Eva Hesse: Zu Ezra Pounds Gedicht „Cantos VII“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ezra Pounds Gedicht „Cantos VII“. –

 

 

 

 

EZRA POUND

Canto VII

ELEANOR – sie erlosch im britischen Klima
aaaaa… und … und
aaaaader arme alte Homer blind,
aaaaafledermausblind,
Ohr, Ohr fürs Tosen der See;
aaaaadas Raspeln von Greisenstimmen.
Und dann die Spiegelung: Rom
Marmor-Reihen, tucheng zu sitzen,
„Si pulvis nullus“, spricht Ovid,
„Erit, nullum tamen excute.“
Dann Rautenzahn, Kerzen, e li mestiers ecoutes;
Schauplatz nur für Fehden, dennoch Schauplatz,
Wimpel, Standarten y cavals armatz
Kein bloßes Gestrichel, sichtlose Aufzählung,
Bis zu Dantes „ciocco“, dem Brand, Treffer im Spiel.

Un peu moisi, plancher plus bas que le jardin,

„Contre le lambris, fauteuil de paille,
Un vieux piano, et sous le baromètre…“

Die greisen Stimmen unter Säulen in Marmor-Ausführung,
Die modische, gebrochene Wandtönung,
Diskret mit Gold versetzt, die Täfelung
Dazu zu denken, weil dem Pachtvertrag
Ein kleiner Formfehler anhängt… etwa drei Paneele;
Das Haus zu massig, die Gemälde
Ein wenig dick gefirnißt.
Und die mächtige Schädelkuppe, con gli occhi onesti e tardi
Zieht mir voran, Phantom mit wuchtendem Gang,
Gravi incessu, trinkt es „den Ton“ der Dinge,
Und die greise Stimme hebt an
aaaaaund webt einen Satz ohne Ende.
Auch wir machten Geistervisiten, und das Treppenhaus,
Das uns ehdem gekannt, fand uns wieder auf seinem Absatz,
An leeren Zimmern anpochend und um verblichene Schönheit;
Doch die braungebrannten, kühlen, anmutigen Finger
Heben den Riegel von geschweifter Bronze nicht, keine Empire-Klinke
Spricht an, wenn der Türklopfer fällt; keine Stimme antwortet.
Fremder Concierge statt dem gichtfüßigen.
Skeptisch gegen all das, sucht man nach Leben,
Irre am Augenschein. Die welken Blumen,
Ausgeräumt an die sieben Jahr, vergebens:
Vermaledeite Trennwand! Braunes Packpapier, straff gespannt,
Vermaledeite, windige Trennwand.
aaaaaIone, tot Jahr und Tag.
Mein Türsturz, Liu Tsch’es Schwelle.
Zeit ausradiert mit dem Gummi.
aaaaaDas Elysée führt einen Namen fort
Und der Bus hinter mir gibt ein Datum zum Dübel;
Niedrer Plafond, der Erard und das Silber,
Diese haben statt in der „Zeit“. Vier Stühle, die vorgebauchte Anrichte,
Das Pult mit eingelaßner Tuchfilz-Platte.
aaaaa„Bierflasche auf dem Sockel des Standbilds!
„Das, Fritz, ist die Ära, das Heute an dem Gestern,
„Zeitgerecht.“ Und die Leidenschaft läßt nicht los.
Statt Tätlichkeiten Aroma. Räume statt ihrer Annalen.
Smaragdos, chrysolithos; da Gama trug Schlitzhosen in Afrika
Und „Wogenberge kamen nieder mit Truppen“;

La vieille commode en acajou:
aaaaaBierflaschen aus vielen Schichtfolgen,
Aber ist sie denn tot wie Tyro? Sieben Jahre danach?

Das Meer wäscht an im Sand-Riffel und kollert die losen Kiesel,
Eleanor!
aaaaaDer tiefrote Vorhang wirft einen zartroten Schein;
Nachtlicht in Buovilla, e quel remir,
aaaaaUnd jenen ganzen Tag
Hielt vor mir her Nikäa
Die kalte graue Luft kam ihr nicht bei
Samt ihrer nackten Schönheit und schreckte nicht die sonnenheiße Haut,
Die langen schmalen Füße setzten auf den Bordstein
Und ihre ragende Höhe glitt mir voran,
aaaaaWir nur waren seins-stark.
Und jenen ganzen Tag, ein andrer Tag:
aaaaaDünne Spelzen, die ich als Menschen gekannt,
Dürre Bälge abgelebter Zikaden
aaaaaäußern eine Schale der Sprache…
Zwischen Stuhl und Tischkante geklemmt…
Worte wie Zikaden-Bälge, trächtig von keinem Sein;
aaaaaEin Dürres, das um Tod anhält,
Ein andrer Tag, in den vier Wänden eines Kitsch-Mykene,
„Toc“ Sphinxe, Säulen „auf Memphis“ gemacht,
Und unter dem Band eine Rinde, Stille und Starre,
aaaaaGehäus vom älteren Haus.
Braungelbes Holz und der fehlfarbne Anstrich,
Schüttres, professorales Gespräch…
aaaaajetzt über den wummernden Takten,
Haus von diesem Haus geräumt.

Breite gerade Schultern und die seidne Haut,
Wangen der Tänzerin, hinüber;
aaaaaDie toten alten Wortschwaden, verpufft
Seit zehn Jahren, wölken sie immer noch ein:
Glassturz, Einschluß in der Luft.
aaaaaDas abgeschmackte Herrenzimmer trumpft auf;
Die jungen Männer, niemals!
aaaaaBloße Spelzen der Sprache.
O voi che siete in piccioletta barca,
Dido, von Weinen gewürgt um ihren Sichäus,
Liegt mir schwer in den Armen, Totgewicht,
aaaaain Tränen ertränkt der neue Eros,
Und das Leben geht weiter, mondblind auf kahlen Hängen;
Flamme sticht aus der Hand, der Regen, unlustig,
Trinkt dennoch von unsern Lippen den Durst,
aaaaagreifbar wie Widerhall,
Leidenschaft: eine Form zu zeugen in den Regenschlieren,
Doch Eros versackt, wassersatt, halbtot
aaaaaUm den toten Sichäus.

Bewegung, wahnschaffnes Leben:
Denn die Bälge vor mir regen sich,
Die Worte raspeln: Hülsen von Hülsen gedroschen,
Der Lebende, aus Verliesen und Ländern,
aaaaarüttelt an trocknen Schoten, stochert
Nach früherem Trachten, nach alten Banden,
aaaaaund die großen Zikadenbälge
Neigen sich zur protzigen Tischplatte hin,
Führen Löffel zu Mündern, stechen Gabeln in Koteletts,
Und geben Laute von sich als wie Stimmen.
aaaaaLorenzaccio
Leibhafter als sie, der Flammen und Stimmen mehr mächtig.
Ma se morisse!
aaaaaCredesse caduto da sé, ma se morisse!
Und der baumlange Gleichmut setzt sich in Gang,
aaaaaHülle, in der es west,
Drift in der Schicksalsluft, fleischloser Spuk und doch heil.
O Alessandro, Haupt, dreifach gewarnt, Betrachter,
aaaaaEndlos Betrachter der Dinge,
Der Dinge, der Menschen, der Lüste.
aaaaaAugensterne flott in der dürren Luft,
E biondo, mit glas-grauer Iris, mit gerader Haartolle
Die starren, stillen Züge.

Deutsch von Eva Hesse

 

Smaragdos, chrysolithos: Reflexionen zu Pounds „Canto VII“

Wenn wir im folgenden einige Komponenten aus denen sich Ezra Pounds „Canto VII“ zusammenbaut betrachten, so dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: daß es sich in diesem Gedicht nicht sowohl um eine Reihung als um eine Ballung der Einzelteile handelt. Streng genommen, zeitigt das ideographische Strukturprinzip der Cantos keine Vorstellungen, die sich aus dem Prozeß herausnehmen ließen, es bildet vielmehr einen intellektuellen und emotionalen Komplex, „aus dem, durch den und in den immerfort Ideen dringen.“ (Alle nicht eigens gekennzeichneten Zitate in diesem Text stammen von Ezra Pound.) Die einzelnen Bestandteile erhellen sich sprunghaft auseinander und werden dadurch in einen Sinnzusammenhang hineingerissen. Jeglicher Kommentar des Autors entfällt. Ein Glied erhebt das andere in die Potenz, bleibt aber in der Vereinzelung ohne die Dynamik, auf die hier alles ankommt. Wenn man einen Canto somit interpretieren wollte, als wäre er bloß die Summe seiner Einzelteile, statt deren Produkt, würde man sich um eine ganze Dimension vertun; das Verfahren der Cantos ist synergetisch im Sinne Buckminster Fullers. Wenn wir uns im Verlauf dieser Analyse dennoch Einzelposten vornehmen, so müssen wir dabei bedenken, daß dieses Vorgehen lediglich ein Behelf auf dem Wege zum besseren Verständnis ist, etwa so, wie man einen lebendigen Organismus, den man erforschen will, zunächst einmal tötet, um ihn leichter sezieren zu können.
Die realen Umstände, unter denen dieser Canto entstand, sind für das Beginnen wichtig – nicht weil sie zum Verständnis des Textes verhelfen, sondern weil sie ein Mißverständnis verhindern können. „Canto VII“ wurde erstmalig 1921 in der Augustnummer der Zeitschrift The Dial veröffentlicht. Das Datum verdient Aufmerksamkeit, da „Canto VII“ öfters als Ezra Pounds „Seitenstück“ zu T.S. Eliots Waste Land bezeichnet wird. Wirklich finden sich in The Waste Land (und mehr noch in „Gerontion“ und „The Hollow Men“) eine Anzahl gleichläufiger Motive, so das Zikadenlied, die Bei-lebendigem-Leibe-Toten, die Dürre, das stillose alte Haus, die Menschenschalen – um nur einige zu nennen. Tatsächlich haben das Waste Land und „Canto VII“ das gleiche Thema: die Konfrontation des lebendigen Menschen mit einer lebensfeindlichen Umwelt und mit dem Überhang erstarrter traditioneller Formen. T.S. Eliot lieferte sein Manuskript im Dezember 1921 bei Pound in Paris ab, nach seinem Nervenzusammenbruch und anschließendem Kuraufenthalt in der Schweiz. Erst damals setzte der Briefwechsel der beiden Freunde über die endgültige Gestalt des Gedichtes ein. Es dürfte sich also hier weniger um eine simple Ableitung des einen Werkes vom anderen handeln, als um einen echten Synchronismus. Die Pounds waren Anfang 1921 von London nach Paris übergesiedelt, das Pound vor dem Krieg, sieben Jahre war es her, zuletzt besucht hatte, wenn man den kurzen Aufenthalt im Juni/Juli 1920 nicht rechnet, als Pound James Joyce und seine Familie in Paris einführte. Die Zahl sieben bekommt denn auch in diesem, dem siebenten Canto eine eigenartige, noch nicht ganz geklärte Bedeutung. Diese biographischen Aspekte werfen einiges Licht auf die Zeilen 1, 31–40, 79 und 109 des Cantos.
Bei seinem Vorkriegsbesuch in Paris hatte Pound als Haupt der imagistischen Schule Englands, Remy de Gourmont, den Wortführer der französischen Imagisten kennengelernt, mit dem er bis zu dessen Tod im Jahr 1916, in regem Gedankenaustausch stand. Beide Dichter waren sich darüber einig, daß die Herrschaft der hohlen abstrakten Worte aufhören müsse, daß eine Rückkehr zum Konkreten und Bildhaften nottat. Es war eine Zeit der Schaffensfreude und der Anregung gewesen, der Hoffnung auf eine Erneuerung des kulturellen Klimas. Sah es nicht fast so aus, als sollten die herrschenden Scheinwerte abgelöst werden, als sollte eine Literatur entstehen, die von einer übernationalen Kultur gedeckt war? Nun, nach der furchtbaren Desillusionierung des Ersten Weltkrieges, wandte Pound England den Rücken mit der Anrufung von „Eleanor“, der einstigen Königin von Frankreich und England, die alle großen Dichter ihrer Zeit um sich versammelt hatte.
Was der heute beinah vergessene Remy de Gourmont für Pound bedeutete, wird an vielen Stellen seines Werkes deutlich. So hatte Pound schon 1920 in seiner großen Abrechnung mit dem erstickenden geistigen Klima Englands, dem Mauberley-Zyklus, eine Konfrontation der künstlerischen Typen anhand von Remy de Gourmont und Henry James vorgenommen. Zudem hatte er diesem Thema zwei kritische Aufsätze gewidmet, die 1918 und 1920 entstanden waren. Dabei führte er aus, daß Henry James die zeitbedingte Geisteshaltung der Prosa und Remy de Gourmont die zeitlose Einstellung der Poesie verkörperten.
Fast alle gute Prosa entspringe, wie er in dem Essay über Henry James sagt, „einem Instinkt der Verneinung“, und dieser Instinkt tendiere zu einer „detaillierten, überzeugenden Analyse von etwas Mißlichem, von etwas, das man beseitigen möchte“. Poesie andrerseits sei „das Geltendmachen von etwas Positivem, genauer gesagt, von einem Lebensverlangen, und sie hat die längere Gültigkeit. Poetische Satire ist nur eine Behauptung dieses Positiven in der Umkehrung… Fast alle gute Dichtung besagt, daß etwas lebenswert sei, oder ereifert sich gegen etwas, das dem entgegensteht, macht jedenfalls emotionale Werte geltend. Die beste Prosa ist, oder war, stets eine Darlegung (so komplex und kunstvoll auch immer) von zeitbedingten Sachverhalten, von meist unschönen, bestenfalls der Abhilfe bedürftigen Verhältnissen… Dichtung ist gleich emotionale Synthese, so real, so realistisch wie nur irgendeine prosaische (oder verstandesmäßige) Analyse. Weder die Prosa noch das Drama kann sich zur Potenz des Poetischen steigern, es sei denn durch den Aufbau, quasi durch das Szenario; indem die Konstellation irgendeines an sich ganz schlichten Ausspruchs, einer Erkenntnis oder einer dogmatischen Aussage so gewählt wird, daß sie eine abnorme Nachhaltigkeit bekommt.“
Diese Dissoziation von Remy de Gourmont und Henry James führt Pound nun ganz konsequent aus:

Remy de Gourmont stand seiner Denkweise nach Henry James ferner als irgendein anderer Zeitgenosse, den ich wüßte. James’ Konterfei der moeurs contemporaines war so umständlich, ging so minuziös auf den äußeren Rahmen, das Detail, die Nuance, das ganze gesellschaftliche Aroma ein, daß seine Aufzeichnungen ,überholt‘ waren, noch eh sein Buch in die zweite Auflage ging…

Dagegen gelte Gourmonts Augenmerk fast nur den Emotionen und den Ideen, die von ihnen getragen werden. Gourmont ginge davon aus, daß das Denken ein Modus des Fühlens sei und folglich den Gedanken an sich, wenn man sie von der Sensibilität löst, in der sie eingebettet sind, nur sehr wenig Gewicht zukomme. Für Henry James allerdings waren Emotionen „mehr oder weniger etwas, das andere Leute hatten und über das man schicklicherweise nicht sprach; jedenfalls nicht im Salon. Die Götter hatten nicht bei James verkehrt, und die von ihm so häufig zitierte Muse war ihm zweifellos immer fischbein-geschnürt erschienen, mit Wespentaille und Puffärmeln à la mode von 1890 bis 1892“.
All diese Überlegungen werden teils ausdrücklich, teils stillschweigend von „Canto VII“ resorbiert, vor allem aber die Beobachtung:

Zum Unterschied von und in diametralem Gegensatz zu Henry James war Gourmont ein Künstler des Nackten… nur rein zufällig leben seine Menschen in irgendeiner besonderen Periode.

Die zeitlose archetypische Manifestation des Schönen – Eleanor, Helena, Ione, Tyro, Atalanta, Nikäa und Dido (s. Zeilen 1, 2, 43, 59 bis 64, 66–71, 96) – ist in dem Canto auch durchweg den Hüllen, dem Kostüm des Zeitlichen entgegengestellt. Das Nachschwingen des erlebten Schönen und der gelebten Leidenschaft erzeugt ein System hintereinander gestaffelter Echos, deren Klangfarbe zunehmend dünner wird. Und wir gelangen zu einer Gegenwart, in der, wie Remy de Gourmont schreibt, die Mehrheit „nur noch die Spelzen und Schalen der Gedanken denkt, die von anderen ausgelebt worden sind“. Diese Vorstellung Gourmonts wird nun geradezu zum Kristallkern von „Canto VII“, um den die anderen Motive ,anschießen‘, alle die Vorstellungen nämlich, die sich an die Gegenüberstellung von Lebenshülle und Lebenskern reihen. Und nicht nur für „Canto VII“. Auch Eliots „The Hollow Men“ (1925) geht auf diesen Ausspruch de Gourmonts zurück. Man darf nicht vergessen, daß Eliot sich damals unter Pounds Einfluß mit Remy de Gourmont beschäftigte. In den Canto-Zeilen 72–78, 106–115 wird dieses Thema instrumentiert. Pounds kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Arbeitsweisen der Prosa und der Poesie gipfelt in der Erkenntnis, daß es Werke gibt, die den Zeitstil durchstoßen, Werke, die Geisteslagen erfassen, die an keine Periode gebunden sind und die fortdauern bzw. wiederkehren können. So kann man beispielsweise Homer heute als einen Zeitgenossen lesen, während Victor Hugos Werke zum großen Teil bereits unzugänglich geworden sind. Alle diese Überlegungen werden von „Canto VII“ aufgenommen: die Zeitkostüme ausdrücklich, de Gourmonts Sensibilität für das Unverkleidete der Triebstrukturen stillschweigend, denn seine Botschaft beruhte, wie Pound einmal sagte, eben auf seiner façon de voir, dem eigentümlichen Bewußtsein der unabdingbaren biologischen Bereiche.
Unmittelbar erhebt sich zu Anfang des Cantos die archetypische Situation: eine lebenszage Umwelt schreckt vor dem lebendigen Schönen zurück – hier ist es die Reaktion der trojanischen Greise, die am Leben schon nicht mehr teilhaben, auf den Anblick Helenas. Homer führt sie uns im dritten Gesang der Ilias vor:

… alle die ältesten Fürsten des Volkes am skaiischen Tore;
Diese kämpften nicht mehr, vom Alter gebeugt, doch im Rate
Sprachen sie trefflich, den Grillen vergleichbar, welche im Hain
Hoch aus der Bäume Geäst die zarten Stimmen ergießen…

Doch nicht nur ihre dürren Stimmen lassen sie Zikaden oder Zikadenbälgen verwandt erscheinen – nur die Hutzeln von blutvollen Männern würden wohl beim Anblick der Schönheit in die angstvollen Worte ausbrechen, die Pound paraphrasiert hat:

Schickt sie zurück zu den Schiffen, zurück
Zu Griechen-Gesichtern, daß kein Unheil komm über die unsern,
Unheil und abermals Unheil, kein Fluch unsre Kinder heimsuche,
Geht – ja, sie geht mit dem Gang einer Göttin,
Und hat ein Göttergesicht,
sie spricht an wie die Tochter des Schœneus,
Und Verhängnis greift aus in ihrem Schritt;
Schickt sie zurück zu den Schiffen,
zurück zu griechischen Stimmen.
(„Canto II“)

Die alten Männer weisen das Schöne ab, das sich ihnen in seiner furchtbaren Fremdheit zeigt. „Les hommes ont je ne sais quelle peur étrange / de la beauté“, heißt es in „Canto LXXX“ (Pisaner Cantos). Äschylos schon hat das Wortspiel: „’ELENA, ’ELENAUS, ’ELANDROS, ’ELEPTOLIS“ (Helena: Schiffe-zerstörend, Männer-zerstörend, Städte-zerstörend) erfunden, das Ezra Pound hier durch den Namen Eleanor (’ELE-ANER: Männer-zerstörend) ergänzt (Zeilen 1, 2, 60, 62), indem er mit dem ersten Wort des Textes wie durch einen Gongschlag die furchtbare Macht des Schönen aufklingen läßt. Die vielgeschmähte Eleonore von Aquitanien (1122–1204), eine Schlüsselfigur der Cantos, hat mit ihrem – historischen – Lieben und Leben ganz ähnliche Wirkungen gezeitigt wie die mythische Helena. Sie sammelte die großen Dichter ihrer Zeit um sich und führte den keltischen Sagenkreis, Tristan und Isolde, Parzival, die Tafelrunde des Königs Artus, in den Gesichtskreis der südfranzösischen Dichter ein, wodurch der Roman als neue Kunstgattung entstand. Ihr berühmter Musenhof in Poitiers war einer der geistigen Brennpunkte Europas. Politisch war ihr Wirken allerdings weniger segensreich. Erst Königin von Frankreich, wurde sie unmittelbar nach ihrer Scheidung – wegen einer angeblichen Affaire mit dem jungen Sarazenen Saladin – durch eine neue Heirat Königin von England. So war sie zeit ihres Lebens und lange nach ihrem Tod Ursache von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich. Wir sehen also, daß Helena und Eleanor demselben Archetyp angehören.
Das „Raspeln“ der alten Stimmen am skaiischen Tor wird gehört über dem „Tosen der See“ und setzt ein weiteres gegensinniges Motivpaar des Cantos an: die Starre und Dürre der ausgelebten Formen einerseits und auf der anderen Seite das feuchte, regsame, ungeformte Element des Lebens. In den Literary Essays Pounds finden wir dazu die Stelle:

Zwei Eigenheiten Homers bleiben unübersetzbar: die herrlichen Onomatopöie, wie das Anrauschen der Wellen am Meeresstrand und ihr Rückfluten in der Zeile: … und dann die echte Kadenz des gesprochenen Wortes.

Die Zeilen 5 und 6 sind somit eine Zusammenziehung dessen, was Pound für zwei wesentliche Qualitäten Homers hält.
Aber nicht nur das: die beiden künstlerischen Ausrichtungen – Gourmonts zeitloser, vitaler, direkter Zugang und Henry James’ zeitbedingte umständliche Einkreisung seines Themas – sind hierin vorgegeben. Wir werden nämlich die ideographische Verspannung in diesen ersten sechs Cantozeilen erst richtig ermessen können, wenn wir einen weiteren Aspekt des Sinns in Rechnung stellen – den der Gestaltung. Denn es ist Homer, der Blinde, der aufs Rauschen des Meeres anspricht, und der Helenas Schönheit aus dem Greisengeschwätz am skaiischen Tore heraushört. Er allein von allen, die Helena erschauten mit Augen, vermittelt uns einen Begriff von ihrer Schönheit, gibt ihr eine fortwirkende Gestalt – und gerade er hat sie nicht einmal gesehen, sondern nur den dünnen Nachhall des Schreckens vernommen, den ihr Erscheinen den verhutzelten Alten eingab. Es ist demnach das Echo auf ein Echo, das uns Helenas Reize, über die Zeiten hinweg leuchtend, sinnfällig macht.
Dies ist jedoch nur die erste Reflexion in der Folge von Schein und Widerschein, die uns Pound in seinem Canto vorführt. Eine andere Art Abglanz löst sie ab: die Reflexion Griechenlands im alten Rom (Zeile 7). Später soll Pound das Motiv weiterführen, indem er über das Fortwirken Roms in den Kleinstaaten der Renaissance schreibt:

Und wie das Schattenbild nach der Form,
Hehre Formen, doch leblos, in jener
bolge, dem Tal,
Die tauben Worte wahren die Form,
Und die Losung: Civis Romanus.
Die lichte Luft trüb, getrübt,
Taube Begriffe, nie das Kernstück, den Ritus des Bluts,
Die Eitelkeit von Ferrara;
(„Canto XXV“)

Das tönende Organ eines Homer und eines Äschylos wird nun von dem galanten Plauderton Ovids überblendet, wobei das Hinwegschnellen des nichtexistenten Stäubchens Roms schemenhaften Charakter im Vergleich zum griechischen Urbild ironisiert. Die Cantostelle stammt aus Ovids Liebeskunst:

Utque fit, in gremium pulvis si forte puellae
Deciderit, digitis excutiendus erit:
Et si nullus erit pulvis, tarnen excute nullum:
Quaelibet officio causa sit apta tuo.

Und wenn es sich ergibt, daß deiner Dame ein Stäubchen auf den Schoß fällt, so schnippe es mit den Fingern fort;
wenn aber kein Stäubchen fällt, dann schnippe das Nichtvorhandene weg; sei kein Frosch.
(Amores I, 151)

„Si pulvis nullus“ – ein Staubkorn, ein garnicht vorhandenes Staubkorn noch dazu, tritt an die Stelle der homerischen Plastik und Farbe. Die römische Weitläufigkeit und der römische Witz sind, bei aller Verdünnung und Verfeinerung, ein Zuwachs zu der Kunst, „Sinn in die Worte zu bekommen“, der Kunst, dem allgemeinen Lebensgefühl neuen Stoff zuzuführen. Aber sie ist in viel stärkerem Maße schon auf das Umweltliche, Zeitliche ausgerichtet, als es das Griechische war.

Da uns Philetas und der größte Teil von Kallimachus verloren gingen, dürfen wir vermuten, daß die Römer eine gewisse Weitläufigkeit beitrugen; jedenfalls geben uns Catull, Ovid und Properz alle etwas, das wir Heutigen bei den Griechen nicht mehr finden können.

Ausgehend von seinem kritischen Leitgedanken, daß die Literatur nach ihren Wendemarken, den richtungsweisenden Neuerungen, zu sichten ist, stellt Pound nunmehr im Schnitt eine Entwicklung der Verfahren dar, durch die man „Sinn in die Worte bekommen“ kann. Insbesondere erkundet der Abschnitt (Zeilen 9–30 und 51–53), wie sich die Außenwelt, das Zeitliche im schöpferischen Geist bricht und Gestalt annimmt. Später (Zeile 54) zieht Pound dann die Linie, die er an hand von Punkten auf der Peripherie angedeutet hat, voll aus: es ist, wie wir sehen werden, eine sich verjüngende Linie.
Zunächst werden wir ins Mittelalter versetzt, mit seinen Zunftzeichen (Rautenzahn) und einem etwas verderbten altfranzösischen Zitat (e li mestiers ecoutes), das wohl den Sinn von „und hörte(n) auf bzw. folgte(n) den Metiers“ haben dürfte. ,Metier‘ ist hier verwandt mit ,mystère‘:

Die erfahrungsmäßig entsprechende Form einmal gewonnen, verknöchert auch es [das Arbeitsinstrument], wie sein oft jahrtausendelanger Übergang aus der Hand einer Generation in die der anderen beweist. Es ist charakteristisch, daß bis ins 18. Jahrhundert hinein die besonderen Gewerke mysteries (mystères) hießen, in deren Dunkel nur der empirisch und professionell Eingeweihte eindringen konnte. Die große Industrie zerriß den Schleier. (Karl Marx: Das Kapital I, IV. Abschnitt, 13. Kapitel).

Der Schreibende des Mittelalters ist bloßer Chronist des Schauplatzes für eine ganz reale, ganz plastisch gesehene Handlung – man denkt an die Chançons de geste und die Prosaepik der Gesta Romanorum („Taten der Römer“), die auf ihre Art eine Rückstrahlung und Übersetzung des römisch-griechischen Vorbildes in den damaligen Zeitgeist waren, wenn auch in einer so viel derberen Form, daß der weltläufige Römer sie wohl nur als Parodie aufgefaßt hätte, Cavals armatz („geharnischte Pferde“) ist eine Redewendung, die in der provenzalischen Literatur häufiger vorkommt; in diesem Zusammenhang aber mag der Dichter vor allem an einen bestimmten Sirvente (politisches Rügelied) von Bertran de Born denken. Dieser provenzalische Dichter, der „die Zwietracht um der Zwietracht willen“ liebte und grimmig von „Unserer Lieben Fraue Kampf“ sang, wie Sankt Franziskus von „Unserer Lieben Fraue Armut“, kann mit seinem Lied und seinem Leben gewissermaßen für die Geisteshaltung der fahrenden Ritter-Sänger stehen.
Auf die Zeit der gediegenen Handlungen folgt Dante, der Dichter der bildstarken Vorstellung. Auch in seinem großen Epos wird wiederum das antike Urbild erkennbar, das durch eine weitere Strahlenbrechung gegangen ist. Der ciocco („Scheit“) bezieht sich auf die Metapher vom Aufstieg der Seelen zum sechsten Himmelskreis, vom Himmel des Mars zum Himmel des Jupiter, was für Pounds Kontext, den Übergang von der mittelalterlichen Heldenchronik zur Divina Commedia, angemessen erscheint. Dante schildert ihn anhand eines Funkenschauers:

Dann wie von glühenden Scheiten, drauf man schlägt,
Zahllose Funken stieben, so erhoben
Sich mehr als tausend Leuchten, stiegen auf…
(Paradiso XVIII, 100–103 (Eckart Peterich))

Dantes Genius des inneren Auges schenkt der Wortkunst eine neue Modalität des Ausdrucks, die ganz im Sinne de Gourmonts, als façon de voir, eine neue Sensibilität erschließt, oder wie Pound einmal schreibt:

Es gibt zwei Arten von schönen Bildern… die einen schaut man und ist sogleich hingerissen; die andere Art verblüfft auf den ersten Blick, aber wenn man sich abwendet und aus der Galerie heraustritt, entdeckt man eine neue Schönheit in den natürlichen Dingen… Es gibt Kunstwerke, die schöne Gegenstände sind, und es gibt Kunstwerke, die Schlüssel oder Loseworte sind und uns den Zugang zu einer tieferen Kenntnis, einer verfeinerten Empfänglichkeit für das Schöne verschaffen. Dantes Werk gehört zu der zweiten Art.

Wenn des Florentiners großer Index, der die Summe des gesamten Wissens seiner Zeit darstellt, bereits eine Auseinandersetzung mit den Übeln der Umwelt bringt, so ist diese Kritik bei ihm doch noch von soviel Würde und Tragik abgeklärt, daß die „emotionale Synthese“ davon nicht beeinträchtigt wird.
Anders bei Flaubert, der in Bouvard et Pécuchet als nächster versucht, eine Art Summe des gesamten Wissens seiner Zeit zu geben. Nur daß es sich dabei mittlerweile um jene „bêtise moderne“ handelt, die aus dem Bestreben der Enzyklopädisten entspringt, alles Wissen zwar alphabetisch, jedoch ohne irgendeine geistige Koordination zu katalogisieren, in einem „tas pyramidal de boîtes et de cartons“, möchte man mit Flaubert sagen:

einer riesigen Anhäufung von Schachteln und Verpackungen

Die Dinge, die reine Anhäufung der Dinge, fangen an ein Eigenleben zu führen und alle geistige Beweglichkeit zu ersticken. Bei Flaubert trifft der schöpferische Formwillen auf eine ganz und gar läppische, verbürgerlichte Umwelt, auf eine Zivilisation, die nur noch von den Zinsen des Einstigen lebt.
Er markiert somit den großen Einschnitt der Prosa, den Übergang von der emotionalen Synthese zur kritischen Analyse der Zeit. „Von den Anfängen der Literatur bis ungefähr 1750,“ schreibt Pound, „war die Dichtung die überlegene Kunst und wurde als solche angesehen; wenn wir Werke lesen, die vor jenem Datum geschrieben wurden, finden wir, daß die Zahl der interessanten Dichtwerke der Zahl der noch lesbaren Prosatexte zumindest gleichkommt; wobei die Versdichtung die Quintessenz enthält. Wenn wir wissen wollen, daß [die Menschen von damals] aus Fleisch und Blut waren wie wir, dann greifen wir zur Dichtung der Zeit.“ Pound fährt dann fort mit der Beschreibung, wie sich die Dichtung an die Scheinwerte, die artifiziellen Posen und modischen Torheiten verlor, die keine reale Deckung mehr im Leben hatten:

Bis Monsieur Stendhal, der dabei nicht an Homer, Villon oder Catull dachte, und der einen sehr feinen Sinn für das Wirkliche hatte, gewahrte, daß Poesie, la poésie, nämlich das, was man damals darunter verstand: das Zeug, das seine französischen Zeitgenossen schrieben, das ihm volltönend von der Bühne entgegenschmetterte, eine verdammte Plage sei. Und er bemerkte, daß die Dichtung mit ihren Haarbeuteln, Stutzperücken, wattierten Waden und Schönheitspflästerchen, ihrem Schwulst à la Louis Quatorze, der Prosa bei weitem nachstand… Und mit diesem Augenblick ging die eigentliche Kunst des Schreibens zur Prosa über. Und für eine Weile waren die wichtigen Entwicklungen der Sprache als Ausdrucksmittel die Entwicklungen der Prosa. Und kein Mensch kann den Wert von Dichtwerken, modernen Dichtwerken, irgendwelchen Dichtwerken, klar erfassen oder gerecht beurteilen, solange er dies nicht begriffen hat.

Flaubert, den Pound eingehend untersucht hat, gelinge es, wie er meint, seine Wirkung durch Anhäufung zu erzielen, durch das Anhäufen faktischer Angaben. Die französischen Zeilen „Cœur Simple“ in „Canto VII“, alles rein faktische Angaben, veranschaulichen mithin Flauberts Hang, seinem Verfahren die Gegenstände der Umwelt dienstbar zu machen, also die Dingwelt selber zu Wort kommen zu lassen. Er nimmt damit die Überlegungen der Autoren des nouveau roman schon zu einem großen Teil vorweg:

Un vestibule étroit séparait la cuisine de la salle oú Mme Aubain se tenait tout le long du jour, assise près de la croisée dans un fauteuil de paille. Contre le lambris, peint en blanc, s’alignaient huit chaises d’acajou. Un vieux piano supportait, sous un baromètre, un tas pyramidal de boîtes et de cartons. Deux bergères de tapisserie flanquaient la cheminée en marbre jaune et de style Louis XV. La pendule, au milieu, représentait un temple de Vesta, – et tout l’appartement sentait un peu le moisi, car le plancher était plus bas que le jardin (Flaubert, Un Cœur Simple).

Liest man diese Passage als quasi chirurgische Bloßlegung der Zeit, so sprechen die Dinge hier tatsächlich zu uns. Analog dazu haben wir Flauberts Bekenntnis, wonach sein vielgerühmter Stil nichts weiter sei als eine „façon de voir“  (eine besondere Sensibilität). Denn dieser Franzose konnte sehen, „sehen wie die Kurzsichtigen sehen – bis in die Poren der Dinge“.
Wenn Flaubert solcherart die Dingwelt, den Schauplatz in Aktion treten läßt, um nach einem großangelegten Operationsplan den „Zeitgeist“ selber ins Besteck zu nehmen, so geht es Henry James bei seinen umständlichen Schilderungen des äußeren Rahmens seiner Romanhandlung um die Abgrenzung des Tons, der genauesten Bestimmung von zwischenmenschlichen Kontakten. „Henry James“, schreibt Pound, „fühlt sich weniger griffig an als Flaubert… andererseits wußte er einiges, was Flaubert nicht wußte, und in gewisser Hinsicht überhöht er den Autor der Madame Bovary… man möchte sagen, daß diese Atmosphären, Nuancen, Impressionen von subjektiven Tonlagen und Eigenheiten sein Thema gewesen seien; daß er auf diesem Gebiet Dinge einfängt, deren bislang noch keiner habhaft wurde, Diese Klangfarben und Tonalitaten sind seine Wirklichkeit, in jeder anderen Hinsicht stand er sich selbst im Licht.“ So kommt es, daß James’ Menschen real, seine Romanhandlungen aber, wie Pound darlegt, völlig schemenhaft sind – meist nur Umrißskizzen oder Vorwände, Illustrationen zu seinen Charakteren, die zeigen sollen, was für Taten, was für Situationen, was für Möglichkeiten ihnen anstehen würden:

kaum, daß er einem nahelegt, sie für wirkliche Geschehnisse zu nehmen

Bei Henry James empfindet Pound die Beschreibungen der Staffage denn auch als ein „damned fuss about furniture“ („alberner Möbeltick“; s.u.a. die diesbezüglichen Seitenhiebe in Zeilen 21–25) und beschwert sich, daß James Theaterkulissen errichte, die er dann nicht wie Kulissen behandle, sondern so, als wären sie die Natur. Dies ist wohl – insbesondere was die gesellschaftlichen Wertungen bei James betrifft – der schwerwiegendste Einwand, der sich gegen ihn erheben läßt. Pound führt seine Impression von Henry James (Zeilen 19–30) ein, indem er vor unseren Augen ein altes Haus erstehen läßt, jene „große hagere Schale von einem Haus“, der wir in James’ Romanen so häufig begegnen, daß ihr fast zwanghafte Bedeutung zukommt. Das Haus dieser Cantozeilen ist verschieden identifizierbar, einmal als das berühmte Lamb Hause in Surrey, wo James seine letzten Jahre verlebte, dann wieder als das Londoner Polytechnic Institute, wo Pound um 1910 Vorlesungen über provenzalische und mittelalterliche Dichtung gehalten hatte, es erinnert aber auch an Leopold Blooms Traumhaus (Ithaka) im Ulysses mit dem dazu erfundenen Pachtvertrag und dem getäfelten Treppenabsatz. Jedenfalls ist das alte Haus, das Pound hier heraufbeschwört, nicht ganz wirklich, dazu fehlen ihm „drei Paneele“. Für die erste Identifizierung spricht der Ausfall gegen die Gemälde – Pound hat sich wiederholt über James’ Geschmacksunsicherheit in der Malkunst verwundert. Die zweite Annahme wird durch das Motiv der greisen Stimmen plausibel, das später (Zeilen 84–91) noch einmal in dem schütteren professoralen Gespräch aufgegriffen wird. Das wäre dann ein verminderter Abglanz der Situation an dem skaiischen Tor: nur daß die Greise – hier wohl die Dozenten des Instituts – unter ihren Säulen aus Marmorimitation Kunst und Dichtung kommentieren wie ehedem die trojanischen Alten Helenas gefährliche Schönheit. Auch die Gelehrsamkeit, und ganz besonders die Germanistik, hat ja in Pounds Augen eine vom Leben ablenkende Funktion: „nach 1848“, so äußert er sich einmal über ihre Entstehung, „stellte man in Deutschland fest, daß manche Leute dachten. Es war notwendig, diese verwerfliche Tätigkeit abzustellen; man schenkte den Denkisten ein Porzellanei mit der Aufschrift ,Gelehrsamkeit‘ und machte sie nach und nach untauglich für ein tätiges Leben, beziehungsweise für jede Berührung mit dem Leben überhaupt“. Henry James’ umständliche, vorsichtig einkreisende Methode hat ihren Grund wohl nicht zuletzt in einer sexuellen Unsicherheit, einer Schädigung, die der Autor in jungen Jahren erlitt.
Aus seinen persönlichen Erinnerungen an James’ Konversationsstil holt Pound nun das große Phantom herauf; andernorts hat er ihn so beschrieben:

Das gewaltige Haupt, das langsame Heben der Hand, gli occhi onesti e tardi, die langen Perioden, kunstvoll Satz auf Satz aufgetürmt, die scharfe Zäsur, die Pausen, der leicht erhobene Zeigefinger mit seinem ,Geduld, nur Geduld, bald kommt es‘; Schaumschlägerei und Väterlichkeit. Und das Gewicht von so vielen Jahren sorglicher, rastloser Mühen um eingehendste Beobachtung, das stets gegenwärtig ist und das Gespräch anreichert.

Pounds Vogelschau der literarischen Verfahren zeigt bis hier eine Entwicklung, die in dem Maße, wie sie sich auf die Zeitphase der konkreten Umwelt einstellt, ungreifbarer wird. Von der Chronik ausgehend, in der die Handlung noch alles ist, kommen wir zu Henry James, bei dem das tatsächliche Geschehen ein schattenhafter Behelf bleibt: statt Tätlichkeiten Aromas, Räume statt ihrer Annalen.
Dies die Bestandsaufnahme der literarisch-geistigen Situation bis zur Entstehung des Cantos. Pound, dessen Schaffen stets von seinem großen Wirklichkeits- und Welthunger motiviert ist, der zeitlebens versucht, die Scheinwerte der Gegenwart auf ihre reale Deckung zurückzuführen, konnte es nicht genügen, dem wesenlosen Beiwerk des modernen Lebens Ausdruck zu geben. Ihm kam es auf die Triebstrukturen, die biologische Tragschicht, eben de Gourmonts „emotionale Synthese“ an. Denn wo es James auf den gesellschaftlichen Ton seiner Charaktere anlegt, auf „ihr Milieu und die Ablagerungen der dogmatisierten ,Form‘, der Ethik etc.“, kommt es de Gourmont auf ihre Menschlichkeit an, oder genauer: „auf ihre Modalität und ihre Eigenschwingung im Emotionalen“. Alles Denken findet sich notwendig bei Gourmont versinnlicht; so schreibt er von:

Geist im Geschmack, Seele im Duft, Gefühl in der Berührung… Begierden, Granatäpfel voll gefangener Rubine, ein Biß läßt ihre Pracht entströmen – der Biß einer Frau.

Mit der Vision einer hüllenlosen Schönheit geht de Gourmonts Gabe der sinnlichen Auffassung direkt in „Canto VII“ ein, ohne daß dies je ausgesprochen würde. Das Zeitkostüm kümmert diese Muse wenig (Zeilen 65 bis 71). Dem emotionalen Erleben ist das bedächtige, tangentiale Vorgehen Henry James’ wesensfremd, und so bricht folgerichtig mit Zeile 31 des Dichters Stimme in der ersten Person durch die Jamessche Situation der Rückkehr zum Haus der Vergangenheit, der Schale des Lebens. Er ist auf der Suche nach dem Realen, das er gekannt hat, der „emotionalen Synthese“, wo die Kräfte, die aus dem Innern des Menschen kommen, eingreifen in die Kräfte, die von außen, von der Umwelt, auf ihn wirken; nur aus solchem gegensinnigen Wirken erwächst ja die „Wirklichkeit“. „Arno ergo sum, und zwar genau in dem Maße“ (Canto LXXX) schreibt Pound später. Die „Geistervisite“, zu der Pound ansetzt, mag autobiographische Hintergründe haben – was sich in diesem Fall nahtlos in den Übergang von der Objektwelt zum subjektiv ,Wirklichen‘ fügen würde. Ein Doppelspiel von Schein und Sein beginnt hier, denn das Vergangene kann durchaus von größerer Zeitstärke sein als das Gegenwärtige. Längst Verstorbene können mehr lebendige Gegenwart besitzen als die „Pappmaché-Generation“ der Jetztzeit; was uns von ihnen trennt ist nur die wesenlose, zufällige Zeit:

Leer sind die Wege,
Leer sind die Wege dieses Landes
Und die Blumen
beugen sich vornüber mit schweren Köpfen
– Umsonst.
Leer sind die Wege dieses Landes,
Wo einst
Ione ging und nicht mehr geht
Doch einer gleicht, die eben erst dahinschied.

Ezra Pound, Ione, tot Jahr und Tag; Personae

Dies Gedicht wurde – ein Zufall vielleicht – sieben Jahre vor unserem Canto geschrieben. Die Zeit mit ihren unwesentlichen Anwüchsen hat sich zwischen das wahre Bild und den Menschen geschoben, hat es mehr und mehr verfälscht. „Zeit ist das Übel. Zeit“- („Canto XXX“). Nur die schöpferische Umsetzung des Erlebens kann das flüchtiger werdende Bild diesem Gesetz entziehen und ihm jene Realität verleihen, „wie sie nur Dingen eignet, die in der Kunst und den Texten der großen Meister eingefangen wurden“. In einem Gedicht wie Liu Tsches (Zeile 44) rührt uns über die Jahrhunderte hinweg das Auseinanderklaffen von subjektiver und objektiver Wirklichkeit an:

Das Seidengeraschel erstirbt,
Staub weht über den Hof,
Man hört keinen Schritt, das Laub
Tollt in Haufen umher und liegt still,
Und sie, die Freude des Herzens, ist unter ihnen:
Ein feuchtes Blatt, das an der Schwelle haftet.
(Ezra Pound: Personae)

Aber Pound ist in Paris. Man zählt das Jahr 1921. Er ruft sich zur Ordnung und in die Gegenwart zurück, ironischerweise mit dem Namen des Hotels, in dem er in Paris abzusteigen pflegte, das Hotel de l’Elysée (Zeile 46), die „Stätte der Seligen“, und er zeigt im folgenden, wie sich Gegenwart und Vergangenheit in unserer Umwelt verzahnen. Denn die ausgelebten Denkbilder der Vergangenheit hängen gleichwohl in unseren Alltag über und machen sich oft stärker geltend als die Moderne. Die Bierflasche (Zeile 51), um deren Bedeutung es eine unterhaltsame akademische Kontroverse gegeben hat, ist mittlerweile als eine der Statuen der Jardins du Luxembourg identifiziert worden, in jenem hellenistischen Stil des neunzehnten Jahrhunderts gehalten, den Pound als einen Auswuchs „dogmatisierter Form“ besonders verabscheut. Das fragliche Machwerk war vom Balkon von Pounds altem Freund Fritz Vanderpyl (geb. Den Haag 1876) zu sehen. Aus einem Brief Vanderpyls (zur Klärung der Bierflaschen-Kontroverse) geht hervor, daß seine Pariser Wohnungseinrichtung mehr oder minder den in diesem Absatz à la Flaubert aufgeführten Details (Zeilen 48–50) entsprach. Vanderpyl meint, er habe sich damals für über die Maßen avantgardistisch gehalten („ich mengte allerlei Sprachen unter meine Verse“) – mit Pound und der literarischen Elite der 20er Jahre gingen auch Joyce und seine Familie bei ihm aus und ein. So modern seine Einstellung, so altmodisch allem Anschein nach sein Mobiliar. Man darf vielleicht vermuten, daß Vanderpyl in diesen Jahren in der vordersten Linie der Zeit (Zeile 49) zu stehen wähnte, daß er meinte, der „Zeit“, jenem Fetisch so vieler Intellektuellen, auf diese Weise den gerechtesten Ausdruck zu geben. Pounds Zeile 52 wäre dann als Hinweis zu nehmen, daß ein vom Gestern nicht ganz durchsetztes und durchwachsenes Heute eine reine Fiktion ist – was Vanderpyl übrigens an seinem eigenen Mobiliar ohne weiteres ablesen könnte. „Der Mensch, der seiner Zeit Ausdruck zu geben sucht, statt sich selber, ist dem Untergang geweiht“, heißt es in anderem Zusammenhang bei Pound. Nicht die fiktive, verabsolutierte Gegenwart der Modernisten meint der künstlerische Eros, sondern das elementare Leben:

sed quascumque tibi vestes, quoscumque smaragdos,
quosve dedit flavo lumine chrysolithos,
haec videam rapidas in vanum ferre procellas:
quae tibi terra, velim, quae tibi fiat aqua.
(Properz, Elegien II, XVI, 43–46)

Topase, Smaragden und oh! Kleider von feinstem Gespinst,
Alles ins Leere gefegt von tobenden Stürmen zu sehn
Wünschte ich! Wasser und Staub sei es auf Göttergeheiß!
(Fritz Diettrich)

so ruft Properz in einer anarchischen Aufwallung aus, als seine Cynthia dem neureichen Prätor aus Illyrien mit seinen Geschenken den Vorzug vor ihm gibt. Es sind die Phänomene des Tagfälligen, das modische Kostüm der Zeit, die den schöpferischen Kräften von Innen entgegenstehen und das reine Menschenbild überdecken:

Da Gama trug Schlitzhosen in Afrika

– eine Anspielung auf einen Vers im zweiten Gesang der Lusiaden des Luis de Camões (1524–1580) (II, XCVIII, 3–4). In seinen kritischen Schriften führt Pound aus, daß sowohl Shakespeare wie Lope de Vega das Weltgefühl ihrer Zeit durch ihr „unfaßbares Selbst vermehrt“ hätten. Camões aber sei keine Kraft, sondern ein Symptom gewesen:

sein Werk ist durchaus abhängig von den Ereignissen und dem Temperament seiner Zeit… die Geographie – damals so nagelneu wie heute die Fliegerei – konnte des längeren erörtert werden; die Kostüme der Menschen an exotischen Orten waren der Beschreibung wert.

Man meint zu sehen, wie die Portugiesen, in Gansbauch und Pluderhosen, über den Putz der farbigen Völker die Köpfe schüttelten. Zugleich gibt uns die Zeile (55) eine äußerst verknappte Formel für die Wesensart Camões, der im Zeitkostüm stecken bleibt, denn das portugiesische Nationalepos, die Lusiaden, sind in Pounds Sicht zwar beachtlich als „die konsequente Durchhaltung einer einmal eingenommenen Pose der Großart. Camões war ein Meister des Wohllauts und der Sprache, ein Mensch von starker Vitalität und ein glänzender Rhetoriker; alles was an der Kunst der Dichtung erlernbar ist, hatte er sich angeeignet“. Jedoch:

an einer öden, felsigen Küste ausgesetzt, in ein langweiliges Zeitalter verschlagen, hätte er eine entsprechende Mittelmäßigkeit an den Tag gelegt.

So aber wird der festliche Faschingsflitter der Zeit vom Dichter in der barocken Metapher (Zeile 56) eingefangen und parodiert. Zugleich aber sind die Lusiaden so etwas wie ein ferner Nachklang der Odyssee, des Urbilds aller Fahrten in unbekannte Gewässer. Wie die griechelnden Statuen in den Jardins du Luxembourg ein Nachklang auf die große Periode der griechischen Bildhauerei sind. Es handelt sich um „Bierflaschen aus vielen Schichtfolgen“.
Pound hat einmal erklärt, seine Cantos bewegten sich durch drei übereinandergelagerte Zeit-Zonen: das Beharrende, das Wiederkehrende und das Vergängliche. Bislang haben wir vor allem die dritte Zone, die der vergänglichen Objektwelt verschiedener Zeiten durchmessen, nun aber bricht mit der Anrufung der Helena und Eleanor das Element des Rückströmenden, Archetypischen in den modernen Alltag. Am Meer und seinen Gezeiten, den Rinnen, die es unermüdlich in den Sand zeichnet und wieder wegwäscht, dem Anbranden und Rückfluten der Wellen, wird das Thema der Wiederkehr in den Cantos anschaulich; Tyro, die von Poseidon überwältigte Nymphe (Zeile 59), ist nur aus der engen Sicht der dritten Zone, der des Zufälligen, „tot“; ihr Schicksal, bedingt durch den Eros, unterliegt einer periodischen Wiederkehr. Pound hat das mythische Ereignis an anderer Stelle festgehalten:

Gaukelnde Wasser,
Poseidons Sehnen,
Schwarzblau und lichtgrün,

Glasberg über Tyro,
Einhüllen, Unstille,
Wellenflechsen, Geschlinger…
(„Canto II“)

Eine andere Spielart der Wiederkehr führt Zeile 63 ein: die fortzeugende Wirkung der einmal geschaffenen Form in der Kunst, sofern sie nicht als starres Dogma hingenommen, sondern unbefangen aus neuer Sicht angegangen wird. Hier ist es die Leistung eines Übersetzers, auf die Pound hinauswill: Arthur Goldings (1536–1605) frühe englische Version von Ovids Metamorphosen, von der Pound meint, sie sei „das schönste Werk in unserer Sprache (meine Meinung und, wie ich vermute, auch Shakespeares)“, „Ist denn“, so fragt Pound, „ein überragender Dichter je ,übersetzt‘, solange nicht ein anderer, ein Ebenbürtiger, einen neuen Stil in einer späteren Sprache für ihn erfunden hat? Können denn wir, aus der heutigen Sicht, unseren Ovid richtig kennen, wenn wir ihn nicht erst bei Golding entdeckt haben? Ist einer von uns so bewandert in seinem Latein und von so flinker Einbildungskraft, daß Golding auf seine innere Netzhaut nicht Farbe und Widerschein projizierte, die dem Urtext inhärent waren und uns dennoch entgangen sind? Wird irgendeine fremde Sprache uns je so mundwarm sein, je so reich an Schönheiten, wie unsere lingua materna (was immer unsere lingua materna sei)? Oder wird nicht ein neues Schönes geschaffen, ein altes Schönes verdoppelt, wenn die Transposition gelingt? Wird:

… cum super atria velum
Candida purpuream simulatas inficit umbras

uns unbedingt den ,tiefroten Vorhang‘ des Gleichnisses aus der Flucht vor Hippomenes vermitteln?“ Die Goldingschen Verse, von denen Pound hier spricht, schildern, wie sich die Schönheit Atalantas in der Hitze des Wettrennens mit Hippomenes steigert:

A redness mixt with whyght uppon her tender body cam,
As when
a scarlet curtaine streynd ageinst a playstred wall
Dooth cast like shadowe, making it seeme ruddye therewith all.

Röte, gemischt mit Weiß, flog ihre schönen Glieder an, so wie ein tiefroter Vorhang auf eine weißgetünchte Wand leuchtet und sie rosig erstrahlen macht.

Auch hier wieder die charakteristische Überlagerung mehrerer Bedeutungen – denn nicht nur die zarte Röte, die sich über die rennende Atalanta legt, wird einem Widerschein verglichen, auch Goldings Dichtung ist gleichsam ein Widerschein des römischen Dichters. Aber – und darauf kommt es an – diesmal findet von Schein zu Widerschein keine Verminderung statt, im Gegenteil, die Schönheit wird „verdoppelt“.
Aus der Antike sind nicht nur die starren Formen auf uns gekommen, sondern auch eine Folge von Transpositionen, durch die klassische Formen in einer „späteren Sprache“ neu erstanden sind. Das Nachtlicht in Buovilla (Zeile 64) vermittelt uns einen Abglanz des Ovidschen Gleichnisses im Provençalischen. Denn der Troubadour Arnaut Daniel beschwört in seiner Leidenschaft für die Gattin des Guillaume von Buovilla ein ähnliches, lichtgetöntes Bild:

Quel seu bel cors bai san rizen descobra
E quel remir contral lum de la lampa…

Daß sie mich küßt, im Halblicht über mich geneigt, und daß sie lacht und sich entkleidet, und daß ich sie erblicke (e quel remir) im Gegenschein der Lampe.

Später wird Pound das Bild Daniels noch anders phrasieren:

Und das Licht spielt ihr, remir,
Von der Brust in den Schoß.
(„Canto XX“)

Im Zusammenhang des Cantos mögen die leichtfüßige Atalanta und der Seufzer „e quel remir“ einen Auftakt bilden für das Erscheinen von Nikäa-Helena, einer Vision, deren Namen und Bewegung womöglich an die Nike von Samothrake gemahnen soll. Das wäre dann das Urbild, die lebendige Form, aus deren Dogmatisierung sich die Bierflaschenplastik der Jardins du Luxembourg ableitet. Die ausgehöhlten Formen der Vergangenheit stellen in der Gegenwart eine Hypothek an Nichtigkeit und Kitsch dar – wahrhaftig einen tas pyramidal de boîtes et de cartons –, der unseren Alltag unter sich begräbt: Das „öffentliche Leben“ versteckt sich hinter den Fassaden überkommener Ideen; die Menschen, denen wir begegnen, leben in Konventionen und Vorstellungen, die längst taub geworden sind; die meisten haben nach einem ersten hoffnungsvollen Ansatz überhaupt aufgehört, Neues zu denken, zu fühlen, zu sagen; unsere Sprache steckt voller Stereotypen, aus denen der Sinn längst entwichen ist. Aber wie jedes cliché seine Stunde als mot juste hatte, so sind all diese Schalen und Schachteln unseres Daseins Zeugen einstiger Erfülltheit, und dieser Umstand verleiht ihnen eine nicht ganz geheure Macht über die Lebenden, die sie um ihr Leben und Wirken auf Erden betrügen:

Nichts schufen wir, wir fügten nichts zur Ordnung,
Weder Haus noch Bildwerk,
Und was wir dachten war schon lang gedacht;
Unsre Meinung nicht im Argen gefaßt
Aber zu lang beibehalten.
Nichts als Wasser geschöpft in ein Sieb.
(„Canto XXV“)

So der Chor derjenigen, die nur die Spelzen und Schalen der Gedanken von anderen lebten und dachten, ohne je die lebendige Sensibilität gekannt zu haben, aus der sie entstanden. Dies ist es, was Pound im weitesten Sinne unter „Wucher“ (usura) versteht: eine Zivilisation, die keine reale Deckung mehr hat; ein geistiges Kapital, das nur noch als Spuk in dem Fortleben der erledigten Formen enthalten ist. Und doch steckt in jedem Tag „ein anderer Tag“, jenseits der Zone des Zufälligen und Vergänglichen, und selbst in dem stillosen, schäbigen, neureichen Haus kann man noch das „Gehäus vom älteren Haus erkennen“. Auf das gespenstische Fortleben der erledigten Formen mögen die Zeilen 82 und 86 anspielen. Sie rufen zugleich Matthew Arnolds Worte über das Mabinogion, der Sammlung keltischer Erzählungen aus dem 10. oder 11. Jahrhundert, in den Sinn:

Das erste, was uns beim Lesen des Mabinogion aufstößt, ist, wie offenbar der mittelalterliche Geschichtenerzähler ein Altertum plündert, dessen Geheimnis er nicht wahrhaft besitzt: er ist wie ein Bauer, der seine Hütte an dem Orte erbaut, wo Halikarnassus oder Ephesus stand; er baut, aber was er baut, ist voll von Bestandteilen, deren Geschichte er nicht oder nur durch eine glimmende Überlieferung kennt: Steine, „nicht von diesem Haus“, sondern von einer älteren, größeren, sinnreicheren, majestätischeren Architektur.

Nach dieser Bauweise ist unsere neuzeitliche Umwelt entstanden, und auch die akademischen Versuche, das überlieferte Schöne zu fixieren, sind häufig nicht viel sinnvoller. Das „professorale“ philologische Gespräch (Zeilen 84, 89, 90) wird leicht zu einer Prozedur, durch die man gewordene Formen des Schönen ihres Inhalts entleert und zu bloßen Schalen macht. Die gelehrten Ausführungen umgeben ihrerseits das Schöne mit einer Isolierschicht, die seine fortzeugende Wirkung vereitelt und jeden direkten Zugang zu ihm verwehrt.
Mit den Zeilen 95–98 bringt der Autor „Canto VII“ in den größeren Zusammenhang der Cantos als Gesamtkomplex und deutet vielleicht eine Krise an, in die das Werk mit diesem Canto geriet. Die Annahme wird durch die italienische Zeile (95) und deren Stellung in Dantes Paradiso nahegelegt, wo es heißt:

O ihr, die ihr in einem kleinen Kahn
Begleitet habt mit wißbegierigen Ohren
Mein Schiff, das singend zieht auf seine Bahn,
Kehrt um zum Strand, für den ihr seid geboren,
Und wagt euch nicht hinaus aufs hohe Meer!
Verliert ihr mich, seid ihr vielleicht verloren.
Noch nie durchfuhr dies Wasser irgendwer…
)Paradiso, II I (Wilhelm G. Hertz))

Wir erinnern uns, daß Ezra Pound mit „Canto I“ in See gestochen war, um das Dasein in eigener Existenz zu ,erfahren‘. Wie Odysseus versucht er auf neuen und alten Wasserwegen Ithaka, seine wahre Heimat und seinen Ursprung zu erlangen. Aber über der Maske des Odysseus sollte man nicht – wie es oft geschieht – vergessen, daß der Dichter sich eigentlich in einer Doppelpersona auf seine große Fahrt macht: der „goldene Zweig“ in „Canto I“ deutet auf Aeneas hin, der aufbricht, einen Ort für das neue Troja (Rom) zu finden. In der Literatur ist Aeneas so etwas wie ein Schattenbild des Odysseus, eben wie die Aeneis ein Nachklang der Odyssee ist. Die Aeneis setzt mit der Erzählung vom siebten Jahr der Irrfahrt des Helden ein. Sieben Schiffe seiner Flotte haben sich, indes die anderen in alle Winde zerstreut wurden, mit Müh und Not in den afrikanischen Port gerettet. Dido herrscht hierzulande, jene Königin, die, nachdem ihr geliebter Gatte Sichäus ermordet wurde, aus Tyrus geflohen ist, um in Karthago ein neues Reich zu gründen. Hier, wie durchwegs in dem Canto, ist das Element des Feuchten, Beweglichen, der verschwimmenden Ränder, die Nässe von Tränen und Regen dem Lebenden vorbehalten, während Trockenheit und Starre die Lebendig-Toten charakterisieren. Das Meer steht für den Eros – oder die Leidenschaft, die den Menschen nicht „losläßt“ – ob sich diese nun in den Affekten auslebt oder im künstlerischen Formwillen. Bezeichnenderweise spricht Pound in Zeile 103 von der „Leidenschaft, eine Form zu zeugen“. Der schöpferische Akt ist für Pound etwas durchaus Erotisches: das Liebesspiel zwischen dem Dichter und der Welt. In all der Schemenhaftigkeit einer Umwelt, die sich aus den dogmatisierten Formen früheren Lebens zusammensetzt, macht sich immer noch Eros geltend; zum schöpferischen Akt gehören für ihn zwei Lebensverrichtungen: die Reflexion des objektiv und die Projektion des subjektiv Realen. Ein Parallelogramm der Kräfte und Gegenkräfte in dem Canto zeichnet sich nun ab: die künstlerische Gestalt wird gewonnen aus dem Dialog, der Überschneidung von wahrgenommenem Objekt und wahrnehmendem Subjekt. Die poetischen und prosaischen Verfahren, die Pound anfangs vorführt, sind vornehmlich „Stile“ im Flaubertschen Sinn: „Sehweisen“, durch die der Realität inhärente Formen herausgeklärt werden, und sie erweitern somit das Feld der menschlichen Sensibilität. Wenn die Prosa auf die verstandesmäßige Durchleuchtung von „etwas Mißlichem“ ausgeht, so steht doch stillschweigend der Sinn für das Schöne oder das Verlangen nach ihm dahinter, ebenso wie die Poesie sich der Schäbigkeit und der Mißstände der Zeit bewußt bleiben muß, wenn sie den ganzen Kreis des Wirklichen synthetisch in den Griff bekommen will. Die beiden verschiedenartigen Modi des Schreibens sind sich in ihrer Praxis entgegengesetzt, aber in ihrer Motivation komplementär, sie liegen sich diametral gegenüber auf derselben Kreislinie. Die Dingwelt spricht zu uns (s. Zeilen 5, 16–25, 28, 92, 101), wenn wir Ohren haben, sie zu hören – aber sie verlangt eine Antwort von uns:

… und die greise Stimme hebt an
und webt einen Satz ohne Ende…

Ob diese Erwiderung an ein würdiges oder unwürdiges Gegenüber gerichtet ist, tut wenig zur Sache. Nur wo kein Stoffwechsel zwischen Subjekt und Objekt stattfindet, keine Übersetzung und Neugestaltung, bleibt das Leben ohne „In-Formation“, eine taube Schale. Dann wird der Mensch selber zum bloßen Objekt der Kräfte seiner Umwelt:

Das abgeschmackte Herrenzimmer trumpft auf,
Die jungen Männer, niemals!

In der Progression der Irrealitaten, aus denen das moderne Dasein zum großen Teil besteht, kommt dem Echo, der Nachschwingung der einmal vollzogenen „emotionalen Synthese“, oft größere Bedeutung zu (Zeile 102) als der Pseudo-Wirklichkeit.
Das Gefüge des siebenten Cantos sieht aus der Rückschau keineswegs mehr so willkürlich aus, wie es zunächst scheinen mochte. Es würde sich versuchsweise so darstellen: Im Ideogramm zu Anfang des Cantos, aus den Größen „Helena“, die „trojanischen Greise“ und „Homers Genius“ zusammengefügt, haben wir bereits alle die Antinomien vorgegeben, durch die sich der Canto bewegen wird. Der darauffolgende Querschnitt durch die literarischen Verfahren, die den „Zeitgeist“ zum Ausdruck bringen, arbeitet sie noch schärfer heraus. Die Zäsur in diesem Abschnitt erfolgt mit dem Übergang von der poetischen Synthese zur prosaischen Analyse – Flauberts Zerfall mit seiner Umwelt. Dieweil Henry James’ Stimme zu einer Antwort an „die Dinge“ ansetzt, wird die mehr oder minder objektive Betrachtungsweise, die bislang überwog, von einer subjektiven Sicht abgelöst, aus der den flüchtigen Gefühlswerten größere Kraft zukommt als der scheinbar so festgefügten, soliden Gegenwart. Der Eros, die leidenschaftliche Daseinsschicht, wird dann (in Zeile 61) als das Element der Wiederkehr erkannt, als der im Zeitlichen ewige Faktor des Lebens, das sich durch eine Welt der starren, hohlen Formen bewegt. Der abschließende Teil des „Canto VII“ (Zeilen 106–128) stellt dann einen Übergang zur Thematik der nächsten vier Cantos dar, ebenso wie am Anfang die Anrufung „Eleanor“ das Thema von „Canto VI“ aufgriff und transponierte.
Wie es Pound sieht, gilt der Drang, das Leben greifbar werden zu lassen, nicht nur für den Künstler. Eine künstlerische Gestaltung wird nur da unerläßlich, „wo das Leben ohne Artikulation geblieben ist“. Wo die Tatsachen sinnfällig für sich sprechen, kann die Kunst nur ein Spiegel sein.
Es gibt eine große Poesie, die mit Taten geschrieben ist. Vor deren Werken aber versagt notwendig die Dichtung, denn keine Bearbeitung könnte je den Nachdruck erlangen, den dann „die einfachste Aufzählung der Ereignisse hat. Auch durch die leidenschaftliche Tat werden dem Leben Züge aufgeprägt, die über die Zeiten hinweg kenntlich sein können. Desmond Fitzgerald (Zeile 109), der irische Rebell, ist als Tatmensch ein Lebender unter den Schatten der Gegenwart. Und Lorenzaccios Mord an seinem Vetter Alessandro Medici, dem Tyrannen von Florenz, spricht über Jahrhunderte direkt zu uns (falls wir seine näheren Umstände kennen). Der fast pathologische Haß, der Lorenzaccio beseelte, schlägt sich am unmittelbarsten in seinen eigenen Worten nieder, mit denen er dem Historiker Varchi erzählte, er habe schon zuvor erwogen, Alessandro (der mehrfach vor ihm, seinem Günstling, gewarnt worden war) nachts von der Mauer zu stoßen, wäre aber durch die Überlegung davon abgekommen: ma se morisse, si credesse lui esser caduto da sé („doch wenn er dabei den Tod fände, möchte er meinen, er sei von allein gestürzt“). Pound hat diese Ereignisse in „Canto V“ bereits ausführlich behandelt. Seiner Überzeugung nach stellt eine Tat, die von so starkem Affekt getragen ist, eine in den flüchtigen Werkstoff der Zeit gewirkte Form dar, gleichsam eine Kontur oder Drift in der Schicksalsluft. Dies der Grund, warum er hier und in den anschließenden Malatesta-Cantos die Ereignisse selber Wort werden läßt, so wie sie sich in Briefen, Äußerungen oder Dokumenten der Zeit abzeichneten – ohne sich anders dazu zu äußern als durch die Montage solcher faktischen Bruchstücke. Der letzte Absatz (Zeilen 106 bis 127) von „Canto VII“ bildet mithin eine Überleitung von der ästhetischen Umsetzung zur tätigen Verwandlung des amorphen Lebens.
Aus der Spannung zwischen den Polen einer nichtssagenden Umwelt und dem Eros hat Pound seiner eigenen Zeit eine Kontur gegeben, wobei er sich alle dichterischen Verfahren, die er anfangs probierte, selber dienstbar gemacht hat.

Eva Hesse, 1962, aus Eva Hesse: Beckett. Eliot. Pound, Suhrkamp Verlag, 1971

1 Antwort : Eva Hesse: Zu Ezra Pounds Gedicht „Cantos VII“”

  1. Urech Peter sagt:

    In Ezra Pounds unfassbar poetischen Cantos einzutauchen ist bereits eine spezielle Leistung. Mit welch unnachahmlichem Einfühlungsvermögen Eva Hesse die Texte zu übersetzen imstande war, löst einfach nur Bewunderung aus… – Atem(be)raubend!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00