in einem ästhetischen Naturschutzpark zu internieren. In Pounds Fall könnte man sagen, daß die werkimmanente Interpretation der akademischen „Pound-Industrie“ mit seiner Dichtung genauso verfährt, wie es die amerikanische Rechtsmaschinerie mit seiner Person tat, als sie ihn von aller relevanten Realität ausklammerte und auf Jahre in die Irrenanstalt verwies. Die Abkehr von solch verengenden Betrachtungsweisen macht sich dadurch bezahlt, daß sie etliche Hindernisse aus dem Weg räumt, die das Verständnis des vieldeutigen Phänomens „Ezra Pound“ blockierten und zugleich einige grundlegende Denkfehler offenlegt, die uns der Dichter vorgelebt hat, Denkfehler, denen wir selbst, wenn auch in kleinerem Maßstab, noch allzugern anhängen. In dieser Geschichte steckt also auch eine Moral.
A und O unseres Versuchs der Sinnfindung war der Gesichtspunkt der Totalität, das heißt die Vorstellung, daß es in der Realität nichts Isoliertes gibt, daß vielmehr jedes Ding in seinem Dasein von der Existenz anderer Dinge bestimmt und abhängig ist. Diese Bedingtheit bildet ein bewegliches Netz allseitiger Bezüge, sie ist nichteindeutig festgelegt; wenn jedes Einzelding vom Ganzen der Dinge bestimmt ist, bringt es auch seinerseits dieses Ganze mit hervor, im Optimalfall so, daß „beide durch einander mehr werden“ (C. Enzensberger), was sich allerdings von der Wechselwirkung zwischen Pound und der Gesellschaft kaum sagen läßt: die Gesellschaft sperrte den Dichter in die Anstalt, der seinerseits meinte, als er schließlich – entmündigt, aber frei – sein Vaterland verließ, ganz Amerika sei eine einzige Klapsmühle. Man merke: kultureller Niederschlag auf allen Seiten.
Begreift man die Haß-Liebe-Verstrickung von Dichter und Öffentlichkeit nun als dialektische Totalität, dann kommt man darauf, daß derart eindeutige und „endgültige“ Äußerungen des gegenseitigen Ausschlusses den tatsächlichen Relationen gar nicht gerecht werden, daß ihr wahrer Sinn erst auszumachen ist, wenn sie auf ihre spezifische Phase innerhalb der Gesamtrelation Dichter : Gesellschaft bezogen werden, die sich über eine lange Zeit wechselseitig und widersprüchlich herausgebildet hatte. Solche entgrenzenden Rückkoppelungen freilich müssen der analytischen Vernunft verborgen bleiben, denn die nimmt die Phänomene als vereinzelte aus dem Prozeß heraus und spricht ihnen eine fiktive Autonomie zu, die sie vom Ineinander der Abhängigkeiten abrücken soll. Nach den amtlichen Denkregeln des Westens gibt es keinen Rapport zwischen antithetischen Widersprüchen, sondern nur den Ausschluß zwecks Herstellung von Widerspruchsfreiheit in immer kleiner werdenden „rationalen“ Subsystemen, unter Verzicht auf Sinnzusammenhänge. Für uns heißt das: Wenn Ezra Pounds Denken und Sein nach den Regeln der Logik nur entweder absolut richtig oder absolut falsch gewesen sein können, dann sind die realen Widersprüche seines Lebens so oder so aus unserem Blickfeld ausgeblendet. Eben darauf läuft die bisherige Pound-Exegetik denn auch weitgehend hinaus.
Seit Aristoteles im Altertum befand, daß Wissen und Wissenschaft im strengen Sinn nur möglich seien als Erkenntnis von widerspruchsfreien Gedanken und Zusammenhängen, nimmt die analytische Logik in der westlichen Geistesgeschichte den ganzen Raum der Vernunft für sich in Anspruch: „Findet sich der Widerspruch in einem Gedankenzusammenhang, so muß er beseitigt; findet er sich in einer Erfahrungstatsache, z.B. in der Veränderung, die als solche nicht beseitigt werden kann (!), so muß der Inhalt der letzteren berichtigt, d.h. so ergänzt werden, daß der Widerspruch verschwindet. Durch die Vermeidung des Widerspruchs entsteht formal wahres (logisches) Denken (mögliches Wissen), durch die Beseitigung der in der Erfahrung gegebenen Widersprüche material wahres (metaphysisches) Denken (wirkliches Wissen)“ – so zu lesen im alten Meyers Konversationslexikon. Man beachte, wie hier die Aktivitäten des „wahren Denkens“ im wesentlichen auf Manipulationen, auf „Vermeidung“ und „Beseitigung“, also auf den Ausschluß des Störenden hinauslaufen und wie „wahres Wissen“ als metaphysisch bestimmt wird, in der richtigen Erkenntnis, daß die geforderte Widerspruchsfreiheit sich nur nominalistisch und sprachlich auf dem Gebiet des „abstrakt Allgemeinen“, also im Überspielen des Realen, herstellen läßt. Auch das formallogisch beglaubigte Prinzip der Identität (A = A) ist eine derart wirklichkeitsentleerte zeitfremde Form; Hegel nennt sie den „Ausdruck der leeren Tautologie“. Freilich, das ganze Gebäude unseres westlichen Denkens ist auf dem logischen Grundsatz vom Widerspruch errichtet, der die Existenzunmöglichkeit und Denkwillkür des Widerspruchs behauptet. In der Umkehrung ergibt sich daraus der Satz von der Identität: A ist mit A identisch, weil es einem Nicht-A entgegengesetzt ist. Das „Ich“ ist, wie Kant betont, der höchste Punkt, an dem man die ganze Logik aufhängen müsse.
Augenfällig wird hier das Antagonistische dieser Denkstruktur des Ausschlusses, deren Weiterungen wir heute in allen Lebensbereichen begegnen, zumal sich auch die Ideologien an den absoluten Wahrheiten und starren Antinomien des Entweder-Oder bzw. des ausgeschlossenen Dritten festhaken. Ganz folgerichtig führt diese Denkstruktur des Westens im Endeffekt zur Vernichtung des Nicht-Identischen in Konzentrationslagern, zur Internierung des Störenden in Irrenanstalten, zur Aussperrung von Berufs- und Existenzmöglichkeiten für Kritiker und Dissidenten. Im recht verstandenen dialektischen Denken kann es derlei absolute und unvermittelte Gewißheiten nicht geben, denn das macht (wie Engels bemerkt) gerade der Endgültigkeit aller Ergebnisse des menschlichen Handelns und Denkens ein für allemal den Garaus, weil es auf die grundlegende Seinsform der Zeit zurückreicht, im Gegensatz zum analytischen Denken, in dem es unmöglich ist, „irgendeinen Übergang oder eine Art von Wachstum abzuformen“ (E. Fenollosa). Analytisch gibt es allerdings nur absolute Größen, schwarz oder weiß; Zwischenstufen sind logisch unhaltbar, und alles kommt auf die Schlußfolgerung an; eine Idee ist wahr, wenn sie sich als Endresultat eines Gedankengangs ausweisen läßt, der den realen Widerspruch eliminiert hat. Sie wird alsdann zu einer Sache, über die man, unabhängig von den ursprünglichen Denkschritten, frei verfügen kann; sie ist vom Prozeß der Sinngebung isoliert und allem Wachstum entzogen. Auf diese Weise verdinglicht die analytisch-positive Vernunft die lebendige Dimension der Zeit, indem sie von ihr abstrahiert. In seiner Untersuchung mit dem Titel „Ideologie und Schizophrenie“ geht der Franzose Joseph Gabel noch einen Schritt weiter: er demonstriert die logischen und strukturellen Analogien zwischen Ideologie und Schizophrenie. Diese beiden Denkansätze geben uns eine Richtschnur für die kritische Untersuchung des Falles Pound an die Hand, zumal eine bedeutende Richtung der modernen Psychiatrie das Hauptmerkmal des Wahnsinns – und insbesondere des „Spaltungsirreseins“ – in der Verkümmerung der dialektischen Funktionen und dem Rekurs auf das starre Entweder-Oder der Analytik erkennt. Aber, wird man hier einwerfen, die analytische Logik vertritt doch nach herrschender Überzeugung und altehrwürdiger Tradition die Grundregeln des vernünftigen Denkens überhaupt und ist der einzig legitime Operationsmodus der Rationalität – und nun soll gerade die der Schizophrenie nahestehn? Wir müssen also unsere abweichende Meinung wohl noch etwas untermauern.
Nach analytischem Befund ist der Träger der Vernunft das isolierte denkende Subjekt. Eine Vernunft ohne individuellen Träger anzunehmen, wäre ein Rückfall in die Metaphysik des Mittelalters. Das stimmt nun zwar ganz gut zur bürgerlichen Auffassung vom autonomen Individuum, auf der unsere politischen und wirtschaftlichen Institutionen aufbauen, aber das Gebot unserer späten Stunde meldet ein paar Bedenken an. Das Wesen der Vernunft scheint, genaugenommen, eher im „concret Allgemeinen“ (Pound) zu liegen, in dem, was intrasubjektiv im Gespräch zwischen mindestens zwei Partnern an Kommunikation realisiert werden kann. Die Voraussetzung jedes Gesprächs ist doch die Herstellung eines normativen Konsensus zwischen den Subjekten – Vernunft wäre somit nicht Privateigentum des einzelnen, sondern Medium der Interaktion mit anderen. Unter diesem Gesichtspunkt könnte Rationalität niemals eine Eigenschaft der „isolierten Reflexion“ (Hegel) sein, sie entstünde vielmehr aus der möglichst unverzerrten, „herrschaftsfreien“ (J. Habermas), zwischenmenschlichen Kommunikation und wäre folglich ein dialektisches, ein demokratisches und ein soziales Prinzip, das sich in letzter Instanz an allgemeinmenschlichen Sinnzielen orientiert. Dagegen können etwa die gedanklichen Konstruktionen eines Schizophrenen in sich geschlossen und logisch folgerichtig bzw. widerspruchsfrei sein – nur sind sie nicht ohne weiteres kommunizierbar. Das Problem des „Geistesgestörten“ liegt ja nicht darin, daß seine Gedanken unlogisch, sondern darin, daß seine Prämissen falsch sind, und darin, daß seine Logik weitgehend freischwebend und losgelöst von aller Intersubjektivität operiert, aus der eine objektive Vernunft sich konstituiert. Die subjektive Vernunft spielt sich prinzipiell auf allerengstem Raum ab – zuletzt nur im Kopf des einzelnen. Für eine Denkhaltung, die den Modus des Erkennens und Wahrnehmens zum individuellen, rein privaten Akt des einzelnen erklärt, etwas, das der sozialen Rückbindung oder Abstimmung mit anderen nicht bedarf, hat freilich allein das isolierte Ich Zugang zur Wahrheit, und Pounds Schizophrenie der gestörten Relationen zur Wirklichkeit von Gesellschaft und Natur wird dann auch folgerichtig als „Symptom höchster Geistigkeit“ (Adorno) gewertet.
Gehen wir in der europäischen Geistesgeschichte zurück, dann treffen wir auf Descartes als den Urheber dieser Entwicklung. In seinem epochemachenden Existenz- und Identitätsbeweis ging er davon aus, daß das Denken sich denkend selber in Frage stellen muß, denn erst wenn der Prozeß des methodischen Zweifels oder der Negation durchlaufen ist, können positive Gewißheiten aufgebaut werden (die für Descartes übrigens nach wie vor in dem althergebrachten Glaubensinhalt eines göttlichen Substrats bestanden!). Aus solchermaßen beglaubigtem Denken sollte in einem „rein rationalen Wiederherstellungsprozeß“ (Robert Heiss) die Welt der zweifelsfreien Wahrheit neu konstituiert werden. Um zu seinem unfehlbaren Kriterium der rationalen Erkenntnis zu gelangen, hatte Descartes auf ein Element der anderen, der verbotenen, der dialektischen Tradition zurückgegriffen, und zwar auf die Selbstanwendung, eine Denkform, die, als „Zirkelschluß“ verpönt, für die formale Logik seit jeher einen Gedanken bedeutet hatte, der in sich selbst zurückführt und sich aufhebt und den es darum in der Definition wie in der Beweisführung tunlichst zu vermeiden galt. Gerade Descartes’ Anleihe bei der Dialektik bildet somit den Ausgangspunkt der neuzeitlichen Analytik, ja die Selbstanwendung des Denkens wird hier zum letztgültigen Maßstab der Vernunft erhöht; freilich mit einem entscheidenden Vorbehalt: die Infragestellung oder Negation der Vernunft selber wird nicht als Akt der Vernunft anerkannt – sie wäre ein Widerspruch in sich. Immerhin ermöglicht erst die negative Selbstanwendung Descartes den nächsten, positiven Schritt, das Selbstdenken des Ich: Cogito Ergo Sum. („Mais moi, Monsieur Descartes, qui ne pense pas?“ läßt Pound eine Demoiselle X hier kläglich einwerfen.) Das Wesen der Identität und der Realität ist das eigenschaftslose Sein bzw. das seiner selbst bewußte Denken, das von jedem objektiven Inhalt absehen kann: „Ich bin, weil ich mich selber denke“ – die Außenwelt der nicht-denkenden Dinge und Organismen ist nun als amorpher und passiver Rohstoff der menschlichen Vernunft gegenübergestellt; ihre Unterwerfung bleibt nur noch eine Frage des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts. Der aufgeklärte Mensch weist im stolzen Bewußtsein seiner autonomen Vernunft jede Vermengung mit dem natürlichen oder menschlichen anderen zurück: es ist das Nicht-Identische, dem er nicht mehr unterliegt (Horkheimer/Adorno). Wie denn anders? Auch Descartes’ berühmte Beweisführung ist doch (wie Kant anmerkt) rein tautologisch, weil das „cogito“ („sum cogitans“) das „ergo sum“ bereits in sich enthalten hatte. Die Behauptung der eigenen Identität wird allerdings nicht durch ihre Verdoppelung sinnvoll, sondern erst durch ihre Negation.
Die dialektische Identität entfaltet sich in der Einheit, die die beiden Momente von Selbstbestätigung und Selbstaufhebung in sich einbezieht, nicht in dem formallogischen Zirkel der doppelten Positivität, der ewig auf der Stelle tritt, sondern in den Spiralbewegungen, die zwar dieselben Grundmuster in Negation und Affirmation immer wieder durchlaufen, aber auf verschiedenen Ebenen der Komplexität und Integration (J.P. Sartre). Gerade die immerwährende Selbsterzeugung der Widersprüche über die Nicht-Identität, die hinter aller Entwicklung und Selbstverwirklichung steht, macht die Identität aus, die auch Pound nach seinem Lebensplan in den Cantos zu erfahren sucht. Dazu entwickelt er die drei poetologischen Organisationsprinzipien seines Gedichts: Metamorphose, Ideogramm, Persona, die allesamt rein dialektisch operieren – zumindest programmgemäß. In seinem Experiment, eine „nicht-aristotelische Logik“ zu demonstrieren, wurde er bestärkt durch seine Berührung mit der korrelativen Logik der Chinesen bzw. mit der „Logik der korrelativen Dualität“ (Chang Tung-sun), die er über den Nachlaß Fenollosas kennenlernte (und z.T. mißverstand). Weit entfernt von der berühmten Frage Hamlets – der Meinung, daß ein Ding nicht zugleich sein und nicht sein könne –, hatten die Chinesen für alle Dinge seit jeher einen ständigen Prozeß des Werdens und Entwerdens angenommen, immer unterwegs zum Gegenpol: „Sein und Nichtsein erzeugen einander“ (Lao-tzu). Durch dieses Denken in komplementären Gegensätzen, die sich gegenseitig annähern und durchdringen, bekommt der Identitätsbegriff in China einen ganz anderen Zuschnitt als im Westen. So kann es angesichts einer Tradition von Jahrtausenden kaum wundernehmen, daß Mao Tse-tung in seinen philosophischen Schriften die dialektische Methode weitaus sicherer handhabt, als es die selbsternannten westlichen Repräsentanten dieser Denkform tun, die allzuleicht in die vertraute tautologische Falle tappen. Alle widersprüchlichen Elemente, schreibt Mao, stehen kraft ihrer Gegensätzlichkeit in inniger Verbindung zueinander und ergänzen sich; nicht-widersprüchliche Dinge dagegen haben überhaupt keine Relation zueinander und darum auch keinerlei Bewegungsantrieb. „Die Sache ist die“, fährt er fort, „daß die gegensätzlichen Seiten isoliert, ohne einander nicht existieren können. Wenn eine der beiden entgegengesetzten Seiten fehlt, verschwinden zugleich die Existenzbedingungen der anderen Seite. […] Und so verhält es sich mit allen Gegensätzen. Unter bestimmten Bedingungen sind sie miteinander verbunden, voneinander durchdrungen, ineinander infiltriert, wechselseitig abhängig, und diesen Charakter nennt man Identität.“ Der Konflikt antithetischer Widersprüche bedeutet hier also Einheit, nicht Spaltung, die Einheit des sich selbstregelnden organischen Prozesses. Ohne positiv-negative Gegensätzlichkeit wäre ja auch keinerlei Selbstregelung möglich; sie entsteht daraus, daß das positive und das Negative gegeneinander „nicht gleichgültig“ sind, wie Hegel sagte. Alle Dinge durchlaufen die verschiedenen Phasen ihres Daseins, indem sie die Widersprüche in die fortdauernde Einheit des Selbst einbeziehen, nicht in der tautologischen Stasis A = A, sondern in der Bewegung von A zu Nicht-A und zurück.
Betrachtet man die Identität auf diese dialektische Weise, dann gerät man bald in Schwierigkeiten mit westlichen Vorstellungen von der „Aufhebung“ der Widersprüche in der Synthese. Den Chinesen erscheint das Moment der Synthese als vergleichsweise irrelevant, weil das Umschlagen der positiv-negativen Pole zwar den Hauptwiderspruch ablöst, aber sogleich eine neue Einheit schafft, mit einer anderen Qualität der Widersprüchlichkeit. Eine Auflösung der Widersprüche findet also nicht statt, nur eine Ablösung der Dominanz innerhalb der Widersprüche. Dagegen glättet die westliche Überbewertung der Synthese den dialektischen Widerspruch – „Ausdruck des unauflöslich Nicht-Identischen“ (Adorno) – wieder zur abstrakten Identität mit sich selbst. Das ist eine Folge der analytisch-positiven Selbsttäuschung der Begriffsdialektiker, die das für einen dialektischen Vorgang halten, was in Wirklichkeit nur die Ersetzung der konkreten Besonderheit einer Sache durch einen zusammenfassenden Allgemeinbegriff ist, der die Widerspruchsfreiheit bzw. die abstrakte Identität der formalen Logik wiederherstellt. Diese Art der Synthese bringt aber eben die Willkür des subjektiven Denkens gegenüber der objektiven Realität wieder ins Spiel und damit auch die „schlimme Positivität“ (Adorno) der Analytik. Um dieser Gefahr zu entgehen, sollte (Sartre hat es gezeigt) die Totalität strikt von der Totalisierung unterschieden werden, denn die einmal erkannte Totalität ist bereits eine statische Größe, die außerhalb des dialektischen Prozesses steht, sie wird genauso zu einem Endresultat wie die Schlußfolgerung der Analytik und wirkt sich hinfort als Trägheits- und Beharrungsmoment aus – d.h. als Dogmatik und Orthodoxie.
Jede erreichte Totalität muß aufs neue negiert und totalisiert werden, wenn die Identität substantiell bleiben soll. Die „spirale Form der Entwicklung“ (Fr. Engels) beruht auf dieser Qualität der Negation. Wenn jede Entwicklung sich als die Antithese (oder Negation) von vorhandenen Qualitäten (der These) vollzieht und zur Negation dieser Negation fortschreitet (die Hegel „Synthese“ nennt), müßte, formallogisch gesehen, die zweite Negation mit der ursprünglichen Position identisch sein. Wenn sie es nicht ist, kommt das daher, daß es sich in der Dialektik nicht um eine Aussagen-, sondern um eine Objektlogik handelt. In der Sprache läßt sich freilich zu jedem positiv Gesagten eine Negation finden; in der eigentlichen Dialektik aber ist die Antithese nicht schon mit der These gegeben, d.h. die Beschränktheit der These ist nicht absichtlich aufgestellt worden, sondern ergibt sich erst später aus der Sache selbst, ihrer „Praxis“. Dies tatsächliche Ungenügen der These rührt dann zu der Suche nach Negationen, Alternativen oder „Falsifizierungen“. So kommt es, daß die Synthese mit der Ausgangsposition der These nur eine formale Ähnlichkeit hat, und daß die Negation der Negation in der Dialektik – anders als in der Logik – nicht zur ursprünglichen Position zurückführt: sie ist um die qualitativen und progressiven Momente der beiden vorangegangenen Stufen bereichert worden, ist also mehr als die These. In der recht verstandenen Synthese haben wir die Wiederkunft des negierten Aspekts in einer neuen Qualität, und das bedeutet: der dialektische Lernprozeß muß Rückgriff auf und Weiterführung dessen sein, was der Falsifizierung zum Opfer fiel. Nur durch dieses feedback wird die fortschreitende Realisierung der Identität als Selbstregulativ wirksam.
In diesem Kernpunkt der Negation zeichnet sich der entscheidende Mißgriff Pounds ab, der die Behauptung seiner schöpferischen Autonomie zur Grundvoraussetzung, statt zum Ziel seines Denkens gemacht hatte. Wenn sein Lebensprogramm die Herstellung einer konkreten Identität im Gegensatz zur abstrakten Identität der aristotelischen Logik beinhaltete, dann mußte es sich jedoch notwendig um kritische Selbsterkenntnis handeln: „Nur ein Sein, das die Fähigkeit hat, seine eigenen Möglichkeiten und die seiner Welt zu erkennen … [kann] jede gegebene Existenzform in eine Bedingung seiner freien Selbstverwirklichung überführen“ (H. Marcuse), sogar die Existenzform des wahnsinnigen, kriminellen, inhaftierten Dichters. Aus der totalisierenden Bewegung gewinnt auch das gescheiterte Subjekt die lebenserhaltende Konsequenz des Daseins zurück (wie Pound damals in Pisa). Angelpunkt des Erkenntnisvorgangs, den Pound im Auge hatte, war die kritische Selbstanwendung, durch die allein die letzte Stufe einer Entwicklung jeweils instand gesetzt wird, die vorangegangenen als Stufen auf dem Wege zu sich selber zu begreifen und sie im doppelten Sinn „aufzuheben“.
Aber Pound war es nie recht gelungen, sich über sein Eigengefängnis klarzuwerden. Er konnte sich der eigenen irrationalen, unkontrollierten Vorgeschichte, die ihm die Negation des Bestehenden verbot, nicht entziehen. Das Bestehende behielt für ihn letzten Endes immer recht gegenüber dem „negativen Zeichen“ (Adorno) des Gedankens, und seine Erkenntnis beschränkte sich auf dessen Wiederholung. Infolge dieses inneren „Gummizauns“ (G. Bateson) konnte er die Natur seines Irrtums nicht erfassen und darum auch nicht „aus seinen Niederlagen lernen, um sie in Siege zu verwandeln“, wie es der chinesische Dialektiker gefordert hatte. Seine Selbstverwirklichung war dadurch blockiert, daß er sich weder seine tiefste Motivation noch sein letztendliches Sinnziel völlig bewußt gemacht hatte. Bezeichnenderweise wird das besonders deutlich an der Forderung der unbedingten Ehrlichkeit oder sinceritas, die er an sich selber stellte. Die unumwundene Direktheit des literarischen Ausdrucks ist, nach seiner Überzeugung, die selbstverständliche Folge solcher Redlichkeit: „Das Licht strömen zu sehn / das heißt, hin zur sinceritas / des Wortes, begreifend / KOINE ENNOIA“, so steht es in „Canto XCIX“ („koine ennoia“, nach Pound so etwas wie „Allgemeinverständlichkeit“). Nun ist es geradezu symptomatisch, daß er das Gesagte gleich zweimal in einer Fremdsprache zurücknimmt: Der Drang nach unbedingter Redlichkeit in seiner Dichtung kämpft auch hier gegen den gleich starken Drang zur Verstellung gegenüber dem Leser und sich selbst, ein Konflikt, der die ungeheure Komplexität der „Cantos“ zustande bringt, die sich in der Folge weltenweit von der Allgemeinverständlichkeit entfernen.
In der Phase seiner Kriminalisierung durch die Öffentlichkeit handelte es sich für Pound nur noch um positive Selbstbestätigungen; alle Negation und Selbstaufhebung verfiel einer angstvollen Denkmeidung und Dämonisierung. In der Negation sieht er nun etwas, das das konkret Gegebene in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, statt die Verneinung eines besonderen Inhalts. Er steckt nun, ganz analog dem Seinsbeweis von Descartes, die Realität als den Bereich der identitätslogischen Gewißheiten ab. Er selber ist jetzt „zu schwach, um mit einer Ungewißheit zu leben“ (wie er T.S. Eliot einst vorgeworfen hatte). Ja, die negative Seite der Selbstanwendung ist zu dieser Zeit für ihn geradezu zur Essenz alles Bösen auf der Welt geworden, und da sie das Nicht-Sein der Dinge ausdrückt, wird sie mit der verabscheuten Abstraktion gleichgesetzt. Unverkennbar handelte es sich dabei um eine Projektion des von der Gesellschaft geächteten und negierten Mannes, die Sartres Behauptung, derzufolge alles Böse Projektion ist, sehr gut veranschaulicht. Für den „guten“ Menschen, sagt Sartre, ist das Gute mit dem Sein gleichgesetzt, mit dem, was bereits existiert, das Böse mit allem, was das Bestehende in Frage stellt – mit Negation, Nicht-Sein, Anderssein. Der „gute“ Mensch, als der sich Pound jetzt erweisen möchte, verleugnet fortgesetzt das negative Moment seiner Handlungen und seines Verhaltens. Die Aktivitäten, die er sich gestattet und die er bejaht, sind die Erhaltung, die Aufbewahrung, die Restauration und die Erneuerung – allesamt Kategorien der Wiederholung, nicht der Veränderung oder Entwicklung.
Der positive Identitätsbeweis, den er in der Anstaltszeit antritt, ist folglich rein tautologisch – Widersprüche werden nur noch in Form der Kantschen „Realrepugnanz“ oder der „nichtantagonistischen Widersprüche“ Lenins zugelassen, philosophische Verkleidungen von Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, weil zwischen zwei positiven Gegebenheiten kein Gegensatz besteht und deshalb auch keinerlei Bewegungsantrieb, sich für den einen oder anderen zu entscheiden. Die positiven Momente, die Pound in den späten Cantos nebeneinanderreiht, stehen in keinem Konflikt, denn was er zu dieser Zeit in der Geschichte und seiner weitausgreifenden Lektüre sucht, ist nicht mehr die Veränderung (oder „Metamorphose“), sondern die Identität von allem mit allem. Mit rechthaberischem Wiederholungszwang häuft er alle Fakten aufeinander, die (seiner Meinung nach) erhärten, was er zuvor behauptet hatte („nichtwidersprüchliche Dinge haben überhaupt keine Beziehung zueinander“, Mao), woraus sich die wachsende Atomisierung und Statik des Gedichts schlaglichtartig erhellt. Gänzlich entfallen ist Pound nun die frühere Einsicht, daß seine Fakten sinnlos, weder wahr noch falsch sind, sofern sie nicht auf eine spezifische Zeitphase seiner Totalisierung bezogen wurden.
Natürlich ist ihm die bedingungslose Selbstbehauptung in einer Zeit der psychischen Krisen und öffentlichen Verfemung menschlich nachzufühlen, aber sie wird doch durch die ihm eigentümliche Schwäche enorm überzogen und irregeleitet. So entspricht seine Denkstruktur in dieser Periode zunehmend den Deformationen des formallogischen Ausschlusses und der Ideologie, zumal er nur die Projektionen der Gesellschaft auf seine Person anzunehmen und die an ihn gerichteten faschistischen Erwartungen und Bedürfnisse der amerikanischen Öffentlichkeit zu erfüllen brauchte. Nach außen hin spielte er geradezu lustvoll die Rolle, die ihm verordnet worden war, den Rassenfanatiker und unbelehrbaren verrannten Reaktionär, während er sich nach innen immerfort seine unangetastete Freiheit und Autonomie beteuerte – ein ziemlich schizophrener Zustand, wie man zugeben wird. Insgeheim und für ihn selber nicht durchsichtig bestand hier ein tiefes Einverständnis mit den Mächten, die ihn interniert hatten: die inhumane Denkform des Ausschlusses und der Kriminalisierung von allem Störenden, Widersprechenden, jeder Negation, die faschistoide Notwendigkeit eines „inneren Feindes“ (es war die Zeit des McCarthyism und der gegen die Schwarzen gerichteten States-Rights Agitation, mit denen Pound sympathisierte). Die böse subjektivistische Anpassung an die bestehenden Denkformen, die Pound in diesen Jahren vollzog, wog vielleicht schwerer als die objektivistische Verirrung in seiner eigentlich faschistischen Periode in Italien, weil sie viel unmittelbarer der Plausibilisierung der bestehenden gesellschaftlichen Zustände diente und damit die Wurzel seines humanistischen Selbstentwurfs, nämlich den Ausbruch aus den Denkformen und Denkdeformationen der westlichen Fortschrittsgesellschaft, zerstörte.
Pounds reiches Werk ist durch die Intensität dieser Widersprüche und durch den Einsatz, mit dem er ihrer Herr zu werden suchte, mit Energie aufgeladen, es besteht aus Selbstdefinitionen, Selbstläuterungen, Versöhnungs- und Racheakten, heimlichen Bloßstellungen und Verschleierungen, wobei der pathologische Geheimhaltungszwang, der ihn zunehmend beherrschte, der Sperre gegen das Bewußtwerden seiner Verhaftung in der irrationalen bürgerlichen Vorgeschichte genau entsprach. Noch einmal kommt einem hier ein Wort Maos in den Sinn:

Im Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges gibt es eine ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen einer der Hauptwiderspruch ist; seine Entwicklung und seine Existenz bestimmt oder beeinflußt die Existenz und Entwicklung der anderen Widersprüche.

Im Falle Ezra Pounds liegt dieser Hauptwiderspruch unverkennbar in der Ich-Schwäche, die er durch den unbedingten, unbefragbaren Glauben an die Autonomie seiner Ich-Instanz zu kompensieren suchte – sie gab im Positiven wie im Negativen den Ausschlag in seinem Leben.
Ich danke den Mitarbeitern des Verlages, die dieses Buch durch die Klippen steuerten: Hans-Horst Henschen, der zuerst dem Manuskript den Weg bahnte und ihm seine jetzige Fassung gab, ein Mann, dessen belesene Einsichtigkeit und beherzte Unbedingtheit gedankenschnelle Verständigung ermöglichte; Traut Felgentreff, die sich mir freundschaftlich zur Seite stellte und den weiteren Weg des Buches in ihre bewährten und fähigen Hände nahm; Angelica Pöppel, die den Bildteil organisatorisch in den Griff bekam und künstlerisch gestaltete; Johannes Kreuzer und seinen Mitarbeitern, besonders Ulrich Schmidt, für große Langmut; Peter Nikel für das Wohlwollen, mit dem er die manchmal auseinanderstrebenden Ansichten harmonisierte.

Eva Hesse, Vorwort, April 1978

 

Ein Mann des Chaos, der die Ordnung suchte

– Über Eva Hesses Pound-Studie. –

Wenn wir heute im Deutschen eine einigermaßen genaue Vorstellung vom Werk Ezra Pounds besitzen – eine genauere jedenfalls, als sie in irgendeiner anderen Sprache außer dem Englisch-Amerikanischen existiert –, dann verdanken wir sie in erster, zweiter und dritter Linie Eva Hesse.
In erster Linie der Enthusiastin Eva Hesse, die sich seit den frühen fünfziger Jahren für Werk und Person des damals verfemten Dichters mit Intelligenz und Einfühlung engagiert hat; in zweiter Linie der Übersetzerin, die uns dieses Werk Canto für Canto erschlossen und dabei wohl mehr mit Kalkül als mit Intuition nach Entsprechungen der oft verschlüsselten Poundschen Wortformeln gesucht hat; in dritter Linie der Interpretin und Essayistin, die sich in alle Stoffe, mit denen sich Pound auseinandersetzte – von den mediterranen Stadtstaaten und ihren Schriftzeichen der Chinesen bis hin zur Geißel des Wuchers und den Geldtheorien einen Douglas und Gesell – vertieft und durch diese Detailarbeit einen Blick auf den Hintergrund des Poundschen Lebensgedichtes geöffnet hat, ohne den es für uns ein Buch mit sieben Siegeln bleiben müßte.

Nun legt sie, gleichsam als Resümee ihrer von Pound initiierten weitläufigen Studien, ein Buch vor, das in seiner Mischung aus Polemik und Kolleg, Spekulation und Abrechnung die wohl ungewöhnlichste Biographie darstellt, die sich denken läßt (wenn wir es dann überhaupt als Biographie klassifizieren müssen) –: Ezra Pound – Von Sinn und Wahnsinn; Kindler Verlag, München, 1978.
Das ungewöhnlichste – und zugleich Außerordentliche – an dieser Studie ist der Versuch, den Bewußtseinshorizont Ezra Pounds (vor allem des späten Pound) auf dem Koordinatenkreuz Marx/Freud in seiner Totalität zu rekonstruieren. Was trieb ihn um, was wußte er, warum wußte er es, der geniale Dilettant, nicht besser? Welche Prämissen haben ihn geformt, welche Vorlieben und Blockaden (Eva Hesse spricht von „Denkmeidungen“) in die Irre geführt? Welche Komponenten seines komplexen Charakters ließen ihn, den ursprünglich lauteren Wahrheitssucher, dem es um eindeutige Erfahrung und klare Erkenntnis ging, in trüben Quellen fischen?
Pounds Fehlleistungen und Irrtümer, sein Antisemitismus, seine Wertschätzung Mussolinis, sein Verkennen des (italienischen) Faschismus als einer konfuzianischen Geisteshaltung sind so offenkundig, daß es ein leichtes ist, ihm ein „falsches Bewußtsein“ zu diagnostizieren. Eva Hesse macht es sich ungewöhnlich schwer.
Dieses Buch ist die Summe ihrer Umwege zu einer einfachen Einsicht und zugleich das Dokument einer enttäuschten Verehrung. Es scheint, als habe sie sich mit ihm endgültig von einem übermächtigen Idol und der Last einer fünfundzwanzigjährigen Hingabe daran befreien müssen. Wenn sie „eine Haß-Liebe-Verstrickung von Dichter und Öffentlichkeit“ für die Zeit der Internierung Pounds in der Irrenanstalt St. Elizabeth’s (bis 1958) konstatiert, so gilt das gleiche auch für ihre Beziehung zum Autor der Cantos, wenigstens mündet sie schließlich in einer solchen Haß-Liebe-Verstrickung.
Hans Wollschläger berichtet, wie er täglich während seiner Arbeit an der deutschen Fassung des Ulysses auf dem Gang zum Schreibtisch die Faust vor dem Foto von Joyce an der Wand schüttelte. Das ist dem Übersetzer nachzufühlen. Wieviel heftiger mußte nun Eva Hesse reagieren, die nicht nur Zeile für Zeile das Poundsche Palimpsest entzifferte und nachformte, Zitate verifizierte, Fragmentarisches ergänzte, Anspielungen verdeutlichte und dazu ständig Ausflüge in entlegenste Wissens- und Geschichtsbereiche unternehmen mußte, sondern sich dabei immer wieder nach Passagen destilliertester Poesie mit abstrusen Ansichten konfrontiert sah, die ihren eigenen Überzeugungen diametral entgegengesetzt waren?
Eva Hesse macht sich eine fast qualvolle Lust daraus, auf versäumte Möglichkeiten dieses Lebens hinzuweisen, ungenutzte Ansätze und vertane Chancen aufzuspüren und ihrem Autor vorzuhalten.
Kam er nicht durch seinen Gedanken der Gegenseitigkeit, der „Kongruenz“ und des „gerechten Preises“ dem sozialistischen Ideal der Solidarität nahe? Hatte ihn seine Verdammung des Kapitalismus nicht schon (bei aller Ausklammerung ihres Urhebers) zu einem „punktuellen Marxismus“? War ihm nicht sogar bei seiner Begeisterung für den chinesischen Satz „es Tag für Tag neu zu machen“ die Idee der permanenten Revolution vertraut? Stand er nicht noch 1933 in seiner Schrift „Jefferson und/oder Mussolini“ am Scheideweg zwischen einer Option für die faschistische Diktatur und der Position Lenins (den Pound als außergewöhnliche Persönlichkeit verehrte)? Welches Verhängnis zwang ihn, immer wieder die falsche Wahl zu treffen?
Eva Hesse geht den Gründen und möglichen Gründen Pounds mit Einfühlung und Diskretion nach. Stellenweise aber rechtet sie mit ihm wie eine Erzieherin mit ihrem Mündel. Dabei wird ihre Mißbilligung von Pounds Fehlleistungen nur noch übertroffen durch ihren Ärger über die Weltblindheit der „werkimmanenten“ Pound-Exegese, die sich in der Lust an der Lösung seiner Bildungsanspielungen erschöpft und dabei an allen zentralen Fragen dieses Lebens vorbeisieht. Einzelne Abschnitte lesen sich wie eine Streitschrift gegen die amerikanische Pound-Philologie (die Eva Hesse früher in ihren Nachworten zu den deutschen Canto-Ausgaben dankbar zitierte).
Nichts verübelt Eva Hesse ihrem Autor mehr als jene von der amerikanischen Philologie gerühmten „legistischen“ Passagen aus den in der Klinik St. Elizabeth’s geschriebenen „Rock-Drill“- und „Thrones“-Cantos, in denen Pound (wohl aus dem Bedürfnis, sein Selbstgefühl zu behaupten und seine einmal getroffenen Präferenzen nicht als „wahnsinnig“ qualifizieren zu lassen) auf ein von außen gestützten Ordnungssystem retirierte, das heißt, in der Geschichte nach Beispielen von Rechtsetzungen sucht, die ihm geeignet erschienen, ihn zu bestätigen.
Hat er damit wirklich jenen Satz widerrufen, mit dem er sich im Mai 1945 der amerikanischen Armee stellt:

Wenn ein Mann für seine Überzeugungen nichts wagt, taugen entweder seine Überzeugungen oder er selbst nichts?

War das wirklich die Aufgabe der Bereitschaft, neue Erfahrungen zu machen zugunsten der Absicherung durch akzeptierte Normen? Darüber läßt sich zumindest streiten.
In der passageweisen Annäherung an die simple Normalität einer breiten Öffentlichkeit, die sich in den späten Cantos belegen läßt, jedoch eine Anpassung an die „latent-faschistischen Tendenzen der schweigenden Mehrheit Amerikas“ entdecken zu wollen (bei der in den fünfziger Jahren ein McCarthy hoch im Ansehen stand), scheint mir unzulässig und kurzschlüssig.

Was ich in den späten Cantos zu entdecken meine, ist tatsächlich – bei aller Sprödigkeit der Gestaltung – etwas ganz anderes –: eine vollkommene, nie zuvor so radikal eingestandene Ratlosigkeit über den Sinn von Geschichte und Schicksal einerseits, und die Hinwendung zu einer in wenigen konkreten und faßbaren Gesten gegründeten einfachen Humanität oder Mitmenschlichkeit andererseits. Das schließt den Verzicht auf alle großen utopischen Zielsetzungen mit ein. Aber das ist, als Schlußbilanz eines von hohen Idealen befeuerten Lebens, eher erschütternd als verdammenswert. So verstehe ich auch „Canto CXX“, mit dem das Werk abrupt abbricht, ein gewaltiges Torso:

Ich versuchte ein Paradies zu schreiben
Rühre dich nicht
aaalaß den Wind reden
aaaaaaso ist es das Paradies
Laß die Götter mir nachsehen, was ich
aaahervorgebracht
Laß die, die ich liebe, mir nachsehen
aaawas ich hervorgebracht

Das letzte Wort hat die Natur. Wenn es überhaupt ein Paradies gibt, dann nur in Einklang und Übereinstimmung mit ihr. Aber er weiß, wie flüchtig diese Übereinstimmung ist, nur bruchstückhaft und nur für Augenblicke herzustellen.
Pound tritt in diesen letzten Cantos aus dem Kreis des Geschichtlichen, das ihn so lange bewegte und umtrieb, heraus. Nur noch das Zeitlose vermag ihn zu fesseln. Das letzte Wort hat die Natur, im Guten wie im Bösen. Sie ist es, die – trotz aller gesellschaftlich-geschichtlicher Konstellation – im letzten Charakter und Handlungen des Menschen bestimmt. Zwar zitiert Pound die altägyptische Weisheit: „Des Menschen Paradies ist seine Menschlichkeit“ („Canto XCII“), aber er weiß auch – und dies ist seine letzte schriftlich niedergelegte Äußerung zu einem Problem, das ihn wie kein anderes beschäftigte und irritierte, dem Wucher, in dem er unser Erzübel wenn nicht unsere Erbsünde zu erkennen meinte –:

Was USURA angeht:
Ich hatte das unscharf eingestellt
und hielt ein Symptom für die Ursache.
Die Ursache ist: HABSUCHT.

(Venedig, 4. Juli 1972, Vorwort zu Selected Prose)

Die Wurzel des Übels liegt also für Pound in der menschlichen Natur begründet, nicht in den sozialen Bedingungen (wie sehr sie seiner Entwicklung auch förderlich sein mögen). Das ist sein letztes Wort. Ich glaube, man muß schon ein ganz besonders verbohrter Marxist sein, will man darin eine „unzulässige Verkürzung“ sehen und diese Einsicht Pound zum Vorwurf machen, ja daraus ein Verdammungsurteil über sein ganzes Werk ableiten. Noch im Nachwort zur Ausgabe ihrer Übersetzung der „Cantos I–XXX“, 1964, hatte Eva Hesse sehr viel einfühlsamer und verständnisvoller geurteilt. Da zitiert sie Pound:

Die Künste, Literatur, Poesie, sind eine Wissenschaft wie die Chemie. Ihr Gegenstand ist der Mensch: die Menschheit und der Einzelne. Aus der Medizin erfahren wir, daß der Mensch am besten gerät, wenn er pünktlich gewaschen, gelüftet und gesonnt wird. Aus der Kunst erfahren wir, daß die Menschen untereinander verschieden sind wie die Blätter an einem Baum, daß sie sich nicht gleichen wie die Knöpfe, die von der Maschine gestanzt werden, daß nicht alle Menschen nach den gleichen Dingen trachten, und daß es deswegen unbillig wäre, allen Menschen zwei Morgen Land und eine Kuh zu geben.

Eva Hesse kommentierte das damals durchaus zustimmend: Pound „hält also gerade auf das, was der Moralist vom Fach allzugern übersieht: daß die menschlichen Anlagen gegeben sind und nicht erst nach seinen sittlichen Richtmaßen einheitlich angefertigt werden. Infolgedessen besteht für Pound das wahre sittliche Verhalten darin, das Anderssein des Anderen gelten zu lassen und das höchste sittliche Gebot ist ihm die ,brüderliche Scheu‘ vor dem Mitmenschen, die Konfuzius fordert.“
Jetzt scheint Eva Hesse weit hinter ihre damaligen Einsichten zurückzufallen und sich selbst jenen „Moralisten vom Fach“ zuzugesellen, über die sie sich einmal mokiert hatte. Schade, daß ihr Pound-Buch nicht zehn Jahre früher geschrieben wurde. Was für eine grandiose Sache hätte sie daraus machen können!
Pounds Sünde wider den Geist sind nicht die späten Cantos, sondern seine Reden über Radio Rom während des Krieges (auch wenn manche Kritiker ihre antiamerikanische, antikapitalistischen und antisemitischen Tendenzen heute eher zu tolerieren geneigt sind als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten).
Aber auch hier müssen wir näher differenzieren. Wir können das, denn Pounds Ansprachen über Radio Rom liegen seit kurzem in einer dokumentarischen Ausgabe vor: Ezra Pound Speaking (London, 1978). Antiamerikanismus mögen wir in seinen manchmal sprunghaften, öfters wirren und zuweilen rüden, immer aber erfrischend direkten Reden überhaupt nicht zu entdecken. Im Gegenteil, wir meinen hier die Stimme eines leidenschaftlichen Patrioten zu hören, der in radikaler Opposition zur Regierung seines Landes steht, in Franklin Delano Roosevelt die Verkörperung aller bösen Kräfte und Geister seines Landes erkennt und seine Landsleute vor dieser Inkarnation und ihrer Verführungsmacht warnen will. Wäre das Antiamerikanismus, müßten wir auch allen Gegnern Johnsons, Nixons, Fords oder Carters innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten Antiamerikanismus bescheinigen. Noch weniger als Antiamerikanismus aber stellten Pounds Angriffe auf Roosevelt Hochverrat dar. Dieser Vorwurf ist schlichtweg absurd. Pound hat – gewiß in exzessiver Weise – von dem ihm als amerikanischen Bürger verfassungsmäßig garantierten Recht der Rede- und Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht. Gewiß, er hat gegen Amerikas Eintritt in den Krieg gewettert, und als dieser erfolgt war, auf eine möglichst rasche Beendigung des amerikanischen Engagements gedrängt. Geheimnisse hat er keine verraten, schon weil er niemals Zugang zu solchen besessen hat.
Anders verhält es sich mit dem Antikapitalismus. Pounds Haß auf Usura, den Wucher, die Zinspolitik der Großbanken war ein ständiger Motor seines Denkens. Eva Hesse hat das kenntnisreich analysiert. Auch wenn Pound seine Kritik mehr auf das Geldsystem als auf die Produktionsbedingungen im Kapitalismus abstellt, sind viele seiner Argumente einleuchtend oder wenigstens diskussionswürdig.
Wieviele der bedeutendsten Dichter dieses Jahrhunderts haben sich nicht – meist von einer sozialistischen Position aus! – gegen den Kapitalismus ausgesprochen. Der Widerspruch gegen das kapitalistische System vermag heute niemanden zu diskreditieren, ist eher schon zur affirmativen Attitüde verkommen.
Es bleibt, bei Pound untrennbar mit seinem Antikapitalismus verbunden, der Antisemitismus. Er ist nicht wegzuleugnen. Gerade er verführt Pound zu den bösartigsten Formulierungen. Auch wenn diese selten ohne sarkastischen Witz sind, klingen sie heute wie je abscheulich, ja, mehr noch: verabscheuungswürdig. Wie nirgends sonst in seinem Werk geht Pound in den antisemitischen Partien seiner römischen Reden unter sein Niveau. Sie sind nicht nur der größte Irrtum, der größte Mißgriff seines Lebens. Sie sind – vor allem vor dem Hintergrund der Zeit, in der sie gesprochen wurden, der Jahre 1941, 1942, 1943 – ein Verbrechen. Ein Verbrechen, für das er furchtbar gebüßt hat.
Eva Hesses Analysen sind von einer ungewohnten und darum erfrischenden Leidenschaftlichkeit, ja Parteilichkeit. Das verführt sie immer wieder zu ausgedehnten Exkursen und läßt sie zuweilen Aufbau, Gliederung und Ziel ihrer Arbeit aus den Augen verlieren. Generell bleibt sie uns die Darstellung der Fakten und ihrer Folgerungen im Lebenszusammenhang Pounds – als setzte sie beim Leser als bekannt voraus – wie jede chronologische Diskussion seiner Äußerungen, Handlungen, Entscheidungen und Nichtentscheidungen im Kontext von Leben und Werk schuldig.
So gelingt es ihr wohl, Pounds Fehler und sein endliches Scheitern plausibel zu machen, aber seine Größe, der literarische Einfluß und der geistes-geschichtliche Stellenwert seines Werkes und damit letztlich auch die Tragik seines Schicksals werden kaum einsichtig. In ihren Nachworten zu den deutschen Canto-Editionen hatte Eva Hesse zu diesem Thema sehr viel mehr zu sagen.
Eva Hesse charakterisiert Pound treffend als „Mann des Chaos, der die Ordnung sucht“. Sie bemerkt in dem früh aus der amerikanischen Provinz nach Europa aufbrechenden, idealistisch gestimmten Jüngling einen weichen, aufnahmebereiten, beeindruckbaren, der Freundschaft bedürftigen Charakter und konstatiert eine „Ich-Schwäche“ als Urphänomen oder „Grundstörung“ seines Wesens. Diese führt Pound zu seiner Vorliebe der Masken und Metamorphosen und schließlich zu einer Manie der Verschlüsselung und Geheimhaltung, die seine Cantos kennzeichnet. Sie erklärt seine Bewunderung „harter Männer“ in Geschichte und Gegenwart, überhaupt alles Starken und Organischen.
Es war diese „Ich-Schwäche“, die ihn endlich in die Arme des Faschismus trieb. Zugleich ließ sie ihm die proteushafte Natur des Odysseus wesensverwandt erscheinen. Odysseus, der viele Gestalten annehmen konnte, wurde für ihn zur Maske der Masken, in seinem Zeichen trat er die Lebensreise der Cantos an. Der im Wesen der odysseischen Wandelbarkeit steckende Gedanke „omnis intellectus omniformis est“ – eigentlich neuplatonischen Ursprungs – inspirierte Pound zu einigen seiner schönsten „Ideogramme“, in denen sehr Entferntes miteinander in Beziehung tritt. Dieser Gedanke der „omniformis“ barg aber auch eine für ihn entscheidende Gefahr. Er bestärkte ihn im Glauben an die unbeschränkte schöpferische Autonomie des künstlerischen Individuums.
Er spiegelte ihm eine Freiheit des Gedankens vor, die ihn im tatsächlichen Leben der definitiven Festlegung enthob – als ob es in sein Belieben gestellt wäre, jederzeit in Masken zu schlüpfen und sie wieder zu verlassen. So machte ihn die Projektion dieses Prinzips, aus dem seine Dichtung soviel Kraft bezog, in der Realität verwundbar und führte ihn sehenden Auges in die Katastrophe.
Pound ging es um ein Paradiso terrestre, ein irdisches Paradies, das von Gerechtigkeit und Sensibilität geprägt ist und die Möglichkeit des erfüllten tätigen Lebens gewährt. Seine Suche nach diesem Paradies als Bestimmung der Menschheit war zugleich eine Suche nach dem Irrtum in der menschlichen Geschichte, nach den Ursachen, die sie von ihrem utopiebestimmten Kurs abweichen ließ. In den späten Cantos wird daraus angesichts seiner Ächtung durch die Gesellschaft eine Suche nach den eigenen Irrtümern, die ihn seinen selbstgestellten Auftrag verfehlen ließen.
Er erkennt den Irrtum, kann ihn aber nicht orten. Es ist die besondere Tragik dieser letzten Cantos, daß er in ihnen, mehr denn je nach einem paradiso der Menschlichkeit verlangend, dieses nicht nur als für sich selbst verschlossen, sondern überhaupt als jenseits der Chancen des Menschen liegend erfährt. So begriff er sein Scheitern als potenziertes Scheitern.
Es gehört zu den überzeugendsten Perspektiven des Buches von Eva Hesse, daß sie einen mangelnden Sinn für Dialektik als zentralen Fehler seines Denkens einschätzt. Pound wollte mit den Cantos ein Gedicht schreiben, daß „die Geschichte einbegreift“, aber er besaß kein Gespür für die geschichtliche Bedingtheit der von ihm zitierten Phänomene. In einer großen Collage verband er Elemente einer ihm ideal erscheinenden Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aus verschiedenen Zeiten und Zivilisationen, um ihre Dauer zu postulieren. Er übersah dabei, daß er durch die Fragmentierung und Vereinzelung aller Phänomene in den Cantos sie zugleich ihrer geschichtlichen Dimension beraubte. Indem er sie aus ihrem historischen Zusammenhang löste, verlieh er ihnen nicht überzeitliche Gültigkeit, sondern nahm ihnen die dialektische Dynamik des Widerspruches. Indem er sein paradiso – das ja ein irdisches, kein transzendentes sein sollte – im Zeitlosen zu verankern suchte, machte er es unmöglich.
Es bleibt jene Merkwürdigkeit, daß ein Mann, dessen Menschlichkeit so oft seinen Ansichten widersprach, der sich so tief in Irrtum und Schuld verstrickt hatte, der so sehr an entscheidenden Erkenntnissen seiner Zeit vorbeiging, dennoch nachhaltig auf diese Zeit und ihre Literatur gewirkt hat. Es bleibt die Merkwürdigkeit, daß ein Mann mit diesem Maß an Verblendung und dieser „Ich-Schwäche“ sich dennoch als eine der großen Figuren des Jahrhunderts in unser Bewußtsein geschrieben hat.
Was berührt uns am Falle Pound? Ist es die Tragik, daß sich ihm alles, was er anstrebte, ins Gegenteil verkehrte? Ist es das Maß an Leiden, das dieser selbstlose Glücksucher auf sich zog? Ist es das Bild des Dichters, den eine zivilisierte Gesellschaft in einen Gorillakäfig sperrte und über ein Jahrzehnt in einer Irrenanstalt isolierte, weil sie meinte, mit seiner Stimme nicht leben zu können?
Schließlich: Bedeutet ein universaler Ansatz im Sinne eines Homer, Vergil oder Dante, wie ihn Ezra Pound in seinen Cantos wagte und durchzuhalten versuchte, heute nicht einfach eine naive Überforderung unseres Bewußtseins, die nicht mehr geleistet werden kann?
Das sind Fragen, die wir gerne an eine spätere Pound-Biographie stellen würden. Vielleicht, daß Eva Hesse sie aus größerem Abstand einmal schreiben wird.

Wieland Schmidt, Die Zeit, 26.1.1979

Die Masken des Dichters Ezra Pound

I
Ich liebe Gesichter. Ich bin fasziniert von Gesichtern. Wie andere Leute Bücher lesen, lese ich Gesichter. Ich kann in einem Café in der Leopoldstraße in München stundenlang sitzen und mir die vorbeiziehenden Gesichter anschauen. Am Boulevard St. Germain de Près in Paris. Im Kungsträdgarden in Stockholm. Am Kings Cross in Sydney. In der Galleria Umberto II. in Mailand. Am liebsten aber ist mir die Subway in New York, in der mir von Brooklyn bis zur 180. Straße die ein- und aussteigenden Gesichter die Geschichte dieser Stadt und ihrer Bewohner erzählen. Da kommt der ganze Broadway nicht mit. Jakob Böhme, der schlesische Mystiker, hat einmal geschrieben, Gesichter sind der Spiegel der Seele. Ich komme aus Schlesien.

II
Als ich zum ersten Mal das Gesicht von Ezra Pound sah, in dem Fotoband Observations von Richard Avedon, es war Anfang der sechziger Jahre, durchfuhr es mich: Ja, das war die Inkarnation des alten, einsamen, erhabenen Dichters, des Archipoeta. Ein Gesicht wie eine verwitterte Landschaft, erstarrte Lava, Schründe, Falten, Gruben, Runzeln, Spuren eines gelebten Lebens, die Augen nach innen gerichtet, der Mund, blockartig, halbaufgerissen. So, stellte ich mir vor, müßte Homer ausgesehen haben. Dieses Gesicht allein erzählt das Leben, erzählt die Dichtung, erzählt das Jahrhundert. Dieses Gesicht erzählt alles.

III
lch kannte damals schon Eva Hesse, die in München lebende deutsche Übersetzerin von Ezra Pound. Mehr, seine Interpretin. Seine Propagandistin. Wir hatten oft über Pound geredet, gestritten, uns erhitzt. Ich war damals stark von Pound beeinflußt gewesen. Die „Gleiwitzer Kindheit“, mein mehrteiliges Poem, benutzt einige von Pounds formalen Entdeckungen. Ich hatte mich in den Gefängnisstrophen der Pisaner Gesänge entdeckt. Die Grundsituation, war sie für mich in Workuta nicht ähnlich gewesen?
Pound war für mich damals ein thematisches Erlebnis wie ein formales Ereignis. Rainer M. Gerhardt, ein heute vergessener Lyriker, der mit dreißig Jahren in Berlin Selbstmord beging, hatte uns nach dem Krieg die ersten Texte von Pound übersetzt. Es gab ein paar Eingeweihte. Als Anfang der Sechziger Jahre Die Frauen von Trachis in Darmstadt aufgeführt wurden und in Ulm die No-Spiele in der Poundschen Fassung, da begegneten wir uns, Wieland Schmied und H.C. Artmann, Raddatz und Holthusen, Thomas Bernhard und Hans Neuenfels, der damals nur ein Dichter war. Wir stritten furchtbar miteinander, denn wir hatten jeder eine andere Ästhetik, aber in der Bewunderung für Pound waren wir uns einig.
Ich erzählte Eva Hesse von meinem Film-Plan. Sie war zunächst skeptisch, denn Pound hatte sich seit einiger Zeit ins Schweigen zurückgezogen. Er sprach mit niemandem mehr. Er verweigerte sich der Welt. Gerade das aber wollte ich zum Inhalt meines Films machen: der alte Dichter, der nach langen Irrfahrten in fremden Ländern nun Ruhe sucht. Eva Hesse übernahm die Vermittlung, sie hoffte sogar, Pound mit der Filmarbeit aufzumuntern. Eines Tages sagte sie: Du kannst runterfahren nach Rapallo. Er ist bereit, sich filmen zu lassen. Aber er wird nicht reden. Sieh zu, wie du damit fertig wirst.
Jetzt mußte ich erst einmal das Geld für den Film organisieren. Das war gar nicht so einfach. Schließlich hatte ich noch nie vorher einen Film gemacht und, schlimmer, ich hatte das Filmemachen nicht gelernt. Ich wußte weder, was ein Zoom noch was ein Focus ist und konnte 16 mm vom 35 mm-Format nicht unterscheiden.
Ich hatte eine Idee, und ich brachte Begeisterung mit und eine winzige literarische Reputation. Damals genügte das schon. Kurt Zimmermann vom Hessischen Fernsehen gab eine Hälfte Geld und die andere Hälfte Hans Eckelkamp vom Atlas-Verleih, der gerade mit dem Schweigen von Ingmar Bergman an den Kinokassen alle Rekorde brach. Es waren insgesamt 10.000 DM. Sicher nicht die Welt. Aber ich hatte ja noch nie einen Film gemacht; die Leute investierten ins Ungewisse.
Als Drehorte hatte ich vorgesehen: das Haus bei Rapallo, wo Pound zusammen mit seiner Lebensgefährtin Olga Rudge die Sommer verbrachte; Venedig, wo er im Winter lebte; Pisa, wo ihn die Amerikaner 1945 interniert hatten und er die Pisaner Gesänge schrieb. Und schließlich die Brunnenburg bei Meran, die der Tochter gehörte und wo sich das Pound-Archiv befand.

IV
Am 21. Juli 1965 fuhren wir los. Ich hatte meinen Freund Christian Enzensberger gebeten, mitzukommen, als Anglist, dachte ich, würde ihn diese persönliche Begegnung mit Pound ohnehin interessieren, und ich hätte zugleich einen exzellenten Dolmetscher dabei. Wir fuhren über die Schweiz, weil Österreich für Film-Ausrüstungen hohe Kautionen verlangte, und so viel Geld hatten wir gar nicht mehr, die 10.000 DM waren für Film-Material, Kamera-Miete und Honorar-Vorschüsse draufgegangen.
Gegen Mittag des nächsten Tages kamen wir schließlich in Rapallo an, ganz verschwitzt. Vergeblich versuchten wir irgendwo ans Meer zu kommen, um zu baden. Der Strand ist überall privater Besitz und man muß weit hinaus fahren. Ich machte mich auf den Weg nach einem Blumenladen (in italienischen Städten gibt es nur wenige), um für die Pounds Orchideen zu kaufen.
Ezra Pound hatte 1914 Dorothy Shakespear geheiratet, „sie ist schön und vermögend und hat ganz reizende Umgangsformen“, schrieb Yeats von ihr. Von diesem Vermögen hat Pound wohl auch zeitlebens profitiert; denn seine Gedichte brachten ihm nicht viel ein. In Paris hatte er die Geigerin Olga Rudge kennengelernt, mit der er in den Zwanziger Jahren nach Italien ging. Ein wenig seltsam, zugegeben: Olga gebar ihm 1925 eine Tochter; Dorothy ein Jahr später einen Sohn. Seit vier Jahrzehnten lebte Pound nun mit Olga zusammen, ohne je von Dorothy geschieden zu sein.
Als wir in dem kleinen Haus oben auf dem Hügel in San Ambrogio eintrafen, hatten sie gerade ihr Mittagessen beendet. Olga begrüßte uns freundlich. Ezra, im Hintergrund, taxierte uns wie Leute vom Bestattungsdienst, die gerade gekommen sind, seinen Leichnam abzuholen. Nach einer Weile setzte er sich unvermittelt auf einen Stuhl, den er sich vorher so zurechtgerückt hatte, daß er uns den Rücken zukehrte. Er starrte schweigend die Wand an, während wir mit Olga redeten und unseren Drehplan vortrugen. Gelegentlich war ein Murmeln aus seiner Ecke zu vernehmen, unverständliche, abgerissene Wörter, so etwas wie ein Bellen. Erst später erfuhr ich, daß dies seine Gewohnheit seit dem Aufenthalt im St. Elizabeth Hospital in Washington D.C. war (und das war ja nichts anderes als ein Irrenhaus gewesen), immer waren dort viele Menschen um ihn herum, und wenn er allein sein oder wenigstens das Gefühl haben wollte, allein zu sein, setzte er sich direkt vor eine Wand und vergaß so, was hinter ihm geschah.
Pound, so suggerierte uns Olga, wolle das Drehbuch erst sehen, bevor er sich entscheide, in dem Film mitzuwirken. Ich hatte einen Entwurf mitgebracht, Stationen seiner Biographie – im Grunde wollte ich mich von der Situation und vom Schauplatz überraschen und anregen lassen. Olga gab ihm das Manuskript (das Enzensberger vorher ins Englische übersetzt hatte), und während wir über das Wetter, die Landschaft, die besten Restaurants an der Küste und über die steigenden Preise redeten, während wir immer wieder abbrachen und ins Schweigen verfielen, wurde von mir jedes Ächzen, jedes Raunzen, jedes Wortbellen in der Ecke mit höchster Anspannung registriert.

V
Ich glaube, es waren zwei Stunden vergangen, vielleicht sogar noch mehr. Pound wandte sich in seinem Stuhl zu uns um. Er sagte: I’m not an actor. Es war der erste Satz, der verständlich war, auch wenn er ihn mehr krächzte als sprach. Es war als ob jedes einzelne Wort von ganz fern her kam und mühsam zwischen den zusammengepreßten Lippen ausgestoßen werden mußte. Er wiederholte: I’m not an actor.
Ich werde diesen Satz mein Lebtag nicht vergessen. Und danach trat wieder eine lange Pause ein. Wir wagten nichts zu sagen. Wir warteten, was nun geschehen würde. Es hatte wie der Beginn einer Erklärung, einer längeren Antwort geklungen. Sogar Olga schwieg jetzt, die vorhin vor lauter Verlegenheit beredt dieses schöne unverdorbene Fleckchen Erde („this unspoilt Liguria“) gepriesen hatte. Und dann monologisierte Ezra vor sich hin. Ich weiß nicht, ob er uns überhaupt noch wahrnahm. Wir hörten jedenfalls genau hin. Wir verstanden nicht alles.
Der Sinn seiner bruchstückhaften Konfession war etwa folgender: Er sei doch nur ein kleines bescheidenes Talent, das mittelmäßige Werke geschrieben habe, zwanzig Prozent davon seien überhaupt nur wert, gedruckt zu werden, der Rest sei Makulatur. Homer, was für ein Unsinn. Dante, was für ein Unsinn. Die Cantos eine Jahrhundertdichtung, was für ein Unsinn. Er habe ein paar Kollegen zum Ruhme verholfen, Joyce, Eliot, Hemingway – das sei seine einzige Leistung, über die man reden könne. Am besten, man vergesse ihn. Sein Name sei es nicht wert, aufbewahrt zu werden. Und nicht sein Gesicht. Glaubten wir denn, die Leute wollten ihn im Kino sehen, im Dunkeln? Anspucken werden sie ihn, anspucken…
Und immer wieder dazwischen, heftig hervorgestoßen: Überall hätten sie mich aufgehängt, damals, nach dem Krieg. Nur in Amerika nicht. Ich hasse sie, die Amerikaner. Aber sie haben mich nicht aufgehängt. Dabei haben es sich viele meiner Kollegen gewünscht…
Wieder dieses Bellen. Pound kam aus seinem Liegestuhl und seiner Ecke nicht heraus. Er starrte immer noch die Wand an.
Olga stand einige Male auf, ging zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter. Und setzte sich wieder an ihren Platz. Es war, als ob sie sich vergewissern wollte, daß er es war, der da redete. In den Pausen setzte Christian Enzensberger einige Male zu Fragen an, aber Pound hörte nicht hin, er monologisierte weiter. Ich bin gescheitert, stieß Pound dumpf hervor. Gescheitert… Wir schwiegen alle. Es war später Abend, als wir schließlich gingen. Olga verabschiedete uns so definitiv, als ob sie mit einem weiteren Besuch nicht mehr rechnete.
Wir aßen in einem Restaurant ganz in der Nähe. Wir schütteten den Wein mehr in uns hinein als daß wir ihn tranken. Ich war ziemlich verzweifelt. Pound war achtzig, und ein Film mit ihm, das wäre in jedem Fall ein wichtiges Dokument gewesen. Wenn er sich aber der Kamera verweigerte, war alles vergeblich. Man hatte mir das Geld dafür gegeben, daß ich Ezra Pound, den größten lebenden amerikanischen Dichter, zeigte. Und nicht Bäume, Straßen, Häuser, Venedig, Rapallo – um dazu aus seinen Cantos zu rezitieren.
Für den nächsten Tag erwartete ich die Filmleute – was sollte ich ihnen nur sagen? Ich konnte sie ja nicht wieder zurückschicken?

VI
Das Film-Team war angekommen. Sie waren guter Laune, (obwohl sie der italienische Zoll vier Stunden lang festgehalten und alle Geräte registriert hatte. Ich erzählte ihnen von unserem gestrigen Nachmittag und was Enzensberger und ich da oben in dem gelben Haus von San Ambrogio erlebt hatten. Zu meiner Überraschung waren sie gar nicht enttäuscht, sondern optimistisch und arbeitslustig. Es ist nicht das erste Mal, daß wir solche Schwierigkeiten haben, sagte der Kameramann. Das kriegen wir schon hin.
Wir fuhren mit zwei Autos die Straße nach San Ambrogio hinauf. Das letzte Stück bis zum gelben Haus ist ein Gehpfad und nicht befahrbar. So schleppten wir gemeinsam die Gerätschaften hinauf. Olga Rudge öffnete uns. Sie haben doch nichts dagegen, meinte der Kameramann, wenn wir uns ein bißchen im Haus umsehen. Und ohne eine Antwort abzuwarten, begab er sich auf Motivsuche. Olga war so überrascht, daß sie gar nichts sagte. Ich hielt mich im Hintergrund. Der Assistent organisierte inzwischen über die ENA zusätzlichen Strom, denn die normale Kapazitat würde für unsere Scheinwerfer nicht ausreichen.
Ezra sagte nichts. Er tat so, als sei er mit sich selbst beschäftigt oder sehe zum Fenster hinaus, als interessierten ihn diese ganzen Filmvorbereitungen mitnichten. Er konnte auf seinem Bett sitzen, lange und unbeweglich; er konnte am Treppengeländer im Flur lehnen, reglos. Er konnte in die Bücher hineinschauen, ohne eine Zeile zu lesen. Es war, als sei er einfach ein Gegenstand in diesem Raum. Ich beobachtete ihn und hatte das Gefühl, daß er auch uns beobachtete. Olga rannte hin und her, wiederholte eifernd, Really, he is not an actor. Niemand hörte hin.
Der Kameramann rief: Wir drehen erst mal auf Probe. Das ganze Licht an, bitte! Die Lampen flammten auf. Die Kamera surrte. Ich war beschämt. Ich gebe zu, ich versteckte mich. Ich wollte jetzt Olga nicht begegnen.
Der Kameramann sagte laut und auf deutsch: Das hier ist ein schönes Motiv. Wir lassen den alten Weihnachtsmann von links kommen, dann geht er die Treppe hinunter, ganz langsam, und unten öffnet sich die Tür und das Licht von draußen fällt auf ihn, ja, das gibt schöne Bilder im wechselnden Licht. Ich sah, wie Enzensberger zusammenzuckte. Ich selbst nickte gequält. Vor der Mittagspause sagte der Kameramann zu Olga: Sie haben doch nichts dagegen, daß wir die ganze Ausrüstung im Flur lassen? Wir können das alles ja nicht gleich wieder hinunterschleppen. Olga schluckte, wollte protestieren. Aber dann schwieg sie.
Um drei Uhr fangen wir an zu drehen, sagte der Kameramann beim Mittagessen in der Trattoria, das ist klar. Ich war skeptisch. Ich dachte, wie denn? Aber er war guter Dinge. Sagen Sie mir nur, was für Szenen Sie brauchen. Vielleicht ist es besser, Sie sind am ersten Tag gar nicht dabei. Wir machen das schon. Und wir tun so, als ob wir nicht Englisch verstehen.
Und tatsächlich, als ich am nächsten Tag in dem Haus auftauchte, hatten sie bereits 600 Meter gedreht, fünf Kassetten voll, und Ezra wiederholte alles willig, was sie ihm halb deutsch/halb englisch vormachten. Ich versteckte mich hinter einer Tür und beobachtete alles genau. Dazwischen flüsterte ich dem Kameramann meine Anweisungen zu. Ezra vor dem Haus. Ezra geht durch die Flure. Ezra im Dunkel seines Arbeitszimmers. Ein Fensterladen nach dem anderen wird geöffnet, jedesmal fällt mehr Licht auf seine Gestalt, und dann das letzte Fenster, und jetzt wird sein Gesicht von der Sonne überstrahlt, geradezu erleuchtet, wird ganz unwirklich, löst sich auf im Licht, surreal.

O strange face there in the glass!
O ribald company, O saintly host,
O sorrow-sept my fool,
What answer? O ye miriad
That strive and play and pass,
Jest, challenge, counterlie!
I? I? I?
And ye?

VII
Christian Enzensberger war in der Frühe zurückgefahren. Als ich in unserer kleinen Pension zum Frühstück herunterkam, fand ich einen Zettel auf meinem Platz: Entschuldige, aber ich hab das nicht mehr ausgehalten. Am liebsten wäre ich auch gefahren. Aber ich mußte dableiben. Gerade jetzt, wo die Dreharbeiten ganz gut vorangingen. Ich war deprimiert.
Wir drehen im Arbeitszimmer von Pound. Er steht am Fenster. Blick nach draußen. Ins Leere. Ins Ungewisse. Er sitzt an seinem Arbeitstisch. Den hat er sich vor zwanzig Jahren selbst geschreinert. Überhaupt die Möbel. Sie sind von größter Einfachheit. Roh gezimmert. An den weißen Wänden wenige Bilder. Ein Max Ernst ist darunter, eine Gouache von Lèger, ein Pastell von de Pisis. Das Bett stammt von Joyce; er hat es Pound vererbt, und es ist erst nach einigen Umzügen hierher gelangt, ein eisernes, schmuckloses Bett. Auf dem Holztisch literarische Zeitschriften, ein dicker Band Cavalcanti, Gedichte von Eliot, Anthologien, Belegexemplare seiner eigenen Werke, die in der letzten Zeit gekommen sind, stapeln sich auf dem Fußboden, in vielen Sprachen, sogar in Russisch, aus dem Exil-Verlag Possev in Frankfurt am Main.
Ezra sitzt am Schreibtisch, er schlägt ein Buch auf, The Four Quartetts, er blättert geräuschvoll die Seiten um. Aber er liest nicht darin. Er schreibt auf einen weißen Bogen Papier mit einem dicken Stift seinen Namen. Schreibt ihn wieder und immer wieder, diesen seinen eigenen Namen. Er geht ein paar Schritte, setzt sich aufs Bett, reibt die Hände aneinander, starrt auf sie, lange, als seien sie zwei kleine Tiere, die miteinander spielen. Er blickt in die Kamera, und nichts bewegt sich in seinem Gesicht, der Blick ist erloschen. Nur das Augenlid zuckt.
Er tut alles, was ich ihm sage. Wenn auch immer erst nach einer kurzen Verzögerung. So als müßte er sich erst einen Ruck geben. Und es ist, als wiederholte er eigentlich nur das, was er schon seit langem tut. Jede Geste, jede Bewegung, jede Wendung ist eine Wiederholung. Er ist nicht mehr er selbst. Er ist das, was man aus ihm gemacht hat. Der gescheiterte Dichter. Jetzt ist er es. Der wahnsinnige Dichter. Jetzt ist er es. Der ins Schweigen Zurückgezogene. Jetzt ist er es. Der sich der Welt verweigert. Jetzt tut er es.
Pound macht inzwischen willfährig alles, was wir von ihm wollen. Er läßt sich führen wie ein willenloser Greis. Ich berühre ihn. Ich fasse ihn an, am Arm, an der Schulter. Er ist groß. Er ist viel größer als ich, einsneunzig, würde ich schätzen. Der Körper mager, aber kräftig. Das Haupthaar, schlohweiß und noch gar nicht schütter, rahmt sein Gesicht ein. Der eisgraue Bart zeichnet seine Würde. Das Hemd hängt um seinen Körper.
Pound auf der Straße. Pound unter Ölbäumen. Pound vor der malerisch verwitterten Mauer der alten Dorfkirche. Olga, die überall dabei ist, sich aber diskret im Hintergrund hält, schießt jetzt hervor, mischt sich ein. Nein, auf keinen Fall Ezra zusammen mit einem Kreuz oder einer Kirche, das ergäbe nur peinliche Assoziationen. Dann Pound vor einem alten aufgelassenen Speicher, die Fenster vergittert. Wieder mischt sich Olga ein. Nein, auf keinen Fall Pound und Gitter, das ergäbe nur falsche Assoziationen. Wieso falsche, denke ich.

VIII
Am nächsten Tag kam ich etwas später zum Drehort, weil ich noch in Rapallo für Pound eine große Bonbonniere und für Olga ein Flakon Parfüm kaufen wollte. Jeden Tag brachte ich so meine Opfergaben, um die beiden Hausgötter zu besänftigen. Denn weder Pound noch Olga hatten bisher expressis verbis den Filmarbeiten zugestimmt. Wir hatten einfach angefangen zu drehen. Und Pound hatte mitgemacht. Aber er könnte sich von einer Stunde zur anderen der Kamera verweigern. So war ich interessiert, gleich in den ersten Tagen möglichst viel mit ihm selbst zu drehen, vor allem die Großaufnahmen in seinem Arbeitszimmer. Für heute war ein langer Gang geplant, unter Ölbäumen, an einer zerfallenen Mauer entlang, die bis hinüber zum Nachbardorf Pantaleo führte. Ich sah schon von weitem das Kamerateam, und Pound ging, auf einen Krückstock gestützt, an der Mauer entlang. Er trug den hellen weiten Schlapphut, den ich am Tag vorher in einem Hutladen erstanden hatte. Er stand ihm ausgezeichnet, er verlieh ihm etwas Archaisches, und das befriedigte mich. Olga war zunächst dagegen gewesen, daß er ihn überhaupt aufsetzte.
Ich hielt mich im Hintergrund und ich sah den Dreharbeiten zu. Die Kameraleute schickten den greisen Dichter – gar nicht respektvoll – immer wieder nach oben, und er mußte aufs neue seinen beschwerlichen Gang an der Mauer entlang antreten. Die Sonne stieg. Olga trippte heran und tupfte Ezra den Schweiß vom Gesicht. Noch einmal, sagte der Kameramann, dann legen wir den Film ein und drehen; jetzt sieht er echt müde und erschöpft aus, der alte Dichter, am Ende seiner Irrfahrten angekommen, so wollten Sie ihn doch, nicht wahr? Sie hatten die ganze Zeit mit leerer Kassette gedreht.
Zwei Reporter aus England waren plötzlich aufgetaucht. Sie wollten Pound interviewen. Aber Olga ließ sie nicht an Ezra heran und verschloß ihn kurzerhand im Haus. Wir mußten die Dreharbeiten unterbrechen. Sie habe so schlechte Erfahrungen mit Reportern gemacht, sagte sie, daß sie jetzt keinen mehr sehen wolle. Immer schreiben sie, Ezra habe sich mit erhobenem Arm (also mit dem Hitlergruß) verabschiedet, und das sei eine eindeutige Lüge. Aber so wollten sie ihn eben haben: alt, verbittert, unbelehrbar, verrückt.
Wir konnten weiterdrehen. Das Volksfest von Pantaleo. Es waren zu wenig Leute da, um meine Metapher vom ,Dichter in der Menge‘ zu erfüllen. Ohnehin merkte ich bald, daß das eine ziemlich schlechte Idee gewesen war. Pound war immer ein Einzelgänger gewesen. (Ich habe diese Volksfest-Sequenz dann auch nicht in den Film genommen.) Die Leute grüßten Pound ehrerbietig. Er überragte sie alle um Haupteslänge und fiel mit seinem weißen Bart und dem großen Hut überall auf. Sie nannten ihn: il poeta!

IX
Letzter Drehtag mit Pound. Wir fuhren am Nachmittag nach Zooglie ans Meer, etwa eine halbe Autostunde von San Ambrogio entfernt. Ich wollte ihn allein, in einer archaischen Landschaft. Nur Wasser, Himmel, Sand, Felsen. Und der Dichter. Wir sind zu früh da. Das Licht ist zu hell, zu gleißend, es macht die Landschaft flach und geheimnislos. Wir müssen also bis zum frühen Abend warten. Pound ist geduldig. Wir bauen ihm ein Zelt auf, in dessen Schatten er ausruhen kann. Er kommt immer wieder heraus und sieht sich die Szenerie an.
Zum ersten Mal habe ich ihn allein. Und ich fange an, ihn auszufragen. Er schweigt erst eine Weile, aber dann antwortet er mir, zögernd, mit großen Pausen. Er spricht wieder von seinem Scheitern. Die Cantos, die er vor einem halben Jahrhundert begonnen habe, sollten so etwas sein wie Dantes Divina Commedia.
Ich mußte scheitern, weil ich zu hybrid war, weil ich zu viel wollte. Was ist mein Werk schon, nichts als Bruchstücke …. Bruchstücke, Fragmente, Niederlagen. Die Zeit ist gegangen, die Zeit ist vorbei, ich werde nichts mehr schreiben. Ich möchte nicht, daß von mir etwas bleibt.
Und er wiederholte, was er schon am ersten Tag gesagt hatte: Alle hätten sie mich aufgehängt, damals nach dem Krieg. Nur die Amerikaner nicht. Und dann bellte er es heraus: Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätten mich aufgehängt. Now I wish that they had done it.
Die Abendsonne senkte sich herab. Die Felsen am Meer von Zooglie erglühten. Das Licht changierte. Ich hatte mir vorgestellt, Pound geht barfüßig ins Wasser, und der einsame Dichter verschmilzt mit dem Licht, dem Wasser, den Felsen, verliert sich in der Weite. Aber jetzt wagte ich gar nicht, ihn darum zu bitten. Aber er verstand mich. Willig zog er sich Schuhe und Strümpfe aus, krempelte die Hosenbeine hoch und ging durchs Meer. Jetzt war er der Archipoet. Jetzt war er Homer.
Mir wurde auf einmal bewußt: was ich zeige, ist nichts anderes als die Verfälschung der Wirklichkeit. Aber es gibt keine Wirklichkeit. Es gibt nur Masken. Und jetzt habe ich Pound die Maske Homers aufgesetzt. Ein Mann, der immer Masken getragen hatte. Und der am Ende selbst nicht mehr wußte, was sein wahres Gesicht und was seine Masken waren. Der einen ganzen Gedichtband Personae – Masken genannt hatte.

X
Ich habe Pound während der fünf Drehtage beobachtet. Ich kam nicht hinter sein Verhalten. Ich hatte jeden Tag eine neue, eine andere Theorie über ihn. War er wirklich verrückt? Oder spielte er nur den Verrückten? Manchmal dachte ich, er hat Absencen, und der Geist wohnt nur zeitweilig in seinem Körper. Dann wieder hatte ich das Gefühl, er durchschaue alles und mache sich über uns lustig. Einmal sah er mich an, und sein Blick durchdrang mich, schmerzhaft, für Sekunden. Oder hatte ich mich nur getäuscht? Hinterher war sein Blick wieder erloschen.
Wird jemand, der zwölf Jahre lang in einem Irrenhaus gehalten wird, am Ende nicht zwangsläufig irre? Oder hatte er sich eingemauert in seinem eigenen Ich? Unsere Rufe erreichten ihn spät, wie durch eine dicke Mauer hindurch. Es war, als erinnerten sie ihn an ein anderes, an ein früheres Leben. Die wenigen Augenblicke, da ich mit ihm sprach, da er antwortete, redete er nur von seinen Irrtümern, von seinem Scheitern, von seinen Niederlagen. „Many errors, a little rightness“, heißt es in seinem letzten Canto,

„To excuse his hell and my paradiso.
And as to why they go wrong
thinking of rightness.
And as to who will copy this palimpsest?…
To confess wrong without losing rightness
Charity I have had sometimes,
I cannot make it flow through.
A little light like a rush light
to lead back to splendour.“

So endet Canto 116, im Jahre 1959 entstanden und Fragment geblieben.

Die große Kristallkugel hab ich geholt
aaaaaaaaaaaaaaaawer kann sie heben?
Findest Du Einlaß in das große Lichttor?
Aber die Schönheit liegt nicht im Wahnsinn,
ob mich auch Wrack und Irrtum umgibt…
Und es geht etwas bergan
aaaaaaaaaaaaaaaavor dem Absprung,
um wieder zu sehen,
aaaaaaaaaDas Zeitwort ist SEHEN, nicht: weitergehen.
Will sagen, es fügt sich schon ein,
aaaaaaaaaauch wenn meine Stichworte es nicht tun.
Viele Irrtümer,
aaaaaaaaaetwas an Richtigkeit
Mag seine Hölle aufwiegen und mein PARADISO:
Und warum sie fehlgehen,
aaaaaaaaada ihr Sinn nach Richtigkeit steht?
Und wer dies Palimpsest ausschreiben wird?
Fehler eingestehen, doch die Richtigkeit nicht verlieren.
Mitgefühl hab ich manchmal gehabt,
aaaaaaaaaich kann es nicht durchfluten
Ein kleines Licht wie ein Binsendocht
aaaaaaaaadas in den Lichtglanz zurückführt.

XII
Wir fuhren weiter nach Pisa. Drehten auf der Wiese vor dem Baptisterium. Dort könnte sich das Lager befunden haben, in dem Pound 1945 mit anderen amerikanischen Gefangenen (es waren meist kriminelle Elemente der Armee, die auf ihre Überführung in die Staaten warteten, um dort ihre Strafen abzusitzen) festgehalten wurde. Niemand weiß heute mehr, wo es genau war. In dieser Zeit schrieb er die Cantos 74 bis 84, die als Pisaner Gesänge veröffentlicht und 1949 mit dem angesehenen Bollingen-Preis ausgezeichnet wurden, was einen Skandal in der amerikanischen Öffentlichkeit hervorrufen sollte. Er übersetzte dort auch Konfuzius. Es war eine literarisch fruchtbare Zeit für ihn. Wenn man daran denkt, wie es russischen Dissidenten-Schriftstellern ergeht, die in der Sowjet-Union in Lager gesperrt werden…
Dann drehten wir in Venedig. In schmalen verwaisten Kanälen, verwitterte Mauern, verlassene Paläste, zerfallende Häuser, bröckelnde Fassaden, zerbrochene Türen das häßliche Venedig, wie es kein Tourist zu sehen bekommt. Immer wieder Mauern voller Schründe, Buchten, Falten, Kanten, Runzeln, Verwitterungen – wie das Gesicht von Pound.
Jetzt fehlten uns noch die Irrenhaus-Bilder. Natürlich wollte ich kein vordergründiges Abbild. Der Assistent machte den Vorschlag, in Stra zu drehen, einem kleinen Ort kurz vor Padua, wo es ein altes Schloß gibt, ganz in manieristischem Stil gebaut. Wir wurden aber nicht einmal in den Park eingelassen. Man verlangte von uns eine staatliche Drehgenehmigung, die bei der italienischen Bürokratie so schnell nicht zu kriegen war. Und wir wollten jetzt keine Zeit verlieren, denn jeder Tag kostete viel Geld allein an Leihmieten. Auf der Rückfahrt entdeckte ich ein Bambusgehölz, Tausende von gerade gewachsenen Stämmen, die sich bis ins Unendliche ausdehnten, in einem flirrenden Licht – es war ein phantastischer Irrwald, der hervorragend für meine Metapher taugte.
Und am Schluß noch ein Drehtag auf der Brunnenburg bei Meran. Die gehört Pounds Tochter Mary de Rachewiltz, die mit einem bekannten Ägyptologen verheiratet war. Zu dieser Zeit wohnte dort auch Dorothy, die angetraute Ehefrau Pounds. Man sagte von ihr, sie weile immer in seiner Nähe, ohne ihm jedoch zu begegnen. Als sie von unserem Film erfuhr, wollte sie unbedingt aufgenommen werden, ganz im Gegenteil zur diskreten Olga Rudge, die sorgsam darauf geachtet hatte, daß sie niemals ins Bild kam. Da wir fürchteten, sonst nicht an das dort lagernde Pound-Material heranzukommen, drehten wir einfach ein paar Szenen mit Dorothy. Wieder mit Leer-Kassette, denn wir wollten sie gar nicht im Film haben. Sie war entzückt und holte immer neue Schals und Stolen und Mäntel herbei, mit denen sie sich drapierte.
Das Archiv, stellte sich heraus, war ziemlich bescheiden. Erstausgaben seiner Bücher, beileibe nicht alle, Zeitschriften, Fotografien, ein paar Briefe, keine Original-Manuskripte oder Handschriften. Dabei war immer die Rede von einer gewaltigen Pound-Sammlung gewesen. Doch die frühen Fotos waren wichtig, beim Durchblättern spürte ich, wie sehr sie zum Begreifen dieses greisen, erloschenen Dichters gehörten, die Fotos mit James Joyce, William Butler Yeats, Ernest Hemingway, Ford Madox Ford, Gertrude Stein, Strawinsky. Das war einmal sein Lebenskreis gewesen, aus dem er sich entfernt hatte. Weg vom Literaturbetrieb. Aber eben auch weg von der Literatur. Weg von den Menschen. Das brachte ihn in die Isolation, in die Einsamkeit, in den Starrsinn, in die Verblendung und schließlich in die Verweigerung der Welt: „Ob mich auch Wrack und Irrtum umgibt“ – wie er im letzten Canto bekennt.
Wir fuhren zurück nach München. Ich habe noch lange an Pound gedacht. Ich konnte das Gesicht nicht vergessen, das wie aus einem verwitterten Stein gehauen schien. „Der Geist Homers singt“ – hatte Truman Capote unter das Pound- Foto von Richard Avedon geschrieben, das im Guggenheim-Museum in New York hängt. Ich dachte an jene Persona – jene Maske –, die in Rapallo für uns den greisen Dichter Pound gespielt hatte. Ich fröstelte.

Horst Bienek, Akzente, Heft 5, Oktober 1985

 

 

ICH BIN MIT MEINER AMEISE GEGEN EZRA
Pound angetreten, laut Jury lagen wir bis
Zuletzt vorn, aber Pound, Pound kam noch
Mal zurück, auch mit einer Ameise, allein hätte er
Es nämlich nicht gegen uns geschafft, wir spielten
Zu viert Palästina, West Bank, geharkte Sandwege,
Bewegungsmelder, wir mussten uns vorher nackt
Ausziehen, in die Hocke gehen und
Husten, die Ameisen auch, wir
Bewarfen uns mit Ziegelsteinen
Und Würfelzucker, immer einen Ziegelstein und
Ein Stück Würfelzucker im Wechsel, ich verwickelte
Die Jury während des Werfens in ein Gespräch
Über die Eitelkeit des Dechiffrierens, in der
Kulturgeschichte der unmittelbaren ländlichen
Gewißheit bedeutete eine einfache Arbeiterin
Schließlich noch immer viel weniger als eine
Lateinische Zeile von Augustinus, meine Ameise
Hielt inne und staunte, daß meine Ameise
Staunte, erkannte man daran, daß sie Anfang Mai
Fast einen Ziegelstein anstelle eines
Stück Würfelzuckers an den Kopf bekam, nur weil Pound
Im Stillen für sich die Reihenfolge der zu werfenden
Gegenstände geändert hatte und die Arbeiterin
Mir zuliebe nicht diese eine wenigstens für sie relevante
Ausweichbewegung mehr machte, West Bank,
Verunstaltete Sandwege, Elektronik, Beton, aber
Wir konnten doch nicht gleichzeitig fliegen und
Werfen, Venedig, die Dolomiten, Castel Fontana, die
Asphaltierten Patrouillenwege, siebenhundertneunundfünfzig statt
Dreihundertdreiundsiebzig Kilometer, laut Jury, die
Eigens für diesen Wettkampf aus Ulpana und
Migron angereist war, lagen wir bis zuletzt
Vorn, aber Pound,
Pound kam ein letztes
Mal zurück.

Thomas Kunst

 

 

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Stefan Troller: Ein Mann auf dem Weg zur Toteninsel

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Ezra Pound

 

 

Michael Reck: Prospero. Ein Gespräch zwischen Ezra Pound und Allen Ginsberg
DU, Heft 9, September 1968

Franco Antonicelli: Ein Besuch bei Ezra Pound
DU, Heft 2, Februar 1967

Pierre Imhasly: Dichtung in vielen Zungen
DU, Heft 2, Februar 1967

Zum 80. Geburtstag von Ezra Pound:

Hans-Jürgen Heise: Ezra Pound zum 80. Geburtstag
Die Tat, 29.10.1965

Zum 100. Geburtstag von Ezra Pound:

Steve Lake: Ezra Pound
Akzente, Heft 5, Oktober 1985

Zum 45. Todestag von Ezra Pound:

 

 

Zum 50. Todestag von Ezra Pound:

Hans-Ulrich Fechner: Vor 50 Jahren ist der Dichter Ezra Pound gestorben
Die Rheinpfalz, 1.11.2022

Willi Winkler: Bürgerkrieg unter friedlichen Affen
Süddeutsche Zeitung, 27.10.2022

 

 

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Ezra Pound liest Canto XLV.

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