– Zu Ernst Meisters Gedicht „Zu wem“ aus Ernst Meister: Gedichte 1932–1964. –
ERNST MEISTER
Zu wem
Kein
Besinnen. Der
Drossel Gleichton
schwingt
so bald nach der Nacht, und
wie es kaum graut, so
hungerts die Feuer,
die Vögel.
Zu wem, wenn
also es
Tag wird
ums Leidenshaus, der
blinkende
Tau seinen Tod
eräugt
sage ich
Herrscher und Herr?
In der Festschrift zu seinem sechzigsten Geburtstag hat Ernst Meister von seiner lyrischen Arbeit gesagt, es gelte für ihn, „des Werdecharakters von allem inne zu sein und überdies auf Totalität erpicht zu sein“. Die „reine Milieubezogenheit“ bleibe für ihn „eine Befangenheit und Begriffslosigkeit“.
Vom Innewerden eines Wechsels spricht das Gedicht. Im Werden begriffen ist der Tag. Der Wechsel von der Nacht zum Tag aber ereignet sich so unbegreiflich rasch, daß dem lyrischen Ich (das sich erst in der vorletzten Gedichtzeile als Ich zu Wort meldet) „kein Besinnen“ bleibt. So bald nach der Nacht schwingt „der Drossel Gleichton“, übergangslos mit dem Licht kommen die Vogelstimmen. Die Pünktlichkeit des Lichts und der Vogelstimmen versetzen den Dichter ins Staunen.
Diese vehemente Beziehung von Licht und Laut wird mit dem naturhaften Wort „hungern“ hergestellt:
wie es kaum graut, so
hungerts die Feuer,
die Vögel.
Die Gleichsetzung Feuer/Vögel signalisiert die Lebendigkeit des jähen Vorgangs. Der morgendliche Vogelchor ist so gewaltig, daß er dem Element Feuer zugeschrieben wird.
Bis hierher ist der Leser eingestimmt ins Natursein. Etwas im wahrsten Wortsinn Alltägliches, Tag-tägliches (falls es dem Menschen von heute noch vergönnt ist, Vogelstimmen am Morgen zu vernehmen) wird Ereignis in der lyrischen Beschwörung: „wie es kaum graut“, wie das Auge kaum etwas wahrnimmt, wird dem Erwachenden der andere Sinn, wird ihm das Ohr geweckt.
Die dritte Strophe beginnt mit einer Frage („Zu wem…“) und kommt erst am Gedichtende in einem einzigen, großbogigen Satz zum Stimmeheben. Das Licht ist erschienen, die universale Vogelantwort setzt ein. „Zu wem, wenn / also es / Tag wird…“, das unentbehrliche „also“ besagt staunendes Hiersein, staunendes Sichvorfinden, aber wo? Im „Leidenshaus“.
Hier – also – ist der Ort, an dem der, der eben der Frühe inne ward, sich wahrnimmt. Meister gehört nicht zu den Autoren, die den sogenannten Nihilismus literarisch längst untergebracht haben, denen er zur Attitüde geriet, nicht zu den absichtsvollen, eifrigen Verweigerern jedweder Antworten und Verherrlichern des Sinnlosen, sondern zu den bohrenden Fragern, der „gekrümmt / zwischen zwei Nichtsen… / Hier, auf dem / Zufallskreisel…“ noch Fragen hat. In Meisters Werk ist die Grundbefindlichkeit des Menschen als eines Leidenden der Preis für sein Bewußtsein, das betrachtete Leben ist tragisch zwischen Sein und Nichtsein.
Ehe die begonnene Frage des Gedichts zu Ende kommt, wird noch ein Meister-hafter Satz eingeschoben: „Wenn… der / blinkende / Tau seinen Tod / eräugt“, ein Vers, ein Zerstörungsblitz, es braucht nicht ausgedeutet zu werden, wie auch diese sphärischen Augen des Taus ihren Tod eräugen. Das oft als hermetisch abgewehrte Werk Ernst Meisters erschließt sich dem unangestrengten Staunen. „Zu wem… / sage ich / Herrscher und Herr?“ Zur Nacht oder zum Licht? so muß die poetische Logik folgern. In diesen „spannungsvollen, negativen Advent“ (Ernst Meister über sich) wird der Leser versetzt.
Weshalb ich dieses Meister-Gedicht gewählt habe? Seiner unaufwendigen Gewalt wegen, und weil der Anspruch, mit dem hier gefragt wird, so unerfüllbar wie unaufgebbar ist.
Eva Zeller, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980
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