Eva Zeller: Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Stadtrundfahrt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Stadtrundfahrt“ aus dem Band Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950–1985. –

 

 

 

 

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Stadtrundfahrt

Da drüben kauert der Schuhputzer,
der keine Schuhe mehr braucht;
denn seine Beine sind verfault
im Fernen Osten vor langer Zeit.

Das ist der Rauch von den Werften.

Dieses Café war früher ganz schwarz
von Hausierern und armen Dichtern.
Spitzel wie Mücken saßen dort
und tranken aus kleinen Tassen Blut.

Hier gibt es weiche Mädchen
gegen harte Devisen.
Das Pflaster ist aufgerissen.
Dort standen damals die Panzer.

Da ist im Sommer immer
der Kaiser spazierengefahren –
Stadtwäldchenallee, heute Gorkij fasor.
Das ist das Zentralkomitee.

Das ist der Rauch von den Schlachthöfen.

Hier ist mein Freund Sandór geboren
vor dem Zweiten Weltkrieg,
in der Beletage,
wo es Tag und Nacht dunkel war.

Siehst du den Rauch?

Diese Brücke war ganz zerstört.
Hier trinken die reichen Dichter Tee
und schimpfen leise,
und dort wird das neue Hilton gebaut.

Auf dieser wackligen Parkbank
sitzt manchmal ein alter Mann,
der manchmal die Wahrheit sagt.
Heute ist er nicht da.

Aber der Rauch. Siehst du den Rauch,

den alten Rauch über Budapest?

 

Geschichte aus Schauhaus

Was ist sehenswert in Budapest? Natürlich das schönste Stadtpanorama Europas, da, wo Buda und Pest sich zu beiden Seiten der Donau vereinigen. Dann gilt es, die acht Brücken in Augenschein zu nehmen, die Fischereibastei, die Matthiaskirche, die Stephanskrone. Doch Enzensbergers „Stadtbesichtigung“ läuft der allgemeinen Erwartung zuwider. Die litaneihafte Aufzählung dessen, was hier für sehenswürdig erachtet wird, erinnert an Günter Eichs Überlebensgedicht „Inventur“:

Dies ist meine Mütze
dies ist mein Mantel
hier ist mein Rasierzeug…

Drei Verse in Enzensbergers Poem beginnen mit „das ist“, drei mit „hier“. Nicht, daß Enzensberger sich auf Eich stützte; das banale Vorzeigen ohne formalen Aufwand und die Abwesenheit von Adjektiven schaffen nur eine ähnliche Lakonie wie bei Eich, und ein Überlebensgedicht ist die „Stadtrundfahrt“ auch.
Durch dreiunddreißig Verse hindurch hält der Autor die prekäre Balance zwischen Überraschung und Pointe. Auf Schritt und Tritt stößt er den Leser auf Unvermutetes, aber der Sprachschock wird nicht zum Stilprinzip erhoben. Enzensberger hat sich für Zurückhaltung entschieden. Der Teilnehmer dieser Stadtrundfahrt wird nicht mit Aperçus unterhalten, vielmehr verblüfft ihn Paradoxes, das in einem Atem sagt, was zeitlich und räumlich weit auseinanderliegt.
Was da zwischen wunderschönen historischen und heruntergekommenen Kulissen gezeigt wird, ist das absurde Theater der Geschichte, trivial, illusionslos, für das einem eigentlich die Worte fehlen. „Die Zunge zögert zwischen den ausgeschlagenen Zähnen“, heißt es in einem Gedicht von Zbigniew Herbert. Enzensberger mißtraut den Worten und setzt doch auf die Sprache, mißtraut dem eigenen Wahrnehmungsvermögen und setzt doch auf Wahrnehmung und Bildintensität: hier… dort… da… das darf nicht übersehen, nicht vergessen werden: die armen, die unbestechlichen Dichter früher in den Cafés neben Spitzeln, die Blut aus kleinen Tassen tranken; die Straße, wo immer der Kaiser spazierenfuhr… Gorkij fasor… Zentralkomitee; die reichen Dichter, die leise schimpfen; der Freund Sandor, der dort vor dem Zweiten Weltkrieg geboren ist (Sandór: ein Synonym für verfolgte Dichter hier und anderswo, für die ewig unbequemen Intellektuellen, die eine Distanz zur Macht haben?)
Blitzschnell muß der Leser ergänzen, auf welche historische Situation er jeweils gestoßen wird. Wie im Kristall dicht ineinandergestellte Spiegel sich gegenseitig durchdringen, spiegeln sich traumatische Bilder in einer Stadt, und trotz exakter Ortsangaben steht diese Stadt auch für die Erfahrungen, die andere in anderen Städten gemacht haben, in Warschau, in Prag, in Santiago, im Berlin der dreißiger und vierziger Jahre. Rauch steigt auf, aus den Werften, von den Schlachthöfen, „Siehst du den Rauch?“, zweimal die dringliche Frage, „den alten Rauch über Budapest?“ Die Stadtrundfahrt nimmt kein Ende. Der Beteiligte fühlt sich zu einer stummen Fortsetzung des Gedichts aufgerufen.
Soviel Stoff in wenigen Strophen könnte leicht zu Stoffhuberei führen, wäre nicht alles wie im Vorübergehen, wie nebenbei gesagt; man braucht beim Lautlesen nicht einmal die Stimme zu heben. Die Anstrengung des Schreibens ist nicht sichtbar; das künstlerische Potential wird nicht durch Überbetonung der politischen Absicht verschenkt. Nichts gleitet ins Lehrstück ab. Aber unausweichlich der plötzliche Absturz in die Evidenz: Geschichte als Schauhaus.

Eva Zeller, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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