AUFTRAG
Geht, meine Lieder, zu den Einsamen, den
aaaaaUnzufriedenen,
Und zu den Überreizten, geht zu denen, die von
aaaaaKonvention unterjocht sind,
Entbietet ihnen meine Verachtung der Unterdrücker,
Geht wie eine Welle kühlen Wassers,
Entbietet meine Verachtung den Unterdrückern.
Sprecht gegen unbewußte Unterdrückung,
Gegen die Tyrannei der Phantasielosen,
Sprecht gegen Bande.
Geht zu der Gnädigen, die an Langeweile dahinsiecht,
Zu den Frauen der Vorstadt,
Geht zu den ruchlos Vermählten,
Geht zu denen, deren Mißlingen versteckt ist,
Zu den unselig Gepaarten;
Geht zur erworbenen Gattin
Und zu der Frau, die verbrieft ist.
Geht zu denen mit zarten Gelüsten,
Deren Verlangen durchkreuzt wird,
Geht und versehrt wie ein Meltau die Stumpfheit der Welt,
Geht mit der Klinge dagegen,
Stärkt die geschmeidigen Seile,
Bringt Vertrauen den Algen und Fühlern der Seele.
Gehet auf freundliche Art und
Mit lauterer Rede,
Fahndet mit Eifer nach neuem Übel, nach neuem Guten,
Hadert mit allen Arten der Unterdrückung;
Geht zu denen, die dumpf sind vor Alter,
Die ihr Interesse verloren.
Geht zu den Halberwachsenen, die in Familie erstickt sind −
Oh, wie widerlich der Anblick
Dreier Generationen eines Geschlechtes
Unter einem Dach versammelt,
Wie ein alter Baum mit Trieben
Und manchem morschen Ast, der abfault.
Zieht aus und trotzet der Meinung,
Geht gegen die vegetabilen Bande des Blutes
Und gegen alle toten Hände.
Welcher Art der literarische Schauplatz Amerikas zwischen der Jahrhundertwende und dem Jahr 1914 auch gewesen sein mag – in meinem Gedächtnis hinterließ er nur gänzliche Leere. Ich kann mich nicht an den Namen eines einzigen Dichters jener Zeit entsinnen, dessen Werk ich las, und erst 1915, nachdem ich nach England gekommen war, hörte ich den Namen Robert Frost. Zu meiner Zeit lasen Harvard-Studenten die verstorbenen englischen Dichter der neunziger Jahre: Wir fanden keinen engeren Anschluß an irgendeine lebendige Überlieferung. Fest steht, daß ich mich an keinen damals lebenden englischen Dichter erinnere, der meine eigene Ausbildung beeinflußt hätte. Freilich war W.B. Yeats bekannt; mir aber schien er erst nach 1917 mehr zu sein als nur ein unbedeutender Hinterbliebener der neunziger Jahre. [Doch von da an sah ich ihn mit anderen Augen. Ich entsinne mich deutlich des Eindrucks, den die erste Aufführung von The Hawk’s Well, zu der Pound mich mitnahm, auf mich machte; es war in einem Londoner Salon; ein berühmter japanischer Tänzer spielte die Rolle des Falken. Auch später sah man in Yeats eher einen bedeutenden Zeitgenossen als einen Altmeister, von dem man lernen konnte.] Zu Beginn des Jahrhunderts lebten einige gute Dichter in England, aber ich wußte erst später um ihr Vorhandensein, und oft war es Pound [dessen Verständnis weit umfassender war, als sich die meisten klarmachen], der mein Augenmerk auf sie lenkte. Ich halte die Behauptung, daß es Anfang 1908 in keinem der beiden Länder einen Dichter gab, der einem Anfänger hätte nützen können, für nicht zu gewagt. Die einzige Zuflucht lag in der Dichtung anderer Zeiten und in der Dichtung anderer Sprachen. Browning war eher ein Hemmschuh als eine Hilfe, denn er hatte zwar einen Teil der Strecke zurückgelegt, war aber in der Erfindung eines zeitgenössischen Ausdruckes nicht weit genug gegangen. Auch mußten auf jener Stufe Poe und Whitman mit französischen Augen gesehen werden. Die Frage hieß immer noch: Wohin führt der Weg seit den Tagen Swinburnes? und die Antwort schien „nirgendwohin“ zu lauten.
Da ich gerade über Pound schreibe, kann ich meinen größten Schuldposten ebensogut jetzt gleich zugeben. Ich bewahrte meine frühen Gedichte [einschließlich „Prufrock“ und anderer, die schließlich veröffentlicht wurden] von 1911 bis 1915 im Schreibtisch auf – jene Zeit ausgenommen, während der Conrad Aiken vergeblich in London mit ihnen hausieren ging. 1915 lernte ich, auch durch Aiken, Pound kennen. Das hatte zur Folge, daß „Prufrock“ im Sommer des gleichen Jahres in der Zeitschrift Poetry erschien; und dank Pounds Bemühungen kam 1917 mein erster Gedichtband in der Egoist Press heraus.
Ezra Pound wohnte damals in einer kleinen Wohnung in Kensington. Im größeren Zimmer kochte er bei künstlicher Beleuchtung; in dem hellsten, aber auch kleinsten Raum, der lästigerweise dreieckig war, arbeitete er und empfing seine Gäste. Dort wohnte er, bis er, ich glaube im Jahre 1922, nach Paris übersiedelte; aber es hatte stets den Anschein, als wäre er nur vorübergehend untergebracht. Dieser Eindruck rührte nicht nur von seiner rastlosen Tatkraft her [welche schwer von Rastlosigkeit und Zappelei zu unterscheiden war, so daß jeder noch so große Raum zu klein für ihn schien], sondern von einer Art Widerstand gegen das Hineinwachsen in irgendeine Umgebung. In Amerika hätte man zweifellos ständig den Eindruck gehabt, er stünde gerade im Begriff, ins Ausland zu fahren; in London schien es stets, als stünde er im Begriff, den Kanal zu überqueren. Ich habe nie einen Menschen irgendwelcher Staatsangehörigkeit gekannt; der so lange fern seiner Heimat lebte, ohne sich irgendwo niederzulassen. Eine Zeitlang schien ihm London, später Paris, das beste Zentrum für seine Bemühung, die Kunst der Dichtung wiederzubeleben. Wenn auch die jungen englischen Autoren, ja die Autoren jeder Nationalität auf seine Unterstützung rechnen konnten, sobald sein Interesse einmal geweckt war, so beschäftigte ihn die Zukunft der amerikanischen Literatur doch am meisten.
Kein Mensch hätte gütiger zu den Jüngeren oder zu Autoren sein können, die ihm, ob jünger oder nicht, begabt und verkannt schienen. Kein Dichter war überdies ohne Selbstunterschätzung bescheidener hinsichtlich seiner eigenen dichterischen Leistung. Die Arroganz, die manche Leute an ihm finden, ist im Grunde etwas anderes; aber was sie auch sein mag, jedenfalls findet sie ihren Ausdruck nicht in übertriebener Betonung des Wertes seiner eigenen Dichtung. Er spielte gern den Impresario für jüngere Männer und die treibende Kraft des künstlerischen Lebens jeder Umgebung, in der er sich gerade befand. In dieser Eigenschaft kannten seine Güte und sein Großmut keine Grenzen, angefangen von ständigen Dinnereinladungen an mittellose Autoren, die er im Verdacht hatte, unterernährt zu sein, oder dem Verschenken seiner Kleider [wenn auch seine Schuhe und Unterwäsche fast die einzigen Kleidungsstücke waren, die den Kleidern anderer Leute genügend glichen, um tragbar zu sein], bis zu dem Bemühen, Stellungen zu finden, Subventionen aufzutreiben, Werke erst zu veröffentlichen, dann kritisieren oder loben zu lassen. Ja, er war bereit, jemandem, dessen Arbeiten ihn interessierten, das ganze Leben zu planen – ein Maß der Anleitung, das nicht alle Begünstigten verdienten und das manchmal in Verlegenheit setzte. Aber wenn auch das Objekt seiner Wohltätigkeit letzten Endes aufbegehren mochte – nur einen Menschen von schäbigster Gesinnung hätte sie, verstimmen können. Er war so leidenschaftlich um die Kunstwerke bemüht, deren Erzeugung er von seinen Schützlingen erwartete, daß er manchmal dazu neigte, letztere fast unpersönlich zu sehen: als Kunst- oder Literaturmaschinen, die man ihrem potenitiellen Ertrag zuliebe sorgfältig pflegen und ölen mußte.
Pound war nämlich ein herrischer Unterweiser. Er hatte von jeher eine Leidenschaft, zu lehren. In mancher Hinsicht glich er niemandem so sehr wie Irving Babbitt – ein Vergleich, an dem keiner von beiden Gefallen fände. Vielleicht waren sie sich ihrer Herkunft nach nicht unähnlich; vielleicht wäre die Ähnlichkeit noch größer, wenn Pound daheim geblieben und – was durchaus möglich schien Professor für vergleichende Literaturgeschichte geworden wäre. Babbitt war mein Lehrer; ich meine damit keinen bloßen Pauker oder Menschen, dessen Vorlesungen ich besuchte, sondern einen Mann, der meine Interessen zu einer bestimmten Zeit so lenkte, daß die Spuren seiner Anleitung noch immer deutlich sind. Babbitts bester Freund war Paul More: Jahre danach wurde More auch mein Freund. Aber wer einmal Schüler Babbitts gewesen war, wurde später nicht im engeren Sinne des Wortes sein „Freund“; gewiß, man empfand nicht nur Bewunderung, sondern eine warme Zuneigung – die Zuneigung des einstigen Apostels. Wenn man nämlich zu einer Überzeugung gekommen war, die, ob religiös, sozial oder politisch, im Gegensatz zu einer Überzeugung Babbitts stand, war der Rang eines Exapostels der höchste, den man anstreben konnte. Manche Menschen halten an ihren Ansichten so fest, daß sie keine einträgliche Diskussion mit Leuten eingehen können, deren Ansichten sich von ihren eigenen unterscheiden.
Ich weiß nicht, ob Babbitt ein Menschenkenner gewesen ist: als sein Schüler war ich nicht reif, das zu beurteilen. Aber ich vermute, daß er eher dazu neigte, Menschen nach den Ansichten zu beurteilen, die sie vertraten, als umgekehrt erst die Menschen zu prüfen und danach ihre Ansichten einzuschätzen. Dieser Unterschied kennzeichnet zwei Intelligenztypen. Pound war stets ein meisterhafter Kenner der Dichtung, doch kein so unfehlbarer Menschenkenner, und er scherte sich nicht im mindesten um diejenigen, die ihm für jenes ideale intellektuelle Milieu, das er stets zu finden oder zu gründen suchte, ungeeignet schienen. Ich glaube, daß er nicht nur diejenigen überschätzte, die seine Ansichten teilten, sondern sich überhaupt täuschte, indem er die Menschen statt durch Würdigung ihrer Persönlichkeit und ihres Charakters zu sehr nach den Ansichten beurteilte, die sie mit ihm zu teilen vorgaben. Ich habe bisher in der Vergangenheit geschrieben, denn ich schrieb von einem bestimmten Zeitabschnitt: der Zeit zwischen 1910 und 1922 – oder, im Hinblick auf mich, der Zeit zwischen 1915 und 1922. [1922 war das Jahr, in dem ich ihm in Paris das Manuskript eines chaotischen, uferlosen Gedichtes, The Waste Land genannt, vorlegte, das, unter seiner Hand um die Hälfte verkürzt, in der hervorging, die dann im Druck erschien. Der Gedanke, daß das Manuskript mit seinen Streichungen unwiderruflich verschwunden sei wäre mir lieb gewesen; andererseits aber hätte ich es gerne gesehen, daß die Blaustiftstriche als unwiderlegliches Zeugnis für Pounds kritisches Genie erhalten geblieben wären.] Es war die Periode, die mit „Mauberley“, „Propertius“ und der ersten Niederschrift der frühen Cantos schloß. Es ist zugleich die Periode, in der er einen wesentlichen Einfluß auf die englische und amerikanische Dichtung ausübte, obwohl dieser Einfluß meistens einer jüngeren Generation fühlbar wurde, von der ihn viele nicht persönlich kennenlernten und manche keine Ahnung von dem Ausmaß seines Einflusses auf sie haben mögen. Ich denke bei dieser Feststellung nicht an den imagism, jene literarische Richtung, die mit seinem Namen oft verbunden wird. Ob Name und Grundsätze des Imagismus Pounds oder vielmehr Hulmes waren, weiß ich nicht – es ist mir auch gleichgültig. Der Imagismus brachte ein paar gute Gedichte hervor – besonders diejenigen von H. D. −, wurde aber rasch von anderen, umfassenderen Richtungen, darunter der von Pound ausgehenden, absorbiert. Damals leistete Pound mit The Catholic Anthology, The Egoist, The Little Review mehr, als irgendein anderer mit Anthologien oder Zeitschriften von solch beschränkter Auflage hätte bewirken können. [Pound und Miss Weaver verdanken wir die Veröffentlichung von Joyces Portrait of the Artist und Wyndham Lewis’ Tarr.] Die Dichter hatte Pound nicht erschaffen: aber er schuf eine Situation, in der es zum erstenmal eine „moderne Entwicklung der Dichtung“ gab, an der englische – und amerikanische Dichter gemeinsam wirkten, ihre Arbeiten gegenseitig kennenlernten und sich beeinflußten. Ich möchte wohl wissen, wer damals in England [geschweige denn im übrigen Europa] irgendwelche amerikanische Dichtung zwischen Whitman und Frost gelesen hat? Ohne das Wirken Pounds in den Jahren, von denen ich sprach, hätte die Absonderung der amerikanischen Dichtung und der einzelnen amerikanischen Dichter noch lange währen können. Ich vergesse Miss Lowell keineswegs, es scheint mir aber, daß ihr Wirken, die amerikanische Öffentlichkeit für die amerikanische Dichtung zu gewinnen, auf einer tieferen Stufe steht. Sie war eine Art erstklassiger Anpreiserin; und sofern mich mein Gedächtnis nicht täuscht [denn es ist viele Jahre her, seit ich ihre Six American Poets las], waren ihre Methoden eher enthusiastisch als kritisch. Wenn es heutigentags selbstverständlich ist, daß London an der Dichtung Anteil nimmt, die in New York erscheint, und New York an der Dichtung, die in London erscheint – nicht bloß hinsichtlich der aufgebauschten Namen, sondern auch hinsichtlich des Nachwuchses −, so ist dies zum großen Teil der Tätigkeit Pounds innerhalb eines Jahrzehnts zu verdanken. Ich kann nicht beurteilen, was Pounds kritische Schriften für diejenigen bedeuten, der den Menschen nicht kannte, weil sie für mich unentwirrbar mit seiner Unterhaltung verwoben sind. Immer noch sehe ich in ihnen fast das einzige zeitgenössische Werk über die Kunst der Dichtung, dessen Studium einem jungen Dichter von Nutzen sein kann. Sie bilden einen Korpus der dichterischen Doktrin: so haben sie einen bestimmten Bezug auf die Dichtung eines bestimmten Zeitalters und wenden sich überdies vor allem an den Dichter selbst. Man hat behauptet, daß Pounds Ruhm letzten Endes auf seinen kritischen Schriften und nicht auf seiner Dichtung beruhen würde. [Mir hat man das gleiche Kompliment auch schon gemacht.] Aber dagegen muß ich Einspruch erheben. Man muß ihn nach seiner Gesamtleistung für die Literatur beurteilen: nach seiner Dichtung und seiner Kritik und seinem Einfluß auf Menschen und Ereignisse an einem Wendepunkt der Literatur. Überhaupt wird seine Kritik erst dadurch bedeutungsvoll, daß hier ein Dichter über Dichtung schreibt; sie muß im Lichte seiner eigenen. Dichtung wie im Lichte anderer Männer, deren Dichtungen er verfocht, gelesen werden. Eine Kritik wie die Ezra Pounds ist ein Sicheinsetzen für eine bestimmte Art Dichtung; es ist die Feststellung, daß die Dichtung der unmittelbaren Zukunft, wenn sie gute Dichtung sein soll, gewisse Verfahren beachten und gewisse Anleitungen befolgen muß. Ausschlaggebend ist hier, ob der Kritiker bei seiner Beurteilung der Lage recht hat: wenn ja, so wird seine Kritik von Dauer sein, wie die von Dryden und Wordsworth. Nur muß sie in der entlegeneren Zukunft mit der Kenntnis der Situation, für die der Kritiker schrieb, gelesen werden. Man kann Aristoteles’ Doktrin der Tragödie ohne den Hinweis auf die Reste des attischen Dramas, auf denen Aristoteles’ Verallgemeinerungen fußen, nicht völlig begreifen. Den Lesern der Zukunft, die sich nicht, die Mühe nehmen, Pounds Kritik im rechten Rahmen zu sehen, wie auch manchem zeitgenössischen Leser, dem „literarische Kritik“ etwas ganz anderes ist als die Aufzeichnungen eines Dichters über sein Handwerk, wird Pound aufreizend voreingenommen scheinen. Solche Leser werden sich, wie schon so manche, ärgern, daß er respektlos gegenüber den Namhaften ist, die, wie man ihnen beibrachte, über jeden Disput erhaben sind; sie werden sich über seine Behauptung ärgern, daß Autoren, die sie nie gelesen haben, wichtig sind. Diejenigen aber, die die Notwendigkeit eines jähen Wechsels in der poetischen Gestalt und Mundart jener Zeit verstehen und zugeben, daß Pound nicht nur die Lage erfaßte, sondern die Richtung erkannte, welche die Dichtung einschlagen mußte, werden sowohl Übertreibung wie Entthronung im rechten Rahmen sehen und gerechtfertigt finden.
Im großen und ganzen ziehe ich die gesammelten Schriften, die man in den beiden in New York erschienenen Bänden findet, dem späteren Buch Make it New, das in London herauskam, vor. Mich wenigstens erinnern die New-Yorker Bände an das erste Erscheinen einzelner Teile in Zeitschriften, die die Würze ihrer ursprünglichen Aktualität bewahrten, welche all denen, die nur die gesammelte Kritik kennen, verlorengehen muß. Von den Essays in Make it New hat derjenige über französische Dichter der symbolistischen Schule [der zugleich eine kleine Anthologie ist} nicht den bleibenden Wert mancher anderer. Heute wäre gewiß ein anderer Blickwinkel angebracht; einige der genannten Dichter können jetzt ignoriert werden; Mallarmé wird nicht erörtert; Valérys beste Arbeiten waren unbekannt. Der Essay liest sich wie der Bericht eines Touristen in der französischen Dichtung, nicht wie die Schlußfolgerungen eines Lesers, der den Stoff lange Zeit durchdachte. Der Essay über Henry James bleibt wertvoll, auch wenn das Studium des Gegenstandes nunmehr in eine weitere Phase getreten ist. Andererseits scheint Rémy de Gourmont heutzutage nicht die Bedeutung zu haben, die ihm Pound beimißt. Die Anmerkungen zu den Troubadours, zu Arnaut Daniel, den elisabethanischen und anderen, früheren Übersetzern sind heute so gültig wie je. Und die kurzen Aufsätze zu Anfang und Ende, Standort [Date Line] und Ein überzähliges Dokument [A Stray Document], tun heute dem Anfänger in der Kunst der Verse ebenso not wie zur Zeit ihres Entstehens. Der wesentliche Grundsatz von Pounds Kritik ist in den folgenden Abschnitten enthalten:
In der Theorie versucht [die Kritik] der Gestaltung voranzugehen, als Visier zu dienen, obwohl es meines Erachtens kein verbürgtes Beispiel dafür gibt, daß diese Voraussicht je den geringsten Nutzen hatte, es sei denn für den eigentlichen Gestalter. Ich meine, der Mann, der irgendeinen koordinierten Grundsatz von zukünftiger Reichweite aufstellt, ist zugleich der Mann, der ihn veranschaulicht. Die anderen, die den Grundsatz anwenden, lernen gewöhnlich vom Beispiel, und in den meisten Fällen trüben oder verwässern sie es nur.
Meistens zeigt es sich, glaube ich, daß das Werk der formulierten oder jedenfalls der veröffentlichten Gleichung zuvorkommt, oder mindestens, daß sie wie die beiden Beine eines Zweifüßlers vorgehen.
A Stray Document ist ein Ratgeber für Dichter. Ich hatte es lange nicht gelesen. Als ich es nun zum vorliegenden Zweck nachlas, fand ich, daß einige dieser Ratschläge sich im wesentlichen mit dem Rat decken, den ich selbst jungen Dichtern erteilte. Zum Beispiel:
Der Anfänger tränke seinen Sinn mit den trefflichsten Kadenzen, die er finden kann, am besten in einer fremden Sprache, damit der Sinn der Worte seine Aufmerksamkeit nicht so leicht von der rhythmischen Gangart ablenkt: zum Beispiel altangelsächsische Zaubersprüche, hebridische Volkslieder, Dantes Verse und Shakespeares Lieder – falls er Vokabular und Kadenz voneinander trennen kann. Er zerlege Goethes Lieder kaltblütig in ihre einzelnen Klangwerte, lange und kurze Silben, betonte und unbetonte, in Vokale und Konsonanten.
Der einzige Vorbehalt, den dieses Gebot erfordert, ist die Warnung, daß man wahrscheinlich erst völlig zu würdigen weiß, wie die Dichtung einer fremden Sprache klingt, wenn man diese Sprache recht gründlich beherrscht – wobei wiederum die Gefahr entsteht, daß der Sinn der Worte die Aufmerksamkeit ablenkt. Aber der Rat ist nichtsdestoweniger wertvoll: ich habe zum Beispiel selber aus Carmichaels Carmina Gadelica, einer Sammlung der Volksdichtung des Hochlandes, recht viele Anregungen bezogen. Was die Fehler betrifft, vor denen Pound den Anfänger warnt, so finde ich sie Woche für Woche immer wieder in Versen auftauchen, die man mir zur Beurteilung vorlegt.
Laß dich von so viel großen Künstlern, wie du magst, beeinflussen, aber sei so anständig, den Einfluß zuzugeben, oder versuche, ihn nicht offen hervortreten zu lassen.
Die Schwäche liegt beim Großteil der Verse, die ich lesen muß – abgesehen von jener reichlich vertretenen Gattung, in der die Verfasser scheinbar überhaupt keine Dichtung gelesen haben −, darin, daß die Verfasser tatsächlich beeinflußt waren, aber nicht durch genug bzw. nicht durch hinlänglich verschiedene erstrangige Dichtung. Meist haben sie, wie es scheint, die kürzeren Gedichte von Donne, einige Stücke von Gerard Hopkins und etwas vom Werk ihrer eigenen älteren Zeitgenossen gelesen. Manche Gedichte sehen aus, als hätte der Dichter einen Band Whitman aufgeschlagen und festgestellt, wie die Zeilen auf der Druckseite aussehen. Worauf die meisten „freien Verse“ fußen, außer auf dem Gerücht, daß sie befreit wurden, kann ich wirklich nicht sagen. Die Hälfte all der Arbeit, die Pound als Kritiker leistete, ist nur aus dem Zeugnis derjenigen ersichtlich, die aus seiner Unterhaltung oder Korrespondenz Nutzen zogen. So schuldete ich ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt Dank für seinen Rat, Gautiers Emaux et Camées zu lesen, denen ich zuvor keine eingehende Beachtung geschenkt hatte. Von seinem Eingriff an The Waste Land sprach ich bereits. Ich habe zuweilen versucht, dieselbe Art Hebammendienste zu leisten, und weiß, daß eine der Versuchungen, vor denen ich auf der Hut sein muß, darin besteht, das Gedicht eines anderen so umzuarbeiten, wie ich es selber geschrieben hätte, hätte ich dieses Gedicht schreiben wollen. Pound tat das nie: er suchte erst, zu verstehen, was man machen wollte, und dann, einem zu helfen, es auf die eigene Art und Weise zu tun. Natürlich gelangte man dabei auch an einen Punkt, an dem der Unterschied der Auffassungen und Ansichten zu weit auseinanderklaffte; vielleicht waren es auch Abstand und andersartige Umwelt, oder vielleicht war es beides. Ich habe bereits gesagt, daß Pounds Kritik ohne seine Dichtung nicht den hohen Wert hätte, den sie hat; in seiner Dichtung findet der analytische Leser ein gut Teil angewandter Kritik. Ich habe an meiner Einleitung zu einem Band von Pounds Selected Poems, der 1928 in London herauskam, nichts zu ändern, ausgenommen, daß ich heute mit größerer Achtung von Whitman sprechen würde – eine Sache, die mit dem vorliegenden Thema nichts zu tun hat. In dieser Einleitung sagte ich nichts über den „Propertius“, den ich sehr hoch schätze. [Ich bin mir des, Tadels derjenigen bewußt, die ihn als Übersetzung auffassen; wenn er als solche aufgefaßt wird, haben sie natürlich recht.] Wenn ich unschlüssig über einige der Cantos bin, so liegt es nicht daran, daß ich irgendein dichterisches Absinken in ihnen finde. Ich bin aus etwa demselben Grund unschlüssig, aus dem ich mich einst bei ihm über einen Artikel beschwerte, der von der Freigeldtheorie Gesells handelte und den er auf meinen Vorschlag für The Criterion geschrieben hatte. Ich sagte [wenn ich mich recht entsinne]: „Ich bat dich, einen Artikel zu schreiben, der das Thema denjenigen erläutern sollte, die noch nie davon gehört haben; du aber schreibst, als ob deine Leser es bereits kennten, ohne es jedoch zu begreifen.“ In den Cantos herrscht ein wachsender Mangel an Mitteilung, der nicht auffällt, solange Pound sich mit Sigismondo Malatesta oder chinesischen Dynastien befaßt, aber zum Beispiel stets, wenn er Martin Van Buren erwähnt. Solche Abschnitte sind recht dunkel: sie lesen sich, als wäre der Autor derart ärgerlich über seine Leser, weil sie einen großen Mann wie Martin Van Buren nicht kennen, daß er sich weigere, sie aufzuklären. Ich ärgere mich manchmal selber über den gelegentlichen Gebrauch jener eigentümlichen Orthographie, die Pounds Korrespondenz kennzeichnet, und über Zeilen, die in einem Dialekt geschrieben sind, den er für Yankee hält. Der Künstler aber hat bis auf den heutigen Tag – ich denke dabei an gewisse neue, unveröffentlichte Cantos – noch nie versagt. Keiner der Lebenden kann so schreiben: und wie viele vermag man wohl zu nennen, die halb so gut schreiben können?
Ich habe schon früher die Ansicht geäußert, daß die „Größe“ eines Dichters keine Frage ist, die die Kritiker seiner eigenen Zeit aufwerfen dürfen: erst wenn er einige Generationen tot ist, fängt der Begriff an, sinnvoll zu werden. „Größe“ ist, wenn der Begriff überhaupt Sinn haben soll, ein Attribut, das die Zeit verleiht. Dem zeitgenössischen Kritiker steht zunächst die Frage nach der „Redlichkeit“ zu. Es gibt aber einen dritten Gesichtspunkt, von dem aus der Dichter mit Fug beurteilt werden kann, eine dritte Art Urteil, das man in späteren Jahren über ihn fällen kann und dessen Gegenstand nicht nur seine Dichtungen, sondern auch die von ihm verfochtenen und befolgten Grundsätze des Schreibens sind. Ich meide das Wort Einfluß; es ist nämlich gefährlich, einen Dichter nach dem Einfluß, den er ausübt, einzuschätzen. Es gehören mindestens zwei dazu: einer, der den Einfluß ausübt, und einer, der ihn erfährt. Letzterer mag ein Autor sein, dessen Dichtung doch schlecht gewesen wäre, gleichviel welcher Einfluß zu seiner Gestaltung beitrug; oder er mag auf falsche Art und Weise beeinflußt worden sein oder durch falsche Faktoren im Werk des Dichters, unter dessen Einfluß er steht; er mag auch in eine Zeit hineingestellt sein, die dem Kunstschaffen ungünstiger ist – obwohl das eine Sache ist, über die wir nicht viel wissen können. Ich rede also nicht vom Einfluß, sondern von den Dingen, für die ein Mann wie Pound in seiner Zeit eintrat. Um diese Dinge richtig zu würdigen, bedürfen wir, wie ich anfangs andeutete, zunächst einer gewissen Kenntnis des Standes der Dichtung zu der Zeit, als der Dichter zu schreiben anfing. Diese ist aber bald vergessen, denn jede Generation neigt dazu, die Lage, die sie vorfindet, so hinzunehmen, als hätte sie von jeher bestanden. Ich glaube, Pound stand allein in seinem Beharren, daß Dichtung eine Kunst sei, die den zähesten Fleiß und die zäheste Mühe erforderte, und in der Erkenntnis, daß sie in unserer Zeit eine äußerst bewußte Kunst sein müsse. Er begriff überdies, daß ein Dichter, der nur die Dichtungen seiner eigenen Sprache kennt, ebenso mangelhaft ausgerüstet ist wie der Maler oder Musiker, der nur die Malerei oder Musik des eigenen Landes kennt. Es gehört zum Beruf des Dichters, seiner eigenen Sprache bewußter zu sein als andere, empfindlicher für das Gefühl, wissender um den Sinn jedes Wortes, das er verwendet, wacher gegenüber der Sprachgeschichte und jedem Wort, das er gebraucht. Er muß jedoch, so gut er irgend kann, mehrere andere Sprachen beherrschen: denn einer der Vorteile der Kenntnis anderer Sprachen liegt darin, daß sie uns die eigene Sprache besser verstehen lehrt. Pounds „Gelehrsamkeit“ ist sowohl überschätzt wie unterschätzt worden: denn sie wurde meist von Gelehrten beurteilt, die von Dichtung nichts verstanden, oder von Dichtern, die über wenig Gelehrsamkeit verfügten. Pounds großer Beitrag zur Arbeit anderer Dichter [sofern sie sein Anerbieten anzunehmen belieben] liegt in seinem Beharren auf der Unmenge bewußter Anstrengung, die der Dichter leisten kann, und in seinen unschätzbaren Anregungen zur Art und Weise der Schulung, die der Dichter sich selbst geben sollte: dem Studium der Form, der Metrik und des Vokabulars in der Dichtung verschiedener Literaturen und dem Studium guter Prosa. Die Dichter sollten fortfahren – was sie auch zweifellos tun werden, falls die Dichtung am Leben bleibt −, Pounds Werke über die Dichtung und seine Gedichte zu studieren, weil sie die Lücke überbrücken, die Browning und Swinburne von der Gegenwart scheidet. Er bietet uns überdies ein Beispiel der Hingabe auf die „Kunst der Dichtung“, dem ich in unserer Zeit nur Valéry und in beschränktem Maße Yeats gleichstellen kann: durch das Nennen dieser Namen ist auch eine gewisse Vorstellung von der Bedeutung Pounds als eines Exponenten der Dichtkunst gegeben, denn:
Die „Zeit verlangte“ einen Gipsabguß,
Verfertigt ohne Zeitverlust,
Ein Prosa-Kino, nie und nimmer Alabaster
Noch den „Meißel“ des Reims.
Postskriptum 1950. Diesem Artikel möchte ich vorläufig nichts beifügen, es sei denn, ich ließe mich auf eine eingehendere und analytischere Untersuchung von Pounds Dichtung ein, was einen weiteren Essay abgeben würde. In einem Punkte möchte ich meine Ansicht berichtigen. Das Vorhergehende wurde kurz nach Kriegsende geschrieben, als ich noch (eine Gelegenheit gehabt hatte, die Pisan Cantos zu untersuchen; und diese Cantos, finde ich, leisten [ganz abgesehen von der ungeheuren Bedeutung und Dichte, die ihnen an sich zukommen] ein übriges, die longueurs früherer Abschnitte über die Mysterien der amerikanischen Geschichte der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu rechtfertigen, in denen ich, wie die meisten Leser, kein Adept bin. Auch würde ich mich heutzutage, nach ständigem Nachlesen der vorhandenen Cantos, nicht über Dunkelheiten beklagen, die mich irritierten, als ich das Gedicht stückweise mit langen Unterbrechungen in Form einer Fortsetzung las. Ein solcher Wandel der Ansichten ist jedoch bloß eine Frage der Gewöhnung und allmählichen Anpassung. Wie direkt, klar und methodisch finden wir heutzutage doch den Ulysses!
T.S. Eliot, Geleitwort
Ezra Loomis Pound wurde am 30. Oktober 1885 in Hailey, Idaho, geboren – in der Wildnis des mittleren Westens sozusagen. Er stammt aus einem alten Siedlergeschlecht: sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits waren seine Vorfahren zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts aus England eingewandert. Mit fünfzehn Jahren schrieb er sich an der University of Pennsylvania ein, wo er frühzeitig Interesse an der vergleichenden Literatur fand, die er außerhalb des Lehrplans belegte. Im Lauf der nächsten zwei Jahre sattelte er zum special student um, weil er so das Studium der Fächer, die sich mit seinen literarischen Interessen nicht deckten, vermeiden konnte. Mit achtzehn Jahren besuchte er das Hamilton College in Clinton, New York, wo er seinem eigenen Fachstudium zwei weitere Jahre widmete. Danach kehrte er im die University of Pennsylvania zurück und wurde Lektor für romanische Sprachen und Literatur. Diesen Posten hatte er von 1905 bis 1907 inne, bis er seinen Magister in romanischen Sprachen machte und nach Europa fuhr, um in Spanien, Italien und Frankreich Unterlagen für eine Dissertation über Lope de Vega zu suchen. Nach seiner Rückkehr erhielt er einen Ruf an das Wabash College in Crawfordsville, Indiana, einer Stadt mit dem Anspruch, das „Athen des Westens“ zu sein. Dort erlebte er eine kurze, aber sehr stürmische Laufbahn von vier Monaten, in der seine Methoden als „allzu unkonventionell und europäisch“ angefochten wurden.
Nicht ohne einigen Widerwillen gegen den damaligen Stand des akademischen Betriebes in Amerika nahm Pound den nächsten Viehfrachter nach Europa und landete in Gibraltar. Nach einem kürzeren Aufenthalt fuhr er nach Venedig weiter, wo im Juni sein erster Gedichtband herauskam, der bereits einige der provenzalischen Lieder enthielt, die wir in diesem Band bringen. Gegen Jahresende fuhr er nach London, wo zu Weihnachten A Quinzaine for this Yule und kurz darauf auch Personae und Exultations veröffentlicht wurden und großen Widerhall fanden.
London war damals Mittelpunkt des universalen Geisteslebens; Künstler und Dichter aus aller Welt fanden sich so zahlreich ein wie seither nie wieder. Mancher Landsmann Pounds war den gleichen Weg gegangen: Whistler, der zu Anfang der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ankam und durch seine ketzerischen Neuerungen in der Farbgebung eine Sensation hervorrief; Harland, der 1889 eintraf und zum Mitbegründer des literarischen Yellow Book wurde; Cabot Lodge, der sich ebenfalls in London niederließ, und Henry James, dessen Stern damals im Zenit stand.
Pounds revolutionäre, wenn auch klassische Einstellung zur Dichtung entfachte kaum geringeren Aufruhr als seinerzeit Whistlers; und wie der Maler einst gemeinsam mit Rossetti, Wilde und Swinburne, sollte auch Pound eine lebendige und belebende Macht im künstlerischen Schaffen der Zeit werden, die später als „die Ära Ezra Pounds“ bezeichnet wurde. Weitere Gedichtbände folgten. Die provenzalischen Maskenspiele und Übersetzungen von Calvalcantis Canzoni kennzeichnen sein Bemühen, ältere, klassische Versformen zurückzubringen, das Dickicht der viktorianischen und georgianischen Hindernisse zu lichten, die jambische Zeile und das abgewirtschaftete Sonett zu entthronen und die direkte Verbindung mit der klassischen Überlieferung wiederaufzunehmen.
Dem gleichen Ziele dienten Pounds Versuche mit dem Zeitmaß, die Verwendung des Rhythmus mit dem Reim und häufig an Stelle des Reims, wobei er auf Shakespeares Handhabung der überzähligen Silben zurückgeht.
Aber wenn seine Dichtung und manche von seinen Argumenten auch bei der ständig wachsenden Zahl der Anhänger des vers libre Anklang fanden, so war es doch Pound selbst, der zur Vorsicht und Disziplin mahnte: „Keiner“, sagte er, „kann freie Verse schreiben, der sich nicht erst mit der gebundenen Rede geplagt hat.“ Vers libre darf keine Ausflucht für nachlässige Arbeit sein. „Ich glaube“, sagte er, „daß man vers libre nur schreiben darf, wenn man ,muß‘… wenn die Sache sich zu einem Rhythmus steigert, der schöner ist als der Rhythmus gebundener Verse, oder echter, oder der mehr an dem Gefühl der Sache teilhat, ein Rhythmus, der wesensverwandter, inniger, anschaulicher ist als das regelrechte Tonmaß.“
Sein Umgang mit dem jungen Philosophen T.E. Hulme führte zur Gründung einer Richtung, die Pound „imagism“ nannte. Die neue Dichtung sollte hart, elegant und lebendig sein. Worte, die keinen Anteil an der erstrebten Wirkung hatten, durften nicht verwendet werden; man strebte nach der präzisen Wiedergabe. Vor allem aber verkündete der Imagismus die Lehre vom „reinen Bild“. Keine der Schattierungen, die das Bild barg, durften durch schwache Adjektive oder überflüsssige Vergleiche verflüchtigt werden. Alle hinzutretenden Emotionen, alle intellektuellen Erwägungen sollten ausgeschieden bleiben. Die außergewöhnliche Dichte, die durch dieses Verfahren erreicht wird, zeigt sich besonders an dem Gedicht „In einer Station der Metro“, das aus 28 Zeilen kondensiert wurde:
Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge;
Blütenblätter auf einem nassen, schwarzen Ast.
Obwohl Hulme diese Gedankengänge, die Pound so nahelagen, seit dem Jahre 1909 verfolgte, kam es doch erst drei Jahre später durch Pound zur eigentlichen Gründung der imagistischen Schule – hauptsächlich wohl um die Gedichte der jungen Amerikanerin Hilda Doolittle ins rechte Licht zu rücken. Aber wenn die imagistische Bewegung auch mit aufsehenerregenden Manifesten und Sitzungen anfing, so gab es doch, abgesehen von Pound, der hochbegabten Hilda Doolittle, dem seither verstummten F.S. Flint und dem Iren Joseph Campbell keinen weiteren Dichter, der zu ihr hielt. Eine disziplinierte freie Versform, wie sie Pound vorschwebte, fand sich eher in den Gedichten T.S. Eliots – der damals soeben auf dem Londoner Schauplatz eingetroffen war – oder in den Gedichten des Bengalen Rabindranath Tagore, bei deren Veröffentlichung Pound behilflich war. Den Gnadenstoß verabreichte dem Imagismus Amy Lowell. Sie überquerte den Atlantik, um die Schule mit beträchtlichem Kapital zu versehen, ohne jedoch zusätzliche Talente beizusteuern. Der anfängliche Lärm des Imagismus erstarb im matten Ausklang dessen, was schließlich als „Amygism“ bekannt wurde. Pounds Interesse aber war schon längst abgewandert. Er hatte mit Wyndham Lewis, Gaudier Brzeska und Jacob Epstein den „Vortizismus“ gegründet, eine Richtung, die sich aus der nach-impressionistischen Periode entwickelte und in manncher Hinsicht eine Übersetzung der imagistischen Grundsätze in die Sprache der Plastik und Malerei sein mag. Der „Vortizismus“ faßte den Künstler als einen Bildner von Gefühlen auf, die nicht in naturalistischen Formen, sondern in Abstraktionen umschrieben sind: im Spiel der Formen, Farben und Flächen suchte er die Intensität des Ausdrucks. Das „innere Bild“, die schöpferische Konzeption, die zur Gestaltung drängt, bildet einen Wirbel [Vortex], dessen Sog die Vorstellungen beständig in sich hineinreißt. Aber auch der „Vortizismus“ war letzten Endes nur ein Übergang – seine Bedeutung liegt darin, daß er als notwendige Phase der Entwicklung, wie Wyndham Lewis sagt, „der Vorläufer einer Zukunft war, die niemals anbrach“. Die unmittelbare Ursache seines Versiegens war der Krieg, der seine Vertreter auseinanderriß und sie an die Front brachte, wo der junge Gaudier Brzeska, eine seiner größten Hoffnungen, 1915 fiel.
Pound wandte sich nun der chinesischen und japanischen Literatur zu, die ihn seit 1912 beschäftigt hatte. Die Witwe des amerikanischen Sinologen Ernest Fenollosa hatte ihm damals dessen unfertiges Manuskript zur Überarbeitung und Veröffentlichung anvertraut. Pound war überwältigt von den dichterischen Möglichkeiten, die sich ihm in der chinesischen Schrift erschlossen. Denn in der chinesischen Schreibweise des Ideogramms stieß Pound zu seiner Überraschung auf die Bestätigung all dessen, was er seit Jahren intuitiv erkannt und verfochten hatte. Als erster brachte er das eigenartig regsame Element im chinesischen Schrifttum zur Sprache und erklärte es damit, daß jedes Ideogramm ursprünglich ein aktives Geschehen bildlich darstellte, so daß selbst Präpositionen, Pronomen und Konjunktionen von transitiven Verben abstammen. Das rennende Bein, die greifende Hand der chinesischen Bildschrift gewähren ihm die lebendige Anschauung von Beziehung und Sinn. Das Ergebnis dieser Studien spiegelte sich in dem Gedichtband Cathay, der 1915 herauskam, und in den beiden Büchern über das Nôh=Drama, die zwei Jahre später erschienen.
Aus der gleichen Zeit stammt sein Abscheu vor dem Kriege, dessen Widersinn ihn durch den Tod so vieler Gefährten und die Einkerkerung anderer, die den Wehrdienst verweigerten, unmittelbar traf. In einem Brief dieser Zeit finden wir die lakonische Feststellung: „Dieser Krieg ist wahrscheinlich ein Konflikt zwischen zwei gleich verabscheuenswerten Mächten.“
Die Nachkriegszeit scheint Pound eine Periode der intellektuellen Erstarrung zu sein: die geistige Spannkraft erschlafft, das Denken verflacht: von 1918 bis 1921 kämpft er „gegen die Strömung der Zeit“ und sieht sich schließlich gezwungen, nach Frankreich überzusiedeln. Seine kulturelle Abrechnung mit England finden wir in der Gedichtfolge „Hugh Selwyn Mauberley“, in der er zugleich das geistige Ödland der Zeit verurteilt, das akademische Literatentum Londons geißelt, den Krieg verdammt und eine Art Autobiographie gibt, die jedoch von einer synthetischen Persönlichkeit berichtet wird, welche sich aus dem Gottesleugner Kapaneus, seinem Henry-James’schen alter ego, der Forelle, die gegen den Strom ankämpft, Pier Francesca und schließlich Elpenor, dem Gefährten des Odysseus, zusammensetzt.
In Paris suchte Pound von Brancusi Unterweisung in der Bildhauerei. Er befaßte sich zugleich mit der Musik, die er nach dem provenzalischen Grundsatz der „motz el sonh“ [der Worte und Weisen] seit jeher in einen innigen Bezug zur Dichtung zu setzen trachtete. So entstanden seine Oper Villon und die Vertonungen der Lieder Cavalcantis. Zu dieser Zeit trifft er den jungen amerikanischen Komponisten George Antheil, über den er ein Buch schrieb, das gemeinsam mit seiner Abhandlung über die Harmonik veröffentlicht wurde.
In Paris erschienen zudem die ersten sechzehn Cantos eines langen Gedichtes, das er etwa 1916 begonnen hatte und das heute zu einem weltweiten Werk von 100 Cantos angewachsen ist. Das Gedicht handelt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavon Büchern, Waffentaten;
Männern von großen Gaben
vorzeiten und auch heute – kurzum, dem üblichen
Gesprächsstoff intelligenter Leute
wobei es in seiner Gesamtheit das Bild der menschlichen Geschichte gibt. Es umfaßt nicht allein die westlichen Kulturen, sondern auch die Bereiche chinesischer und japanischer Geschichte. Auf Grund der Arbeiten von Frobenius wird auch der afrikanische Kulturkreis einbezogen, und in den zehn Cantos, die John Adams gewidmet sind, der früh-amerikanische Lebensbereich.
Zunächst mag es den Leser befremden, daß diese Themen nicht immer gesondert behandelt werden, daß sie sich vielmehr verschlingen, ineinanderballen und in der Folge oft ein Ideogramm der Kulturkritik ergeben, das der Ausdeutung bedarf wie ein chinesisches Schriftzeichen. Für Pound ist nämlich die Geschichte kein Ablauf von Ereignissen, die chronologisch oder geographisch festgelegt sind: „Morgen bricht über Jerusalem an, indes Mitternacht noch die Säulen des Herkules verhängt. Alle Zeitalter sind gegenwärtig… die Zukunft regt sich im Geiste der Wenigen… Das trifft vor allem auf die Literatur zu, wo die wirkliche Zeit unabhängig ist von der scheinbaren und viele Tote Zeitgenossen unserer Enkel sind.“
− Wie sich die Zukunft in die Gegenwart und die Gegenwart in die Vergangenheit umsetzt, wie uns das Gegenwärtige immer entweicht, so entschwindet unter unseren Fingern das Lebendige und fällt der Erstarrung anheim. Was in unserem Sinn lebendig sein soll, bedarf der immerwährenden Erneuerung, damit wir erfahren können, was die Gewohnheit in uns erstickte. Was aber lebendig in unserem Sinne ist, muß notgedrungen wirklich und gegenwärtig sein. Dieses Entweichen und gegenseitige Durchdringen tritt schon sehr früh in Pounds Dichtung auf und nimmt oft die Gestalt der Metempsychose an. Sagt er doch in einem frühen Gedicht:
Noch keiner hat gewagt, dies auszusprechen:
Doch weiß ich, wie die Seelen großer Männer
Zuweilen durch uns ziehn,
Wie wir in ihnen aufgehn und nichts sind,
Nichts sind als ihrer Seelen Spiegelbild.
So bin ich Dante eine Zeitlang, bin
Einer namens Villon, Balladen-Prinz und Dieb,
Bin solche Heiligen, daß ich ihre Namen
Nicht nennen mag aus Angst vor Blasphemie −
Dies einen Augenblick, und dann erlischt die Flamme.
Man sieht, das Erlebnis dieser Flüchtigkeit wird ihm zum Verlust seiner Identität. In den Cantos sehen wir ihn einmal in der persona des Odysseus, ein andermal in der des Elpenor, er ist Sordello, Sigismondo, Acoetes, Aktäon, Vidal, Dante, zuweilen nimmt er auch nicht-menschliche Gestalt an wie in der Eidechse, Elster oder Ameise. Dieser proteushafte Zug in Pounds Natur [besonders stark in seinen Übersetzungen], befähigt ihn vor allem, das zeitlose Thema der Metamorphose anzuschlagen, welches das mythische Grundelement der Cantos bildet. Immer wieder ringt Pound um den „magischen Augenblick“ der Verwandlung, jenen Bruchteil einer Sekunde, in dem sich das Leben wie in einem Prisma bricht und greifbar wird. Die Metamorphose tritt uns in mancherlei Gestalt entgegen. Fangen wir bei der althergebrachten Klage des Dichters über die Verwandlung des Menschen ins Pflanzliche an, so treffen wir auf jene im englischen Urtext wundervollen Strophen:
Das rote Blütenblatt sucht nicht mehr Streit,
Noch ist das Weiße Richterin der Zeit,
Sucht nicht zu wissen, ob der neue Wurzelstrauch
Springt aus Yorks Kopf, quillt aus Lancasters Bauch.
Die blutigen Rosenkriege, die England jahrzehntelang zerrissen, versinken in der gleichmütigen Anonymität der Pflanze: die weiße Rose von York, die rote Rose von Lancaster verbinden sich zur Rose von Tudor, aber auch Tudor ist bereits tot. Wer gedenkt heute des Hundertjährigen Krieges mit Frankreich? Wer gedenkt Catherine Howards und Anne Boleyns, die auf dem Schafott des Tudorkönigs starben? Nicht vergeben sind diese Bluttaten, sondern in Vergessenheit gesunken, untergegangen und überwuchert von der Triebkraft des Erdreichs.
Ein verwandtes Motiv, die ovidische Mutation des lebenden Menschen zum Baum oder Tier, gehört zu den Dingen, die Pounds Phantasie gefangennehmen, wir denken an sein Gedicht „Mädchen“, an die Heliaden, an „Ileuthyeria“ [auf griechisch wörtlich „die Freiheit“], jene schöne „Daphne der Küsten“, die sich der Gewalt entzieht, indem sie zur Koralle erstarrt. Auch der Raub Helenas, die Überlistung Tyros, tragen die Saat des Unheils in sich. Am Ende des zweiten Cantos hören wir den Chor der Faune [welche die männliche Zeugungskraft versinnbildlichen], den Proteus schelten, der die Nymphe in Schutz nahm; zur Antwort ertönt der Triumphgesang der Frösche [welche die Kraft der Verwandlung verkörpern]. Ein anderes Motiv, das Pound im gleichen Canto anschlägt, ist die Goldgier, die den Menschen zum Tier macht. Er verweist hier auf den Vorfall mit den tyrrhenischen Seeräubern, die den jungen Bacchus verschachern wollen und zur Strafe in Delphine verwandelt werden. Im Gegensatz dazu steht der rechtschaffene Acoetes, der den König Pentheus, einen anderen Frevler gegen die Allmacht Gottes, verwarnt. Das Erstarren aus dem Fluß ist, sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht das Leitmotiv des zweiten Cantos: wir sehen, wie sich der Mensch, der der lebendigen Macht des Dionysos habhaft zu werden trachtet, versündigt, aber auch der Kaiser und Straßenbauer So-schu, der im Flüssigen [hier im politischen Sinne] quirlt, um zum Konkreten zu gelangen, findet Erwähnung. Die Gier, die den Menschen vertiert, gehört zu den Themen, die sich durch das ganze Gedicht hinziehen. In diesem Zusammenhang sei an die überragende Rolle der Circe erinnert, die den Menschen zum Schwein verzaubert, und natürlich auch an Canto XLV mit seinem Verzeichnis der sozialen und kulturellen Folgen der Geldgier.
In Canto IV finden wir das Motiv der Ungreifbarkeit der Schönheit, denn Kythera, „Blütenblatt, leichter als Meerschaum“, ist „schrecklich im Widerstand“. Den Auftakt des Gedichtes bilden die schwelenden Meiler von Troja – Folgen des gewaltsamen Raubes der Schönheit. Philomela, von Terreus, dem Gemahl ihrer Schwester Prokne vergewaltigt, rächt sich, indem sie ihm seinen Sohn Itys zur Speise vorsetzt. Die Schwestern fliehen und werden verwandelt: Philomela in die Nachtigall, Prokne in die Schwalbe. Diesen alten Mythus verwebt Pound mit der provenzalischen Sage vom Ritter Cabestan, dessen Herz seiner Geliebten von ihrem eifersüchtigen Gatten zum Mahle vorgesetzt wird. Der Name Itys verschwimmt unmerklich mit Cabestan und bildet „Ityn“. Unnachahmlich im Englischen die Antwort der Schwalben auf die Frage
It is Cabestan’s heart in the dish?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa…’Tis! ’Tis! Ytis!
Auch die Sage von Aktäon, der Diana im Bade belauert und zum Hirsch verwandelt wird, vermengt sich mit einer anderen, der Sage von dem provenzalischen Sänger Vidal, der seiner Herrin Loba [„Wölfin“] zuliebe zum Wolf wird. In beiden Fällen die ironische Verkehrung: der Jäger wird zum Gejagten. Der flüssige Kristall, durch den die Götter waten, ist die Schönheit: fest und dennoch unfaßlich, entweicht sie der Gewalt und schenkt sich nur ungefragt, wie wir am Bilde Danaes sehen, die wartend auf ihrem Turm liegt. Canto LXXIX, einer der schönsten Pisaner Cantos, ist ein Päan an die zeugende, erneuernde Kraft der Erde. Eingerahmt von der ersten Morgenröte und dem triumphalen Einzug von Helios und Kythera, finden wir zahlreiche Anrufungen der Vegetations-Gottheiten: Priapus, ein örtlicher Vegetationsgott; Proserpina, der der Granatapfel heilig ist und die den Zyklus des sommerlichen Wachstums und des winterlichen Schlafes im Samenkorn verkörpert; Pomona, die Hüterin des Weinbaues und der Gartenfrüchte, deren Gatte Vertumnus ein Gott der Verwandlung ist. Als Kehrreim die beschwörenden Anrufe des Dichters an den Luchs, der zum Gefolge des Dionysos zählt, das Feuer und den Most [sinnbildlich für seine Lebenskraft] zu wahren.
Und so könnte man fortfahren, die Cantos zu zerlegen, und würde dennoch nie das Eigentliche fassen. Denn Pound gehört nicht zu den Dichtern, bei denen man „das, was er sagen will“, säuberlich von der Gestalt des Gedichtes trennen kann, um eine sogenannte „Quintessenz“ zu destillieren. Das kommt daher, daß bei Pound die Form selber Sinn hat. Und so vereinigen sich Inhalt und Form der Cantos zu einem innigen Leben. Denn Pound ist ein Dichter, der von der Abstraktion zum Konkreten schreitet. Er weiß sehr wohl, daß es sinnlos ist, die entwürdigende Macht des Goldes, das ständige Ausweichen der Vollkommenheit usw. in dürre Worte zu kleiden. Wie Lessing einst in seinem Laokoon darlegte, daß es dem Dichter nicht gegeben ist, Landschaften zu schildern, und daß der Maler kein Geschehen wiedergeben kann, so weiß Pound, daß das Gute nur wirksam ist, wenn man es am „moving image“ zeigt, daß die Dichtung ihren Vorwurf in der Bewegung festhalten muß, und jede metaphysische Zudringlichkeit läuft seiner Natur zuwider. Der alte Mythos, der seiner Meinung nach nichts anderes ist als „eine unpersönliche oder objektive Fabel, die aus eigenem Gefühl gewirkt wurde“, fängt unter seiner Hand von neuem zu leben an, denn er erfaßt ihn im Scheitelpunkt der Verwandlung. Der Zusammenhang von Kunst und Wirtschaft – gleichfalls zum Motivkreis der Cantos gehörig – hatte Pound seit langem gefesselt und kommt schon in sehr frühen Gedichten vor. Sein erstes wirtschaftliches Werk erschien aber erst 1933. In der Folge veröffentlichte er dann zahlreiche Flugschriften zum Thema der Geldreform, der Freiwirtschaft Gesells und der Vorzüge einer Währungsdeckung durch Produktionskraft statt durch Gold und Devisen. Pounds Sympathie für das damalige Italien wurde hauptsächlich durch dessen wirtschaftliche Errungenschaften geweckt: das Fortschreiten des wirtschaftlichen Aufbaus, die internen Anleihen zu niedrigem Zinsfuß, die Vereinbarung von Tauschabkommen im Außenhandel, die die Gold- und Devisenverrechnung umgingen. In mancher Hinsicht schienen ihm Italiens wirtschaftliche Probleme den wirtschaftlichen Problemen der jungen amerikanischen Republik unter Thomas Jefferson nicht unähnlich zu sein.
Als 1939 der Krieg ausbrach, hielt Pound eine Reihe von Vorträgen über Radio Rom, in denen er sich für einen Verhandlungsfrieden einsetzte. Aber als Roosevelt 1941 in den Krieg eintrat, machte Pound eine Eingabe an das zuständige amerikanische Konsulat in Italien, in der er um seine Repatriierung ersuchte. Die erforderlichen Papiere wurden ihm jedoch auf Weisung von Washington verweigert. Da er sich solchermaßen gezwungen sah, in Italien zu bleiben, und da ihm die italienischen Behörden absolute Redefreiheit zugebilligt hatten, setzte er seine Vorträge über den Rundfunk fort.
Als die amerikanischen Streitkräfte in Genua eindrangen, meldete sich Pound und wurde in ein Straflager der amerikanischen Armee in der Umgebung Pisas eingewiesen. Seine Mitgefangenen setzten sich aus Deserteuren, Kriminellen, Mördern, Asozialen, Geisteskranken und sizilianischen Terroristen zusammen. Sein eigener Fall aber galt offenbar als weitaus verruchter. Zunächst steckte man ihn in jene Zellen, die passenderweise als „Death Cells“ bezeichnet waren, wo ihm das dort übliche Maß an physischer Gewalt zuteil wurde. Nach einiger Zeit ließ ihm der Kommandant ein eigenes eisernes Gehege anfertigen, den sogenannten „Gorillakäfig“, in dem man ihn Tag und Nacht bewachte. Nachts schlief er zusammengerollt auf dem Zementfußboden unter dem vollen Glast der Scheinwerfer. Tagsüber kauerte er in einer Ecke seines Käfigs und las in dem Band Konfuzius, der ihm als einziger Besitz geblieben war. Nach sieben Wochen dieses Lebens wurde ihm ein kleines pyramidenförmiges Zelt zugewiesen. obwohl er noch immer von seinen Mitgefangenen abgesondert war – der Umgang mit ihm war streng verboten −, schlich bei manchem seiner Kameraden Mitleid mit ihrem seltsamen Gefährten ein. Einer von ihnen – ein Neger – fertigte ihm aus einer Kiste heimlich einen Schreibtisch an. „Die größte Nächstenliebe findet sich bei denen, die Dienstvorschriften nicht einhalten“, schrieb Pound in einem der Gedichte, die zu dieser Zeit entstanden und heute unter dem Namen The Pisan Cantos bekannt sind.
Bunt von den Bildern und Sinnbildern seiner Umgebung führen uns diese Gedichte in eine andere Welt – in die Mythologie des modernen Konzentrationslagers: die „vier Riesen an den vier Ecken“ sind die vier Wachttürme, die die unabsehbaren Strecken von Stacheldraht überblicken. In den Stacheldrähten sieht er die Notenzeilen einer Partitur, und die Vögel, die sich abwechselnd darauf niederlassen, schreiben ihm die Melodie. Der Regengraben [Canto LXXX], der sein Zelt umgibt, ist zugleich die Scheidelinie zwischen Innerem und Äußerem. Immer ist er allein, ein stummer Zeuge der Vorgänge im Lager. In solcher Umgebung schreibt Pound an seinen Pisan Cantos, welche von vielen Kennern als sein größtes Werk und als eine der bedeutendsten Dichtungen der modernen Literatur überhaupt gefeiert werden.
Nach vier Monaten brach Pounds Gesundheit zusammen – er war immerhin schon sechzig Jahre alt −, und man brachte ihn zur Gerichtsverhandlung nach Washington. Seine Rückkehr nach Amerika erregte in Radio und Presse größte Entrüstung. Man verlangte seine Verurteilung als Hochverräter, verunglimpfte aber zugleich seine Dichtung als das Werk eines Irrsinnigen. Dieser Abersinn machte schließlich ein ordentliches Gerichtsverfahren unmöglich und führte dazu, daß er als Patient in ein staatliches Sanatorium eingeliefert wurde. Als Ursache wurde nicht eigentlich Geisteskrankheit angenommen, sondern eine angebliche frühzeitige Senilität als Folge der im Lager erlittenen Unbill.
Dann geschah das Unerwartete: Ezra Pound erhielt von den Preisrichtern der American Library of Congress für die Pisan Cantos den Bollingen-Preis und damit den wohl angesehensten Literaturpreis, den Amerika überhaupt zu vergeben hat. Die sensationelle Bedeutung dieser Verleihung wird noch offensichtlicher, wenn man weiß, daß sich das Preisgericht aus T.S. Eliot, W.H. Auden, Robert Lowell, Carl Shapiro, Allan Tate, Conrad Aiken, Louise Bogan, Catherine Ann Porter, Leonie Adams und Theodore Spencer zusammensetzte. Und die heftige Auseinandersetzung, welche diese Verleihung in Radio und Presse zur Folge hatte, vermochte Ezra Pounds überragenden Rang in der modernen amerikanischen Dichtung nur zu bestätigen: immer größer wird in aller Welt die Zahl jener Stimmen, welche in Ezra Pound einen der größten Dichter unserer Zeit Verehren.
Eva Hesse, Nachwort
Ezra Pound übt seit Jahrzehnten eine erregende Wirkung auf die Literatur vieler Länder aus. Sein entscheidender Einfluß etwa auf James Joyce und T.S. Eliot hat ihm den legendären Ruhm eines „Vaters der modernen Literatur“ eingetragen. Hemingway hat von ihm gesagt, er scheibe einen großen und hervorragenden Teil der wahrhaft großen Dichtung, die jemals geschrieben worden ist: „Ein Dichter, der in diesem Jahrhundert oder in den zehn Jahren vorher geboren wurde und von sich behaupten kann, daß er von dem Werk Ezra Pounds nicht beeinflußt wurde, verdient eher unser Mitleid als unseren Tadel.“ Und T.S. Eliot: „Keiner der Lebenden kann so schreiben wie Ezra Pound; und wie viele vermag man wohl zu nennnem, die halb so gut schreiben Können?“
Ein Geleitwort T.S. Eliots, ein ausführlicher Essay der Übersetzerin Eva Hesse und eine vollständige Bibliographie ergänzen die Auswahl dieser Ausgabe, wobei den Gedichten der Originaltext gegenübergestellt ist.
Ullstein Verlag, Klappentext, 1956
– Ein Auswahlband mit Geleitwort von T.S. Eliot. –
Aus dem schwer zu überblickenden Lebenswerk des amerikanischen Dichters Ezra Pound – über siebzig Titel stehen in der Bibliographie – erscheint zum erstenmal ein Auswahlband im englischen Originaltext mit deutscher Übersetzung: Gedichte, Proben aus dem Riesenwerk der Cantos, an dem Pound seit 1916 arbeitet, und kritische Prosa.
Als 1922 The Waste Land von T.S. Eliot erschien, trug es die Widmung:
For Ezra Pound, Il miglior fabbro.
Für Eliot war Pound damals eine Autorität: er hatte ihm die Handschrift vorgelegt und es hingenommen, daß sie auf die Hälfte zusammengestrichen wurde. Es wäre wünschenswert, daß Eliot die Einwirkung des älteren Dichters auf ihn einmal darstellen würde: den Dante-Kult, die Kenntnis der provenzalischen Dichtung, das Zitieren lateinischer und griechischer Autoren in ihrer Sprache inmitten englischer Gedichte, all das, was seinen Stil so stark und nicht nur äußerlich bestimmt, findet sich bei Pound, der, drei Jahre älter und mit apostolischer Energie geladen, Einfluß suchte und ausübte, namentlich auf den in Empfänglichkeit und produktiver Leistung so hochbegabten Freund. Einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg war er herübergekommen nach London, wo er bis 1922 blieb; später hat man dort von der „Ära Ezra Pounds“ gesprochen. Als herrischer Trainer begann er die erschlaffte Verskunst auf neue Aufgaben hin einzuüben, um eine noch unerlöste Musik aus der Sprache zu ziehen. „Die Frage hieß immer noch: Wohin führt der Weg seit den Tagen Swinburnes? und die Antwort schien: nirgendwohin zu lauten“, schreibt Eliot in seinem Vorwort. Pound wußte einen Weg zu einem Ziel; er ging ihn und zog andere mit. D.H. Lawrence, Herbert Read, Hilda Doolittle gesellten sich zu ihm. Es gab eine Zeitlang so etwas wie eine Schule, den Imagism.
Die Dichter hatte Pound nicht erschaffen; aber er schuf eine Situation, in der es zum erstenmal eine „moderne Entwicklung der Dichtung“ gab, an der englische und amerikanische Dichter gemeinsam wirkten, ihre Arbeiten gegenseitig kennenlernten und sich beeinflußten. (Eliot)
Zwei Amerikaner haben der englischen Lyrik unseres Jahrhunderts ihre kühnsten Lebensimpulse gegeben.
Ezra Pound, 1885 in Hailey, Idaho, geboren, hatte romanische Sprachen und Literaturen studiert und kurze Zeit auch gelehrt, bis er sich mit seinem College zerzankte. Auf einem Viehfrachter fuhr er nach Europa und blieb. London, Paris und Italien waren die Stationen seines Weges. Seine Feindschaft gegen unser Geldzeitalter – in den Cantos kommt sie grell zur Erscheinung – führte ihn dazu, die wirtschaftlichen Methoden des faschistischen Italiens für den aus einem Teufelskreis ausbrechenden Fortschritt zu halten, wie er anderseits für Gesells Freigeld, das Schwundgeld von Wörgl usw. Interesse und Glauben aufbrachte. Im Krieg sprach er am italienischen Radio; das war nur möglich als Anhänger der damaligen italienischen Sache. Er muß dieses Land über die Maßen lieben; das wird wohl seine Haltung bestimmt haben, die er in einem Straflager der amerikanischen Armee bei Pisa dann bitterlich büßen mußte. (Die Pisan Cantos, von manchen Kennern als sein größtes Werk gefeiert, sprechen davon.) In Amerika kam er vor Gericht und wurde in der Folge in ein staatliches Sanatorium gesteckt. Trotz der Rachestimmung gegen ihn wurde ihm der Bollingen-Preis zuerkannt; im Preisgericht saßen: Eliot, Auden, Conrad Aiken, Shapiro, Catherine Ann Porter u.a. Damit versank der Politiker, und der Dichter Pound kam wieder zur Erscheinung, der große Anreger, Wegbereiter, Zielweiser. Dankbarkeit wandte sich ihm zu; sogar ein Prosaist wie Hemingway schrieb, daß ein Dichter unserer Zeit, der Pounds Einfluß nicht erfuhr, eigentlich zu bemitleiden sei.
Verehrt wird er als Schöpfer einer neuen Verssprache. Eine Zeitlang hatte er sich mit dem chinesischen Schrifttum befaßt; wie Konfuzius, sah er einen Hauptgrund aller Schäden der modernen Zivilisation in dem Auseinandertreten von Wort und Sinn, im Nichtmehrstimmen der Begriffe.
Die Sprache diente dazu, den Sinn zu verhehlen, zu trüben und das vollständige Inferno des vergangenen Jahrhunderts zu erzeugen, wogegen einzig die Pflege der Sprache und das genaue Verzeichnen durch sie hilft. Und wenn die Menschen dies zu lange unterlassen, so werden ihre Kinder und Kindeskinder sich am Bettelstabe sehen.
Mit dieser Einstellung nahm er die lyrische Sprache in die Kur, indem er ihr vor allem die weichen, schönen, kraftlos gewordenen Gebärden abgewöhnen wollte.
Sie darf in keiner Weise vom Gesprochenen abweichen, außer durch erhöhte Intensität (d.h. Schlichtheit)… Sie muß so einfach sein wie Maupassants beste Prosa, und so hart wie die von Stendhal.
Präzision und Konzentration fordert er; bei seinen Zeitgenossen sähe er gern ein wenig von der „sophokleischen Strenge“. Kein überflüssiges Wort, keine Abstraktionen, kein schmückendes Poetisieren soll der Dichter dulden.
Sei nicht weltanschaulich.
Gebote und Verbote drängen sich; die von ihnen umrissene Ästhetik ist eine Parallelschöpfung zu seinem lyrischen Werk. Mallarmé, Valéry, George, Borchardt: die modernen Lyriker sind ebenso wie am Gedicht an einer Theorie des Gedichtes interessiert. Bei Mallarmé wird diese das mittelste Thema seiner Dichtung. Die Opposition erhebt sich gegen den Gesang, gegen das Sangbare des Gedichts, mit bewußter Brechung der allzu leicht unter Umgehung der Widerstände sich entfaltenden, daher aus Anklängen nie ganz sich erhebenden Liedhaftigkeit. Ein magisch umwitterter Sprechton wird angestrebt; die Umgangssprache liefert dem Rhythmus Elemente, die er ihrer gewöhnlichen Existenz entfremdet. Sachte scheint der Vers sich aus der Prosa zu erheben, wie ein Falter, der hinstreichend sich nie weit von der verlassenen Puppe entfernt, als wolle er sie dankbar teilhaben lassen an seinem neuen Leben, das sie eben noch enthielt. Belebt vom Rhythmus der Strophe, des Gedichts, hat dasselbe Wort einen andern Sinn als in der Prosa; in seinem Aufschwung droht ihm jedoch die Gefahr, in die Sphäre der Rhetorik zu geraten. Pounds und Eliots Abneigung gegen Swinburne gilt dessen (manchmal doch großartiger) Rhetorik, den rollenden Verswogen, die nach überschwemmender Ausbreitung drängen und dabei prosaische Themen und Motive mit sich reißen. Solche Sprachenthemmung, die sich nach ihrem Gesetz laut gebärdet, gilt als überlebt und überwunden; Pound will eher Untertreibung, Gedämpftheit an Stelle des rednerischen Pathos, volle Beherrschung reicher Mittel in jedem bewußt überwachten Augenblick. Jungen Dichtern gibt er den Rat:
Der Anfänger tränke seinen Sinn mit den trefflichsten Kadenzen, die er finden kann, am besten in einer fremden Sprache, damit der Sinn der Worte seine Aufmerksamkeit nicht so leicht von der rhythmischen Gangart ablenke; zum Beispiel: altangelsächsische Zaubersprüche, hebridische Volkslieder, Dantes Verse und Shakespeares Gedichte – falls er Wortschatz und Tonfall auseinanderhalten kann. Er zerlege Goethes Lieder kaltblütig in ihre einzelnen Klangwerte, lange und kurze, betonte und unbetonte Silben, in Vokale und Konsonanten.
Jede neue Richtung ist auch durch ihre Rückgriffe auf die Überlieferung gekennzeichnet. Pound empfiehlt älteste englische und gälische Sprachdenkmäler – aber auch Griechen, Lateiner, Italiener des Mittelalters. Er ist philologisch geschult, wie es übrigens auch Mallarmé, Leopardi, George, Hofmannsthal, Borchardt, Eliot, Guillen u.a. waren und sind. Die moderne Dichtung hat ihren Ursprung in einer besonderen Rückbezogenheit des Dichters auf seine Sprache, auf fremde Sprachen, auf das Phänomen Sprache überhaupt, in einer neuen Beziehung zum Wort als Jahrhunderte durchlebendem (und enthaltendem) Eigenwesen, in dessen Biographie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Dichter auftritt, um es zu verwandeln oder auf seiner Stufe festzubannen. Damit verbunden ist ein neues Verhältnis zur Kulturgeschichte, die nun in gewaltigem Ausmaß als Stoff frei zur Verfügung steht, das auf die Antike eingeschränkte Blickfeld erweiternd: die tausendjährigen Zeiträume vor den klassischen Griechen eröffnen sich, und wie sie alle Gebiete des Erdballs. Ezra Pound ist wohl der erste, der aus allen Zeiten und Zonen Fakten, Namen, Zitate in seinem Gedicht nebeneinanderstellte. In den ersten zehn Zeilen des Canto II kommen vor: Sordello aus Mantua, Robert Browning, der chinesische Kaiser So-shu, Lirs Tochter, Picassos Augen, die Tochter des Okeanos – mythische Zeit, historische Zeit und lebendigste Gegenwart werden dichterisch eins und Einheit; das Meer, China, Griechenland, Paris lassen sich lyrisch in einem Augenblick zusammen repräsentieren, ineinander gewirkt durch eine Synthese von Rhythmus, Klang, Erinnerung. In Eliots Waste Land finden wir das Verfahren wieder. Seine Gefahr ist die Beliebigkeit bildungsmäßiger Assoziationen, die in zu großer Zahl zusammen gerufen schließlich dem innersten Befehl des Gedichts – auch die Welt entstand aus einem Befehl: es werde Licht! usw. – auf anarchische Weise davonlaufen. Doch welch ein Entzücken an der Entdeckung, daß die ganze wißbare Welt, daß noch der abgelegenste Fetzen Gelehrsamkeit Bestandteil des poetischen Kosmos ist!
Pounds Gedicht mit dem Titel „Portrait d’une femme“ beginnt mit der Zeile:
Your mind and you are our Sargasso Sea…
Dein Sinn und du sind unser Sargasso-Meer. Ich gehöre nicht zu denen, die Bescheid wissen, mußte also nachschlagen und erfuhr:
Sargasso-Meer oder -See, vom portugiesischen sargaço, Tang, zwischen den kanarischen und westindischen Inseln gelegener Teil des Atlantischen Ozeans, in dem eine große Masse schwimmenden Seetangs sich vorfindet… Krautwiesen der Ozeane… Schon von Scylax, Theophrast, Aristoteles erwähnt. Der Tang des Sargasso-Meers ist fast ausschließlich das Golfkraut. (Sargassum bacciferum Ag. – Fucus natans L.)
Durch den klangvollen Vergleich der Dame mit jenem Meer ist sogar dieser lexikalische Abschnitt poetisiert worden; fortan gehört er in die Interessenzone von Pounds Gedicht. War der Klang des schönen Wortes Sargasso der Vater des Vergleichs oder die bildliche Vorstellung einer Krautwiese des Ozeans, deren schwankendes, hemmendes, formloses Wesen das der porträtierten Frau wiederholte? Oder spendete ihr Wesen all denen, die ihr nahten, unabsehbare Nahrung?
Wie dem sei. Früher hätte es geheißen: Du bist wie ein Sargasso-Meer, wodurch freundlich, aber fast unverbindlich der Vergleich als doch wohl möglich angeboten wurde. Nun werden die Glieder des Vergleichs in eine Identität gesetzt; die Dame ist nicht bloß wie das Meer, sie ist es selbst. So vom Dichter aus, der die Verwandlung liebt und, ein Proteus, sich selbst in vielerlei Gestalt erblickt: als Odysseus, Elpenor, den Gottesleugner Kapaneus, den provenzalischen Dichter Peire Vidal u.a. In ihm leben große Tote wieder auf; für Augenblicke ist er ganz und ununterschieden der andere:
Noch keiner hat gewagt, dies auszusprechen:
Doch weiß ich, wie die Seelen großer Männer
Zuweilen durch uns gehn,
Wie wir in ihnen aufgehn…
So bin ich Dante eine Zeitlang, bin
Einer namens Villon, Balladenprinz und Dieb,
Bin solche Heiligen, daß ich ihre Namen
Nicht nennen mag aus Angst vor Blasphemie –
Dies einen Augenblick, und dann erlischt die Flamme.
Die Schranken fallen, die Wesenheiten vertauschen sich und gehen ineinander über wie im Traum, in Mythos und Märchen und in den Verwandlungen der Chemie. Meer ist Frau, Dante ist Pound, Vergangenheit und Zukunft sind Gegenwart, „und viele Tote sind Zeitgenossen unserer Enkel“. Eingehen in etwas anderes, aufgehen in etwas anderem: die Seele drängt in Pounds Welt zur Verwandlung, jede Daseinsform ist wesentlich und göttlich maskenhaft zugleich. Kein Wunder, daß die Übersetzerkunst des Dichters gerühmt wird, die Metamorphose vom Wort ins Wort. Von den Konventionen und Verständigkeiten der Alltagswelt gilt nichts mehr in diesen Zusammenhängen, die sich in den Gedichten nach einem persönlichen Reihengesetz momentaner Erleuchtungen bilden, wo verborgene Verwandtschaften der Dinge aufscheinen und auf eine letzte Einheit deuten.
A consciousness disjunct,
Being but this overblotted
Series
Of intermittences…
So heißt es in einem Gedicht, wo mit pointillistischen Wortflecken Boot, Meer, Strand, Laub, die feierlichen Flamingos heraufbeschworen werden, und wo das Bewußtsein, vom Betrachtenden abgelöst, nur noch in den Übergängen von einem Bild zum andern ist, eins mit den Schönheiten der Landschaft, zu deren Zauber es, in sich zurückgekehrt, in der Sprache einen analogen Zauber zu schaffen sucht.
Pounds Vertrauen, daß die Dinge der Welt poetische Doppelgänger haben, ist nicht zu erschüttern; doch gibt es in den Cantos Stellen, die, wie mir scheint, nicht eins und doppelt sind, wie etwa in XXXVII
4 to 5 million balance in the national treasury
Receipts 31 to 32 million
Revenue 32 to 33 million
The bank 341 million, and in deposits
6 million of government money
(and a majority in the Senate)
usw.
Das ist nur eine Detailanmerkung zu den Cantos, von denen etwa achtzig vorliegen; sie betrifft den Versuch, auch moderne Geschichte (USA, Martin van Buren, 1782–1862, Präsident, in seinem Kampf um Trennung der Staatsfinanzen von den Banken) in ihrer wirtschaftlichen Problematik dichterisch zu bewältigen. Das Unternehmen ist gewaltig – es brauchte einen Mann zu diesem Plane, der manchmal „eine Zeitlang Dante ist“, wie er sagt. In dem vorliegenden Bande sind Proben aus den Cantos von genauer Schönheit abgedruckt.
Dem, der nicht alle Werke Ezra Pounds kennt, ist es verwehrt, die hier gebotene Auswahl zu beurteilen; aber sie enthält in dichter Folge so erstaunliche, großartige Verse, daß sie hervorragend sein muß. Eva Hesse hat sie im Einvernehmen mit dem Dichter zusammengestellt, den sie in ihrem Nachwort knapp, tatsachenreich, werkerhellend würdigt. Ihre Übersetzung verdient Hutlüften und Dank: sie erschließt dem deutschen Sprachraum einen Dichter ungemeinen Formats. „Keiner der Lebenden kann so schreiben“, bezeugt Eliot, „und wieviele kann man wohl nennen, die halb so gut schreiben können?“ – Das ist hier die Frage.
Max Rychner, die Tat, Nr. 304, 7.11.1953
Hans Egon Holthusen: Der Dichter im eisernen Käfig
Merkur, Heft 83, Januar 1955
Ein Verleger hat sich mit der Bitte an mich gewandt, eine Würdigung Ezra Pounds zu schreiben, und zwar so als wäre er bereits tot. Man würdigt jedoch keine Toten, sondern nur ihr Werk. Die Gesellschaft der Toten selber ist höchst ungemütlich, und früher oder später beerdigt man sie doch oder geht hinter ihnen her – bis dorthin wo andere sie beerdigen; oder man liest in der Zeitung von ihrer Beerdigung und schickt womöglich Telegramme, in denen sich Phrasen gar nicht vermeiden lassen. Und falls man versucht, über Tote zu schreiben, mit denen man befreundet war, mißlingt es aus dem einen oder anderen Grund und taugt nichts.
Stilisten bringen es fertig, denn sie verstehen sich darauf, die Dinge in ihren Stil einzuwickeln, wie emballeurs, das sind die Leute, die in Ägypten Mumien einwickelten. Aber sogar die Stilisten tun es nur sich selbst zu Gefallen. Niemand sonst findet Vergnügen daran.
Gott sei Dank also, Pound ist nicht tot, und wir brauchen nicht über ihn zu schreiben, als ob er es wäre.
Ezra Pound widmet etwa ein Fünftel seiner Arbeitszeit der eigenen Dichtung und mit diesen zwanzig Prozent seines Energieaufwandes schreibt er einen hohen, einen bemerkenswerten Anteil der wirklich großen Dichtung, die je von einem lebenden oder toten Amerikaner geschrieben worden ist – oder von einem Engländer, lebend oder tot, oder von einem Iren, der je in englischer Sprache schrieb. Ich erwähne die anderen Nationen nicht, weil ich die Dichtung anderer Nationen nicht kenne, auch Gälisch beherrsche ich nicht. Es gibt nur einen lebenden Dichter, der mit Pound gleichzustellen wäre, und das ist William Butler Yeats. Manches in Pounds späterem Stil schreibt T.S. Eliot besser. Aber Eliot ist schließlich ein Kleinmeister. Kleinmeister schreiben sehr schöne Dichtung.
Pound ist nun mal ein Großmeister, ebenso wie Yeats es ist und Browning, Shelley und Keats es waren. Worin liegt der Unterschied? Es ist wohl kaum erforderlich, eigens darauf hinzuweisen, aber es ist einleuchtender, wenn man es an Eliot verdeutlicht. Alle Gedichte Eliots sind vollkommen, und es gibt nur sehr wenige davon. Er hat ein sehr schönes Talent, geht sehr behutsam damit um und, ja, das kann man wohl sagen, schneidet dabei recht gut ab. Andererseits ist Whitman dort, wo er Dichter ist, einer von den Großen.
Für mein Gefühl ist das vollkommenste Gedicht im Oxford Book of English Verse eines, das „Anonymus“ gezeichnet ist. Trotzdem muß ich Anonymus als einen Kleinmeister ansehen, denn wäre er einer der Großen, hätte er auch einen Namen. Das mag nach Dr. Frank Crane klingen. Aber nehmen wir einmal A.E. Housman. Da hätten wir das Musterbeispiel eines Kleinmeisters. Einmal, mit dem Shropshire Lad, glückte es ihm vollkommen, aber als er es erneut versuchte, wollte es ihm nicht mehr von der Hand gehn und die Masche zeichnete sich deutlich ab und gefährdete die Gedichte in dem ersten Band. Noch so ein Buch hätte alle früheren Gedichte erledigt. Sie erwiesen sich als unbedeutend.
Kleinmeister scheitern nicht daran, daß sie sich nicht an das Große wagen. Nur, sie haben nichts von Belang zu sagen. Sie bringen ein Kleinformat meisterhaft zustande, und diese Vollkommenheit ist bewundernswert. Ezra hat große Dichtung geschrieben.
Dies ist eine Würdigung, kein kritischer Beitrag. Sonst müßte ich hier auf der Stelle abbrechen und nach Paris fahren, um das alles mit Zitaten zu belegen. Wenn hier etwas nachgewiesen werden sollte, müßte ich schon Zitate bringen. Was für ein Glück, daß eine Würdigung nichts beweisen muß.
Also haben wir bislang Pound, den großen Dichter, der, sagen wir, ein Fünftel seiner Zeit der Dichtung widmet. Die übrige Zeit bemüht er sich darum, das materielle wie das künstlerische Los seiner Freunde zu bessern. Werden sie angegriffen, so verteidigt er sie. Er bringt sie in Zeitschriften unter und holt sie aus dem Kittchen. Er leiht ihnen Geld. Er verkauft ihre Bilder. Er veranstaltet Konzerte für sie. Er verfaßt Artikel über sie. Er macht sie mit reichen Frauen bekannt. Er bringt Verleger dazu, ihre Bücher anzunehmen. Er sitzt, wenn sie vorgeben, im Sterben zu liegen, die ganze Nacht an ihrem Bett und unterschreibt ihren letzten Willen als Zeuge. Er schießt ihnen die Krankenhauskosten vor oder redet ihnen den Selbstmord aus. Und am Ende verzichten ein paar wenige von ihnen darauf, ihm bei der erstbesten Gelegenheit ein Messer in den Rücken zu stoßen.
Zur Person: er ist groß, hat einen struppigen roten Bart, schöne Augen, trägt seltsame Haarschnitte und ist sehr scheu. Dennoch hat er das Temperament eines toro di lidia aus der Stierzucht von Don Eduardo Miura. Kein Mensch hält ihm jemals eine capa hin, kein Mensch fuchtelt mit einer muleta vor seinen Augen, gleich geht Ezra auf ihn los. Wie Don Eduardos Zuchtstiere läßt auch er zuweilen das Pferd des Pikadors ausser acht, um den Mann aus dem Sattel zu heben, und niemand tritt in der Arena gefahrlos gegen ihn an. Und obwohl sie stets mit seinen gesenkten Hörnern hätten rechnen müssen, bringt er Jahr für Jahr seine Quote Pikadores zur Strecke.
Viele Leute hassen ihn, und er spielt sehr gut Tennis. Wenn er nicht so hastig äße, würde er viel länger leben. Junge Männer, die in den Nachkriegsjahren aus Amerika, wo Pound schon eine legendäre Gestalt war, nach Paris kamen, trafen ihn dort an mit einem struppigen roten Bart, sehr umgänglich, gern Tennis und gelegentlich Fagott spielend, und gelangten alsbald zu dem Schluß, daß es mit der Legende nicht viel auf sich haben könne und er wohl doch kein großer Dichter sei.
Wie alle, die schon in sehr jungen Jahren berühmt geworden sind, erleidet er das Schicksal des Nicht-gelesen-werdens. Es ist ja viel leichter, über ein schon klassisches Werk zu reden als es zu lesen. Allerdings wächst in Amerika eine neue Generation heran, die jene ablösen wird, die entschieden hatte, Ezra könne, weil er noch munter und krakeel ist, kein großer Dichter sein, und diese Generation liest ihn. Die jungen Leute kommen jetzt nach Paris und wollen ihn kennenlernen. Aber er ist fort, nach Italien verzogen.
Da er sich um die italienische Politik nicht kümmert und gegen die italienische Küche nichts einzuwenden hat, wird er wohl eine Weile dort bleiben. Für ihn ist es gut, dort zu sein, weil seine Freunde nicht mehr so leicht an ihn herankommen und Energie für seine Arbeit übrigbleibt. Pound ist unter anderem auch Komponist und hat eine großartige Oper über Villon geschrieben. Es ist eine erstklassige Oper. Eine sehr schöne Oper.
Aber mir geht es mit Ezra und der Musik ähnlich wie mit Monsieur Constantin Brancusi und dem Kochen. Monsieur Constantin Brancusi ist ein berühmter Bildhauer, der auch ein sehr berühmter Koch ist. Kochen ist freilich eine Kunst, aber es wäre ein Jammer, wenn Monsieur Brancusi dafür seine Bildhauerei aufgäbe oder auch nur einen großen Teil seiner Zeit dem Kochen widmen würde.
Doch Ezra ist kein Kleinmeister. Mangel an Energie hat ihm niemals zu schaffen gemacht. Wenn er noch mehr Opern schreiben will, wird er es tun und noch immer Kraft übrig haben.
Da es sich hier um eine Würdigung handelt, sollte man bei Ezra noch eines hervorheben. Er ist niemals bedauernswert gewesen. Er hat seine Kämpfe mit einem sehr fröhlichen Ingrimm ausgefochten, und seine Wunden heilen rasch. Er ist nicht der Meinung, daß er auf der Welt sei, um zu leiden. Er ist kein Masochist – ein Grund mehr, warum er nicht zu den Kleinmeistern gehört.
Ernest Hemingway, This Quarter, 1925
Nicht, als ob’s andre Menschen nicht gäbe,
Doch dieser Kauz hier gefällt uns…
To-Em-Mei: „Die stillstehende Wolke“
Wir wollen keine Statuen errichten, denn Ezra Pound hat wenig Talent, als Denkmal still auf einem Sockel zu stehen. Nicht Pound, der ,Meister‘, Pound, der Mensch, geht uns hier an, das unverwechselbare, in manchem großartige, in manchem schrullige Individuum, an das das Dasein des großen Dichters gebunden.
Viele der Daten und Fakten seines erstaunlich dynamischen Lebens sind inzwischen bekanntgeworden, und aus einigen von ihnen hat sich eine Legende gewoben, die man beiseiteschieben muß, um den Mann, wie er ist, dahinter zu sehen. So stimmt es zwar, daß Pound am 30. Oktober 1885 in Hailey, im Staate Idaho, geboren wurde, doch ist es wohl wichtig hinzuzufügen, daß er dort nicht mehr als die ersten 18 Monate seines Lebens verbrachte, weil danach sein Vater, der Münzwardein Homer L. Pound, mit seiner Ehefrau Isabel, geb. Weston und entfernt mit Longfellow verwandt, nach Philadelphia, also gerade in den Europa zugewendeten Osten der Vereinigten Staaten, verzog. Eine unternehmungslustige Großtante, dieselbe „Tante Frank“, die Pound in „Cantos LXXX“ und „LXXXIV“ erwähnt, nahm ihn, und das war wohl ein wichtiges Erlebnis, als Kind von 12 Jahren zum ersten Male auf eine Reise nach Europa, bis nach Venedig, mit.
Auch von der Arbeitsstätte seines Vaters, scheint es, empfing Pound mindestens optisch sehr starke Eindrücke. Wenn sie auch nicht zu seinem späteren Interesse für das Münzwesen geführt haben müssen, sicher sind sie, als dieses Interesse von anderer Seite her stimuliert wurde, aus dem Residuum seiner Kindheitseindrücke, gleichsam als vorstellungsmäßige Bestätigung, wieder aufgetaucht, sagt doch Pound selber zurückblickend:
Jenes Schauspiel der Münzen, die hin und her geschaufelt wurden, als wären sie Abfall – die Männer, die bei der grellen Gasbeleuchtung darin gruben, nackt bis zum Gürtel – Dinge, die die Einbildungskraft trafen. (Writers at Work).
Dem Großvater Pounds, Thaddeus Coleman Pound (1833–1914), verdankte die kleine Stadt Chippewa Falls in Wisconsin ihre Eisenbahnverbindung. Er baute sie, eigensinnig gegen den Protest der Bahn und der Behörden, nachdem er, durch einen glücklichen Zufall, auf einem toten Geleis im oberen Staate New York eine Menge unbenützter Schienen gefunden hatte. Er ließ sie verfrachten und dorthin bringen, wo man sie nötig hatte, ein Beispiel jener verblüffenden praktischen Lösungen, die Pound sein Leben lang nicht müde wurde, auch für die kompliziertesten Probleme zu empfehlen, und das er mit Stolz in „Cantos XXI“ und „XXII“ zitiert. Derselbe tüchtige Ahnherr schrieb dem Präsidenten seiner Bank in Versen, und auch Pounds Großmutter führte, wie er sich erinnert, ihre Korrespondenz mit ihren Brüdern in Versen, so daß es in der Familie als selbstverständlich galt, daß „jeder sie schreiben konnte“.
Mit 15 Jahren (1901) bezog Pound, ein guter Lateinschüler und ein alles verschlingender Leser, die Universität Pennsylvania – „man nahm mich nur des Lateins wegen auf“, sagt er heute darüber –, später studierte er am Hamilton College, Clinton, N. Y. Von Anfang an ein Außenseiter, verlegte er sich ganz auf das Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und promovierte, einundzwanzigjährig, am 13. Juni 1907, darin zum Master of Arts. Gleich anschließend reiste er mit einem Forschungsauftrag der Universität Pennsylvania über Lope de Vega nach Spanien, und noch im Herbst desselben Jahres wurde er Dozent für Romanische Sprachen am Wabash College, Indiana.
Seine Laufbahn dort war stürmisch und kurz. Schon seine Erscheinung entsprach wenig dem bürgerlichen Klischee eines respektablen Professors. Wie Augenzeugen berichten, konnte es vorkommen, daß Pound nicht nur an seinem Mantel verschiedene Knöpfe, sondern auch an seinen Füßen durchaus verschiedene Schuhe trug, daß er in grellem Anzug und einem Strohhut mit fröhlich getupftem Band erschien, wenn er es nicht vorzog, sein rötlichblondes Löwenhaupt mit spitzem Bart und den grünen Luchsaugen, jeder seine Wirkung schmälernden Bedeckung bar, dem zausenden Wind und den erschrockenen Augen seiner kleinstädtischen Mitbürger und Kollegen, mit arroganter Wendung und im vollen Hochmut seiner genialen Überlegenheit, hinzuhalten. So fiel er nicht nur seiner Begabung wegen lästig, sondern galt, schon damals war das ein Argument, als „unamerikanisch“, war es im Sinne des Mittleren Westens wohl auch.
In seiner Unfähigkeit, sich wenigstens äußerlich und kompromißweise den Normen seiner Umgebung anzupassen, lieferte er selbst seinen Widersachern nur allzu bald eine günstige Gelegenheit, ihn auszubooten. Eines Abends, während ein Schneesturm raste, besorgte er noch einen Brief. Dabei griff er ein obdachloses weibliches Wesen auf, das er in seiner Wohnung übernachten ließ. Am nächsten Morgen verließ er, ohne die geringsten Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, seine Wohnung wie üblich und ging ins Kolleg. Eine entsetzte Wirtin alarmierte ein paar Stunden später die Universität und die Sittenpolizei. Pound beteuerte seine Unschuld und schwor, nur aus Nächstenliebe gehandelt zu haben, das Mädchen sagte zu seinen Gunsten aus – es half alles nichts, Pound mußte gehen. Allzu böse war er wohl deshalb nicht, denn er schiffte sich, ohne zu zögern, auf dem nächsten Viehfrachter nach Europa ein. Der Auszug des Odysseus begann.
Von Gibraltar bis Venedig ist Pound gewandert. Dem literarischen Streifzug durch die Romania folgte, nach romantischem Muster, die reale Wanderung durch die ,Provincia deserta‘ der Troubadour-Poesie. A Lume Spento, Wenn die Lichter ausgelöscht, nannte er, in Anspielung auf Dante (Purgatorio, 3, 132), und vielleicht unter dem Eindruck dieser glanzvollen Vergangenheit, seinen ersten Lyrikband, den er, drei Monate nach seiner Ankunft in Venedig, im späten Sommer 1908, veröffentlichte. Da er sich einen ungeeigneteren Ort für die Veröffentlichung seines Erstlingswerkes kaum hätte aussuchen können, blieb dessen Publikation so gut wie ohne Echo.
Erst in London, wohin er noch im Dezember 1908 verzieht und in Elkin Mathews einen mutigen Verleger findet, wird er im nächsten Frühjahr literarisch entdeckt und macht schnell Furore. Zwar lebt er kümmerlich von Abendkursen, in denen u.a. seine spätere Frau, Dorothy Shakespear, die er im April 1914 heiratet, und seine zukünftige Schwiegermutter als ,Hörer‘ sitzen, zwar stört ihn in seiner Klause in Kensington, am Fuße von Notting-Hill (Rotting-Hill von ihm genannt!), das Gebimmel der benachbarten Kirchenglocken so unerträglich, daß er dem zuständigen Pfarrer auf Latein einen Beschwerdebrief schreibt, der noch heute in der Sakristei dort zu finden ist, und er ist überhaupt, seine Freunde ausgenommen, auf die Engländer ebensowenig wie auf seine Landsleute gut zu sprechen, doch ist es schließlich in diesem London der Vorkriegsjahre des Ersten Weltkriegs, daß Pound, soweit das bei einem gleichzeitig anspruchsvollen und bis zum Bizarren nonkonformistischen Geist wie ihm möglich ist, Freunde und eine ihm aufgeschlossene literarische Gesellschaft findet, in der er rasch jenen schmalen harten Ruhm der „Jungen und Unduldsamen“ erringt, an dem ihm liegt, wenn er sich auch als „Liebhaber der Vollkommenheit“ frustriert fühlt in einem Lande, das „verliebt in Amateure“ ist.
Er lernt von den Älteren Henry James, Robert Bridges und Thomas Hardy kennen. Er ereifert sich für Browning, Swinburne und Whistler, für die Präraffaeliten und die lyrischen Puristen der neunziger Jahre. Er gewinnt Yeats zum Freunde und wird von 1913–1914 sein Sekretär, während er ,nebenamtlich‘ versucht, dem Fünfundvierzigjährigen das Fechten beizubringen. Gleichzeitig ist er aufs engste befreundet mit einem Yeats so fernstehenden Geist wie dem deutschstämmigen Ford Madox Hueffer (später Ford Madox Ford genannt), der die „natürliche“ impressionistische Sprache für die neue Prosa propagiert. Oft besucht Pound „am Nachmittag Ford und am Abend Yeats“, gerade das betrachtet er als „Training“ für sich, der „mit beiden nicht übereinstimmt“ (Writers at Work).
Mit Richard Aldington und dessen Frau, Hilda Doolittle, die nur mit ihren Initialen „H. D.“ zeichnet, kommt Pound in genau drei Grundsätzen der Poetischen Komposition überein und gründet im Frühsommer 1912 eine „Schule“, für die er später, in seinem Vorwort zum „dichterischen Gesamtwerk“ des jungen Philosophen T.E. Hulme, das aus ganzen fünf Gedichten besteht und, Pounds eigenen Ripostes angehängt, im Herbst 1912 erscheint, den Namen „Imagisten“ prägt, denn diese Dichter machen sich die Darstellung eines dichterischen Bildes, eines ,Image‘, zur besonderen Verpflichtung. Harriet Monroes neugegründete Zeitschrift Poetry in Chikago, deren Mitarbeiter Pound inzwischen geworden, veröffentlicht im März 1913 das ,theoretische Rüstzeug‘ dieser ,Schule‘: „Ein paar Faustregeln“, wie Pound sie in lakonischem Understatement nennt. Der neuen Schule schließen sich mehrere Autoren an, doch als sie durch den allzu geschäftstüchtigen Einfluß und missionarischen Eifer der vermögenden Amy Lowell, die aus den Staaten herbeireist, eigens, um den Imagismus zu fördern, zu einem autoritären „Amygismus“ popularisiert wird, sagt sich Pound von ihr los. Er hat genug anderes zu tun. Er schreibt, ediert, verfaßt Artikel, stellt Anthologien zusammen, stöbert überall nach Talenten. Für seine Landsleute Frost und William Carlos Williams setzt er sich ein, entdeckt Tagore, T.S. Eliot, James Joyce. Er schreibt über sie und verschafft ihnen Dinner-Einladungen, eine so fromme Quäkerin wie die steinreiche Miß Harriet Shaw Weaver gewinnt er für die Publikation eines so gewagten Manuskriptes wie Joyces Ulysses auf ihre Kosten, die von ihr unterhaltene Zeitschrift Der Egoist wird zum Forum der neuen Stimmen.
Durch eine Begegnung dieser Jahre wird Pound über seinen bisherigen Interessenkreis weit hinausverwiesen: nachdem sie einige Proben seiner imagistischen Lyrik gesehen und ihn auch persönlich kennengelernt hat, überträgt ihm die Witwe des 1908 verstorbenen Gelehrten Professor Ernest Fenollosa die Herausgabe des nur in Notizen vorliegenden Nachlasses ihres Mannes, der, ähnlich wie Pound, mit seinen Auffassungen „zu allen Professoren und Akademikern in Opposition“ stand. 1913 beginnt Pound seine chinesischen Studien, 1915 erscheint als deren erstes Ergebnis sein Gedichtband Cathay, nach dem alten Namen Chinas so genannt, und macht ihn, wie Eliot es treffend gesagt hat, zum „Erfinder chinesischer Lyrik für unsere Zeit“.
Inzwischen hat Pound, der ruhelose Gründer, die Bildhauer Epstein und Gaudier-Brzeska für sich entdeckt, für die Wiederentdeckung elisabethanischer Musik durch Arnold Dolmetsch sich begeistert und mit Wyndham Lewis, dem Maler, Schriftsteller und Kulturkritiker, eine neue literarische Schule gegründet: den Vortizismus. Die „vortex“, wörtlich „der Wirbel“, ist das spannungsgeladene Energiezentrum, das alles in seine Bewegung hineinreißt und so Form schafft. Als erstes Manifest dieser neuen Bewegung erscheint kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, im Juni 1914, die feuerrote Zeitschrift BLAST (mit „Windstoß“ oder „Trompetenstoß“ zu übersetzen) in London.
Die alte Welt hatte diesen „Stoß“ kaum noch nötig, sie zerfiel bald darauf unter Trommelfeuer, was danach kam, war aber keineswegs die „Neue Welt“, von der die literarischen Vorkriegsrevolutionäre geträumt hatten, sondern eine Phase der Erschlaffung und Ernüchterung, die für Pound, der den Krieg nur als unnütze Verschwendung von Blut und Geisteskraft betrachtete und ihn für einen Konflikt zwischen wahrscheinlich „zwei gleich verabscheuungswürdigen Mächten“ hielt, bald unerträglich wurde. Nach „drei Jahren in Dissonanz mit der Zeit“, siedelte er 1921 schließlich nach Paris über. Den letzten Anlaß dazu gab, so heißt es, daß er einen wegen seiner Mittelmäßigkeit ihm unerträglichen Zeitungsliteraten durch Sekundanten zum Duell fordern ließ, worauf der so Bedrohte um polizeilichen Schutz bat.
Der kosmopolitisch bunte Hintergrund der französischen Hauptstadt behagt Pound als Kulisse, und seine hohe, phantastisch gekleidete Gestalt – waren doch, nach Eliots Aussage Pounds Schuhe und Unterwäsche das einzige, was den Kleidungsstücken anderer Menschen glich – schneidet gut vor ihm ab. Für die Künstler des Quartier Latin, sowie für die amerikanische Kolonie wird er bald ein Begriff. Er macht die Bekanntschaft von Picabia und Cocteau, mit dem skurrilen Abbe Rousselot unternimmt er phonetische Experimente, von denen sich beide Erkenntnisse für den freien Vers versprechen, er lernt Brancusi kennen und erprobt sich selbst in der Bildhauerkunst. Er korrespondiert mit Remy de Gourmont und überträgt dessen Physique d’Amour, die er bei der Londoner Casanova-Gesellschaft dann publiziert. Zusammen mit Hemingway sitzt er zu Füßen der buddhahaften Gertrude Stein. Von Hemingway lernt er das Boxen. Von Paris aus bringt er im Winter 1921 T.S. Eliots Waste Land durch energische, konzentrierende Streichungen in die heute bekannte Form und arbeitet als Foreign Editor an der Little Review in Chikago mit, in der der Ulysses erscheint. Dem amerikanischen Komponisten George Antheil erlaubt er, sein neuestes Werk für Klavier und Orchester in seinem Studio zu üben, und als die Beschwerden der Nachbarschaft sie beide vor den französischen Kommissar bringen, gelingt es Pound, denselben davon zu überzeugen, daß ihr Lärm reinem Herzen entstamme und zum Ruhme der Grande Nation gereiche.
Es sind diese fünfzehn Londoner und Pariser Jahre, die das Bild Pounds geprägt haben, wie es bis heute vor aller Augen steht und in die meisten Literaturgeschichten bereits eingegangen. Es ist das Bild eines histrionischen mehr als eines schöpferischen Talentes, eines großen Beeinflussers und Einflüsse genial Verarbeitenden, dessen rapide Verwandlungen einer Kettenreaktion minderer Explosionen glich, ohne daß ein Ziel dieser Verwandlungsakrobatik abzusehen war. Daneben trat das Image eines nicht nur förderungsfreudigen sondern geradezu förderungswütigen Managers der Poesie mit einem unübersehbaren Pferdefuß illegitimer Schulmeisterei. Tatsächlich besaß Pound nicht nur die Gabe, große Talente zu entdecken, sondern auch, mediokre Geister dafür zu halten, wenn sie seiner eigenen Meinung waren oder zu sein vorgaben. „Wyndam Lewis sagte immer, ich sähe keinen Menschen“, sagt Pound heute dazu, „ich merkte nie, wie boshaft sie wären“ (Writers at Work), ein Urteil, das sich von anderen Freunden her bestätigt. So schreibt Iris Barry:
Pound faßte die Menschen oft vollkommen falsch auf, mißverstand ihre Motive, glaubte sie wären, was sie nicht waren und hätten Dinge getan, an die sie nicht einmal gedacht hatten („The Ezra Pound Period“, The American Bookman, LXXIV, 2 (Okt. 1931).
So treffend dieses Bild von Pound im einzelnen ist, so ungerecht ist es im ganzen. Nach Pounds eigenen letzten Angaben muß man die ersten Anfänge der Cantos bereits in das Jahr 1904 zurückverlegen (Writers at Work), und auch Peter Russell datiert das Gedicht „Scriptor Ignotus“, das 1912 in den Ripostes erschienen, und darin sich Pound bereits mit „jenem Vierzig-Jahre-Epos“, das „noch ungeschrieben“, beschäftigt sieht, schon auf 1906 (Ezra Pound: Essays, Einleitung). Demnach hätte Pound volle sechs Jahrzehnte, in wachsender Vereinsamung und von keiner Kritik bestätigt, an einem Werk gearbeitet, das, schon seiner Konzeption nach, in der Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts einzigartig dasteht und das er nach den schwersten Krisen zu vollenden jetzt im Begriff steht. Vor diesen Tatsachen läßt sich das Bild eines lediglich großen „Beeinflussers“ und selbstgefälligen literarischen Poseurs nicht mehr halten. Um sich, abseits vom literarischen Betrieb, diesem einen Werk ganz zu widmen, verläßt Pound, noch ehe die ersten XVI Cantos als „der Anfang eines Gedichtes von einiger Länge“ dort erschienen sind, nach einer kurzen Krankheit im frühen Sommer 1924 Paris und zieht nach Italien. Dort läßt er sich gegen Ende des Jahres in Rapallo, am Golf von Genua, endgültig nieder.
Pound kam nicht als Faschist nach Italien und hatte keine Absicht, es zu werden. Erst im November 1926 findet sich in seinen Briefen eine erste günstige Bemerkung über Mussolini persönlich (Brief an Harriet Monroe vom 30.XI.1926, Briefe). Noch im Februar 1932 ist seine Stellungnahme rein defensiv, doch wird sie gerade im Laufe des folgenden Jahres zunehmend entschiedener. In seinem ABC der Volkswirtschaft (April 1933) findet sich zum ersten Mal seine Auffassung von Mussolini als dem kongenialen Exponenten seiner eigenen volkswirtschaftlichen Ansichten, und in der Vierten Dekade der Cantos, die 1935 in London erscheint, wird zum ersten Mal jene verhängnisvolle Gleichsetzung sichtbar, die in einer Prosaschrift des gleichen Jahres ihre ausdrückliche, ausführliche Bestätigung findet:
Jefferson und/oder Mussolini.
So kommt es, obwohl Pound längst vorher die wirtschaftlichen Theorien des Major Douglas kannte – Peter Russell sagt, Pound habe Douglas bereits 1917 getroffen –, jetzt zu jener für Pound so verhängnisvollen Verknüpfung seiner wirtschaftlichen Theorien mit der Politik. Dabei ist es offensichtlich, daß seine ökonomischen Ansichten aus seinem allerpersönlichsten Unbehagen an der kapitalistischen Ordnung ihren Elan beziehen. Für ihn war der Kampf mit geschäftsbedachten Verlegern, die die Unabsetzbarkeit seiner nonkonformistischen, von keiner Mode befürworteten Erzeugnisse fürchteten, auch ein wirtschaftlicher Kampf, denn er hatte es unternommen, ausschließlich von seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu leben. „Wenn wir Douglas’ Dividende hätten, könnten wir drucken, was wir wollten, immer wenn wir es fertig hätten,“ schrieb er (Brief an E.E. Cummings, Februar 1935, Briefe), und das war im Grunde alles, was er wollte. So ließ ihn sein Antikapitalismus Mussolini schließlich ins Garn gehen, und es entbehrt nicht der tragischen Ironie, daß ein Dichter wie Pound, so hellhörig gegen die leiseste falsche Nuance im lyrischen Ton, ein so „meisterlicher Kenner der Dichtung“, wie T.S. Eliot sagt, sich als ein so „fehlbarer Beurteiler der Menschen“ erweisen sollte und den groben Schlagworten einer pseudo-idealistischen Propaganda erlag. Je mehr sich dann Pound im Laufe der folgenden Jahre mit allem Eifer des Verkannten auf die Propagierung seiner wirtschaftlichen Panazeen verlegte, desto einsamer wurde er. Seine Verehrer wurden, abgesehen von den alten Freunden Yeats und Eliot, die ihn gelegentlich in Rapallo besuchten, dessen mitternächtige Straßen er, einem minderen Dionysos gleich, unter einem Gefolge von herrenlosen Katzen durchschritt, die er fütterte, immer skurriler, bis er schließlich an jenen ehrenwerten Geistlichen, den Reverend Henry Swabey, geriet, in dessen kleiner Zeitschrift, Townsman, er bis 1941 seine ökonomischen Ansichten frisch von der Leber weg publizieren konnte.
Inzwischen war der Krieg ausgebrochen, und die Arbeit an den Cantos war nach dem Erscheinen der „Cantos LI–LXXI“ 1940 in London zur Ruhe gekommen. Im selben Jahr I940 versuchte Pound, der 1939 zum Ehrendoktor des Hamilton College ernannt worden, in die USA zurückzukehren, was ihm jedoch infolge bisher nicht geklärter bürokratischer Schwierigkeiten nicht gelang. Er war zunächst aber nicht böse darüber und setzte seine schon begonnenen Vorträge in der Stunde Amerikas: Musik und kulturelle Vorträge im Januar 1941 fort.
Während sein Sohn, Homer Shakespear Pound, der amerikanischen Armee angehörte, erklärte Pound dieser Armee, daß sie sich in einem „illegalen“ Krieg befände, angezettelt von einem Präsidenten, dessen „Geisteszustand“ für einen Mann „in so verantwortungsvollem Amt“ er für nicht „wünschenswert“ halte. Niemandem schadeten diese hektischen Anläufe mehr als ihm selber. Ihre politische Wirksamkeit blieb, trotz ihres sich überschlagenden Tones, gleich Null, denn Pound, bar jeden demagogischen Geschicks, blieb seinen Hörern weitgehend unverständlich. Seine politischen Exkurse erschienen sporadisch zwischen Vorträgen über seine verkannten literarischen Freunde, z.B. Cummings und Joyce, über Konzerte in Rapallo, zwischen Auszügen aus den Cantos und konfuzianischen Maximen, denn man hatte ihm in der Ausgestaltung dieser Sendungen völlige Freiheit gelassen, wahrscheinlich weil man fürchtete, sonst diesen eigenwilligen Intellektuellen, den man als Aushängeschild so gut gebrauchen konnte, sofort zu verlieren. Pounds Sprache bei all diesen Sendungen war zudem so seine eigene, daß die Mitschrift seiner offiziellen Abhörer in Washington, die als Mikrofilm der Library of Congress heute vorliegt, zahlreiche Lücken mit der Bemerkung „unverständlich“ und viele Fragezeichen aufweist. „Die Zuhörer… bekamen den Eindruck, daß er in einer Geheimsprache rede, die an die Sprache von James Joyce in Finnegan’s Wake erinnerte“, schreibt einer von ihnen, Paul Rosenfield (American Mercury, 58, New York (Januar, 1944)).
Die Strafe, die Pound für seine Irrtümer einstecken mußte, war bitter und ungerecht. Im April 1945 stellte er sich den einrückenden amerikanischen Truppen – man sah seinem Fang schon mit Spannung entgegen (Vgl. New Republic 109 (New York, 15. November 1943)) –, wurde in Genua verhört und dann mit Schwerverbrechern und asozialen Elementen in das Disciplinary Training Centre (DTC) der amerikanischen Armee in Pisa eingeliefert. Man sperrte diesen besonders gefährlichen Gefangenen in einen mit starken Eisenstangen gesicherten, von Stacheldraht umzogenen Käfig, der unter dem Image „Gorillakäfig“ in Pounds Lebensgeschichte eingegangen ist, in Einzelhaft. Tag und Nacht waren dort helle Scheinwerfer auf ihn gerichtet, mit einer Wolldecke schlief er auf nacktem Betonboden, Wind und Wetter war er gleichermaßen ausgesetzt wie der gelegentlichen Anwendung physischer Gewalt. Nach sechs Wochen führte diese Behandlung den geistigen und physischen Zusammenbruch des Sechzigjährigen herbei. Daraufhin gestand man ihm ein Zelt als Aufenthaltsraum zu, dort schrieb er dann, an einem aus Kisten zusammengezimmerten Tisch, die Pisaner Cantos und übertrug das einzige Buch, das ihm, außer der Bibel und dem Common Prayer Booh, zu lesen verstattet war: Konfuzius.
Am 18. November 1945 flog man Pound nach Washington, D. C., wo seit dem 26. Juli 1942 eine 19 Punkte umfassende Anklage auf Hochverrat gegen ihn eingeleitet worden war.
„In seinen grauen Flanell-Bademantel gehüllt“, schien Pound, wie die Reporter berichten, an den Verhandlungen selbst wenig Anteil zu nehmen, behauptete jedoch hartnäckig immer wieder, der ihm vorgeworfenen Verbrechen nicht schuldig zu sein. Sein Fall war der erste Fall eines Amerikaners, der des Hochverrats bezichtigt wurde aufgrund seiner über das Radio geäußerten Meinungen. „Voll Entrüstung hob er seine Arme“ (gen Himmel!) und murmelte:
Wenn Redefreiheit sich nicht auf das Radio erstreckt, in einer Epoche des Radios…! (Newsweek, Dayton/Ohio, 3. Dezember 1945).
Seine Tätigkeit im Rundfunk habe sich aus dem „selbsterteilten Auftrag“ ergeben, „die Verfassung zu retten“, behauptete er, und er habe nichts anderes versucht, als „den Menschen in Europa und Amerika zu sagen, wie sie den Krieg vermeiden konnten, indem sie die Tatsachen über das Geld lernten“. Schließlich murmelte er noch erschöpft:
Ich würde für eine Idee sterben, gut, aber für eine Idee, die ich vergessen habe, das ist zuviel! Hat einer die leiseste Idee von dem, was ich gesagt habe? (Time, New York, 10. Dezember 1945).
Tatsächlich lagen die entzifferten Stenogramme seiner Radioansprachen bei diesem Prozeß nicht vor, und es steht bis heute nicht fest, ob sie zu einem Beweis für Pounds Hochverrat gereicht hätten, es gab schon damals Stimmen, die sie weder für „wichtig“ noch für „schädlich“ für Pounds Land hielten und vorschlugen, Pound freizulassen als einen Mann, „der sich selbst bestraft“ habe. Zu dem Prozeß, bei dem die Texte der Radioansprachen hätten diskutiert werden müssen, kam es nicht, weil Pounds Pflichtverteidiger eine psychiatrische Untersuchung für seinen Mandanten beantragte und Pound, „nach der fünfstündigen Aussage von vier Psychiatern“, als Geisteskranker in das St. Elisabeth Hospital von Washington eingewiesen wurde. Der Befund der Psychiater lautete auf: „politische Unzurechnungsfähigkeit“, „Senilität“, „Paranoia“, auf „großspurig überschwengliches, schweifendes und zerstreutes Benehmen“ und bezeichnete diese Erscheinungen als die Folge einer „schon seit Jahren anomalen Geistesverfassung“, woraus sich seine politische Unzurechnungsfähigkeit bei den ihm zur Last gelegten Verbrechen ergab. Auch jetzt erhoben sich genug Stimmen gegen das Urteil, nicht, weil sie Pound den elektrischen Stuhl besteigen sehen wollten, sondern weil sie „den verschiedensten Philistern nicht die Genugtuung gönnten, einen der berühmtesten modernen Dichter für geistig unzurechnungsfähig erklärt zu sehen“ (Nation, 162 (New York, 5. Januar 1946)). Als das Wochenblatt der amerikanischen Verleger, Publishers’ Weekly (New York), am 22. Dezember 1945 (Nr. CX LVIII, p. 2693) verkündete, der bekannte Verlag Random House habe sich, über den Protest des Herausgebers Conrad Aiken hinweg, geweigert, beim Neudruck einer Anthologie aus dem Jahre 1927, zwölf Gedichte Pounds völlig unpolitischen Inhalts aufzunehmen, mit der Begründung, Pound habe „jahrelang versucht, die demokratischen Prinzipien zu zerstören, die ein wahrer Dichter verehrt“, da erhoben sich ebensoviel Stimmen für wie gegen den Dichter (142–140!) und sahen durch einen solchen Akt der Bücherverbrennung die demokratische Freiheit schlimmer gefährdet als jemals durch Ezra Pound.
Zu einer wahren „Schlacht über Ezra Pound“ aber kam es, als ihm drei Jahre später, noch in St. Elisabeth, am 23. Februar 1949, für die „beste lyrische Dichtung eines Amerikaners in diesem Jahr“ der Bollingen-Preis von 1000 Dollar durch die „Fellows of the American Library of Congress“ verliehen wurde. Zum Preisrichterausschuß gehörten u.a.: T.S. Eliot, Allen Tate, Katherine Anne Porter, Robert Penn Warren. W.H. Auden, Conrad Aiken und Carl Shapiro, der übrigens dagegen stimmte (New Republic, 121 (New York, 3. Oktober 1949)).
Die finsteren „Wolken eines neuen Faschismus und der neuen Ästhetik“, so schrieb die Saturday Review of Literature, „haben sich in diesem Preis deutlich vereinigt“ (Vol. 32. 18. Juni 1949), nichts Geringeres stecke dahinter als die „mystische und kulturelle Vorbereitung eines neuen Autoritätskultes“ (ibid) und kein anderer als T.S. Eliot sei das Haupt dieser neo-faschistischen Verschwörung! Die Diskussion zog weite Kreise, auch Dos Passos, W.C. Williams und Thornton Wilder sprachen sich in ihrem Verlauf für Pound aus. Sie endete mit einer kläglichen Niederlage der Saturday Review, die sich ihres Tatsachenmaterials nicht genügend versichert hatte. Das Ganze war eine Attacke des als Patriotismus aufgezäumten Philistertums und wurde von allen Intellektuellen bald als eine Attacke gegen den Geist und die Poesie schlechthin begriffen. Immerhin ist der Bollingen-Preis seitdem nicht wieder verliehen worden.
Es wurde wieder still um Ezra Pound, der weiter im St. Elisabeth Hospital blieb. Hemingway, der 1954 den Nobelpreis erhielt, wies darauf hin, daß Pound ihn verdient habe und es „ein gutes Jahr“ sei, „Dichter auf freien Fuß zu setzen“. Er verglich ihn mit Dante und setzte ihn so in gebührende Nachbarschaft, nämlich unter die „Major Poets“, die Dichter erster Ordnung. Seine Worte jedoch blieben ohne Wirkung. Umgeben nur von seinen nächsten Angehörigen, gelegentlich von guten alten Freunden oder Neugierigen besucht, auch wohl von Schwärmern heimgesucht, die mehr eine Bestätigung ihrer eigenen wirren Ideen suchten als einen großen Dichter trotz seiner Fehler in ihm bewunderten, blieb Pound, allen Protesten zum Trotz, noch vier weitere, insgesamt 12 Jahre in St. Elisabeth, ehe endlich, wohl um der allgemeinen Verlegenheit ein Ende zu bereiten, seine Akte wieder geöffnet wurde. Am 18. April 1958 schloß sie sich dann endgültig. Als „nicht geheilt“ aber auch „nicht gemeingefährlich“ wurde Pound entlassen. „Lachend“, so wird berichtet, „verließ er mit seiner Frau den Gerichtssaal“ (Der Spiegel, Hamburg, 7. Mai 1958). Am 22. Juli 1958 traf er in Italien, seiner Wahlheimat, wieder ein. „Ich wüßte nicht, wie es ein vernünftiger Mensch außerhalb eines Irrenhauses in den USA aushalten könnte“, antwortete er verblüfften Reportern in einem ersten Interview in Neapel. Seitdem lebt er, mit gelegentlichen Abstechern nach Venedig und Rom, wo ihn Van Wyck Brooks im März 1963 zuletzt ausführlich interviewte, im Dorf Tirol bei Meran, bei seiner Tochter Mary und seinem Schwiegersohn, dem Ägyptologen Prinz Boris von Rachewiltz, auf der Brunnenburg, dem Castel Fontana. Er arbeitet an der Vollendung der Cantos, von denen zwei neue Dekaden inzwischen erschienen sind, so daß das große Gedicht nun vor seinem Abschluß steht. Man könnte ihn ein Genie des Überlebens nennen, diesen ,großen alten Mann‘ der modernen amerikanischen Dichtung, denn es ist ihm gelungen, alle seine Widersprüche und Irrtümer zu überleben, ohne daß ein Schatten auf seine persönliche Integrität gefallen. „Und wenn irgendein Mensch, ein einzelner Mensch, behaupten kann“, so darf Pound furchtlos sagen, „daß er von mir wegen seiner Rasse, seines Glaubens oder seiner Hautfarbe schlecht behandelt worden ist, so möge er heraustreten und es mit allen Einzelheiten bekanntgeben.“ (Writers at Work) Einmal lief eine Meldung durch die Presse, er wolle nicht mehr schreiben, und dann das erschütternde Bekenntnis eines alten Mannes: „Ich habe mich immer geirrt“ (Time, 12. April 1963), doch Pound hat weitergeschrieben, und es scheint, daß jetzt endlich, nachdem Pound der Mensch so lange die Sicht auf Pound den Dichter versperrt hat, der Blick auf den Dichter gerechter wird.
Im September 1963 wurde Pound der angesehene Dichterpreis der Amerikanischen Akademie für „distinguished poetic achievement“, „ausgezeichnete dichterische Leistung“ verliehen. (Time, 13. September 1963). Seitdem ist Pounds Meinung über sein Vaterland weniger hart. „Ich war bewegt und überrascht und bin es noch“, sagte er, als er von dieser Auszeichnung erfuhr, und gleich danach, in ungebrochener Unternehmungslust:
Wenn es mir gut geht… wenn das Wetter gut ist… werde ich, glaube ich, eine Reise in die U. S. machen…
Es ist erfreulich, daß sich dieses Mal bei der Verleihung eines Preises an Ezra Pound kein einziger Protest erhob.
Lore Lenberg, aus Lore Lenberg: Rosen aus Feilstaub, Limes Verlag, 1966
Keiner der noch Lebenden seiner Generation ist uns so entrückt wie Ezra Pound: nicht Pablo Picasso, nicht Igor Strawinsky. Nicht nur, weil er zurückgezogen, weltabgewandt, in tiefer Verfinsterung, wechselnd an verschiedenen Orten Italiens lebt – Rapallo, Venedig, Meran, Rom –, schwer erreichbar auch den Freunden; nicht nur, weil er seit langem nichts mehr publiziert hat und wohl nie mehr publizieren wird; sondern auch, weil alles, was in den letzten Jahren an Nachrichten von ihm zu uns gelangt ist, wie eine Zurücknahme klingt, ein Infragestellen, ein großer Zweifel an allem, was er getan, was er geschrieben, was er gedacht hat.
„Und warum sie fehlgehen, / da ihr Sinn nach Richtigkeit steht“, artikuliert er diese Frage im Fragment des letzten, nun CXVI. seiner Cantos, indem er sich in der Situation des Herakles sieht, der, nachdem er übermenschliche Taten vollbracht hat, schließlich erkennt, daß er im Wahnsinn die eigenen Kinder erschlug. Ezra Pound sieht sich selbst, sieht sein Werk in allem als gescheitert an.
In einem Interview, das vor Jahren in einer Schweizer Zeitschrift erschien, hieß es: „Ich habe immer geirrt“. So streitbar er war, so leidenschaftlich er provozierte, so grimmig er für seine Ideale focht, sich in seinem Zorn auf die Welt des Kapitalismus bei aller anfänglichen Faszination durch Marx und Lenin schließlich mit den falschen Freunden einließ – sowenig beharrte er am Ende seines Lebens, vollständig resignierend, auf den Ansichten, die ihn in die Irre geführt hatten. Er kehrte damit zu Gedichten zurück, die er in frühester Jugend geschrieben hatte und in denen er die späte Vereinsamung und Verzweiflung, allerdings noch mit unüberhörbarem Stolz, vorgenommen hatte:
Seht mich: so knorrig wie ein Eichenstamm,
Dien’ ich zum Hohn meines Leides Starrheit
Keiner hat hier von meinem Ruhm gehört:
Keiner gleich mir gewagt so hohes Spiel…
Seht mich an, der dem Hohn zum Ziele dient:
Ich spotte Eurer bei der Glut, die mich verzehrt
Zu dieser Asche hier
Sechzig Jahre nach diesen frühen Versen, wirklich ausgebrannt, berührt ihn der Hohn nicht mehr, wie er selbst seiner Feinde nicht mehr zu spotten vermag. Nein, Ezra Pound ist kein Mann, der recht behalten haben möchte. Er spricht vom Scheitern, vom endgültigen Scheitern, ohne jede Eitelkeit: von seinen Fehlern, seinen Irrtümern, vom Scheitern des Tuns und vom Scheitern der Worte, von der Vergeblichkeit menschlicher Unternehmungen überhaupt.
Er, der immer darauf bestand, „getan zu haben, sei besser, als nicht getan zu haben, als nicht gewagt zu haben“, zweifelt nun selbst an diesem Kern seiner aktivistischen, konfuzianischen, immer aufs Diesseits gerichteten Lebensüberzeugung. Eine Stimme, die schon von Drüben zu kommen scheint. Ja, er nimmt für sich nicht einmal in Anspruch, was er für seinen Renaissance-Helden Sigismondo Malatesta, den Herrn von Rimini – den Piero della Francesca gemalt hat –, konstatiert hat, daß nämlich er etwas vollbracht haben könnte, das dauern könne, etwas, das alle Fehler, Mißgriffe und Irrtümer aufwiege und zugleich mehr zähle als die vielgerühmten Siege seines Jahrhunderts.
Um Ezra Pound ist es in den letzten Jahren stiller geworden, keine Extravaganzen geben zu polemischen Glossen Anlaß, keine Gerüchte fachen mehr die Tagesdiskussion an. Doch ist der Streit um ihn noch in so lebendiger und schmerzhafter Erinnerung, seine Person noch nicht vom anekdotischen Detail zu trennen, sein Werk – trotz der mustergültigen Übersetzungen und Interpretationen von Eva Hesse – bei uns noch lange nicht hinreichend rezipiert, daß dies die Stunde der gültigen, umfassenden Bilanz sein könnte.
Nein: die Stunde gehört der einzelnen Untersuchung, ihr gelten alle Publikationen über Pound, die in den letzten Jahren so zahlreich erschienen. Eine Auswahl aus den Gedichten Der Revolution ins Lesebuch stellt geschickt linke, pazifistische, antikapitalistische und antiamerikanische Passagen aus den Cantos zusammen und zeigt den revolutionären Gestus Pounds vor allem aus den Jahren 1909 bis 1934; Pound und Browning, Pound und Frobenius, Pounds chinesische Denkstrukturen, Pound der Historiker, Pound und das Licht der Aufklärung, Pound und die homerische Tradition heißen etwa einige Titel von Aufsätzen, die Eva Hesse in dem Band 22 Versuche über einen Dichter gesammelt hat; Rosen aus Feilstaub nannte Lore Lenberg ihre Studien zu den Cantos – vor allem den Pisan Cantos von Ezra Pound.
Sehr viele andere weitere Aspekte ließen sich den genannten hinzufügen – Aspekte, die etwa den Einfluß Pounds auf die junge amerikanische Dichtergeneration erhellen oder die Quellen seines politischen und wirtschaftspolitischen Weltbildes; auch seine Beziehungen zur Musik, der absolute Rhythmus und die fugenhafte Grundstruktur der Cantos, sein Verhältnis zur bildenden Kunst – all dies wären ergiebige Themen: sein Verhältnis zu Whistler, sein Einsatz für den Bildhauer Henri Gaudier-Brzeska, seine Freundschaft mit Wyndham Lewis, vielfache Parallelen zum Werk Picassos, Legérs oder Mark Tobeys, die Faszination, die er auf jüngere Künstler wie R.B. Kitaj ausübte, die von ihm zu einer Assoziationstechnik, welche scheinbar sehr entfernte visuelle Tatbestände verknüpft, angeregt wurden.
Er selbst aber scheint nichts anderes mehr zu suchen als die Ruhe, das Auslöschen in einer Anonymität, die keine Grenzen kennt. Er zweifelt am Sinn, von allem was er geschrieben und getan hat. Nur die Hilfe, die er seinen berühmt gewordenen Freunden gewähren konnte, war vielleicht nicht ganz vergeblich. Es ist nicht mehr die List Odysseus, der sich verstellt, um Polyphem zu täuschen, wenn er in den späten Cantos sagt: Ich bin Niemand. Mein Name ist Niemand.
Wieland Schmidt, Stuttgarter Zeitung, 31.10.1970
Ein erschreckendes Foto aus den letzten Jahren: ein Geburtstag in Venedig. Da sitzt der alte Mann, unverkennbar „Old Ez“, hineingesunken in den großen Korbsessel, und betrachtet unter dichten weißen Augenbrauen widerwillig – abwehrend, nicht abwesend – die halbgefüllten Whisky-Gläser, die eifrigen Hände von allen Seiten prostend ins Bild strecken, ein drohendes Happy-End, unwillkommene Glückwünsche an einen, dem auch das verdunkelte Rampenlicht zu hell geworden war.
Es ist eine wahrhaft furchtbare Aufnahme. Man muß den Widerwillen im zusammengekniffenen Mund sehen, die Abwehr in seinem Blick Ohnmacht und Wut sprechen aus ihm, die ungeheure Anstrengung, dies alles zu ertragen. Vor diesem Blick werden die ihm entgegengestreckten Hände zu drohenden Folterwerkzeugen, die ihn mit Gläsern attackieren. Seine Augen sagen: es gibt nichts zu feiern, warum tut ihr das alles, warum laßt ihr mich nicht allein?
Freunde haben viel mit ihm angestellt in diesen letzten anderhalb Jahrzehnten in Italien, ihn an die Orte geführt, die in seinen Pisan Cantos aufgerufen werden, nach Siena und Florenz, zum Festival zweier Welten in Spoleto, die beide nicht mehr seine waren. Da steht er in Wintermantel und Pelzmütze vor Santa Maria della Salute oder am Grabe von Joyce in Zürich oder am Strand von Rapallo unterhalb Sant’Ambrogio, ein Monument vor Monumenten, und hat mit all dem um ihn herum so wenig zu tun wie mit der Topographie seiner Gedichte.
Alle Rollen waren ihm schwer geworden, auch die, das Alltägliche und Selbstverständliche zu spielen, den Umgang mit der Familie, mit allen, die noch etwas von ihm erwarteten. Am schwersten aber war es ihm, Worte zusammenzufügen zu Sätzen. Man muß erlebt haben, wie qualvoll er die Worte herauspreßte, um zu wissen, was das heißt: Verstummen. Pound flüsterte schließlich mehr, als daß er sprach – doch wenn es gelang, akustisch aufzufassen, was er sagte, dann fand man oft ein Maß an Bedeutung hineingelegt, das es wiederum schwer machte, ihm ganz zu folgen. Nicht immer kamen solche Antworten spontan: Hatte das Fernsehen sich angesagt, so schrieb sich Pound seinen Part in großen Buchstaben auf, um das durchzustehen.
So sehr ihm die Rolle des Lebenden zur Qual wurde – er suchte nicht das Vergessen und die Anonymität des Unbeschriebenen und Nichtgelebten. Was er, 1958 mit dreiundsiebzig Jahren aus St. Elizabeth’s Hospital nach dreizehn jähriger Internierung als „unheilbar, aber harmlos“ entlassen, in dieser letzten Periode seines Daseins durchmachte, war die äußerste Erfahrung des Alters, die des Scheiterns und Verstummens, oder genauer, schon im Perfektum: das Gescheitertsein und die Wortlosigkeit.
Aus den wenigen Interviews, die ihm noch abgetrotzt wurden, tönt dieser eine Refrain. Ich habe geirrt, ich bin gescheitert, ich weiß, daß ich nichts weiß… Zu spät, viel zu spät sei er in Zweifel gestürzt, zu spät zur allergrößten Ungewißheit gelangt, zu spät sich der Irrtümer und fragwürdigen Sicherheit seiner Standpunkte bewußt geworden. Zu spät – denn nun bedeuteten die Worte nichts mehr. Das Leben ergab keinen Sinn, und sein Rest war Schweigen.
Pound beharrte in der Erniedrigung und Verkennung, tat nichts, sich zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, die guten Absichten und die verfehlten Wege zu erklären. Sein eigenes Werk erschien ihm als Fehlschlag, seine Überzeugungen falsch, seine Dichtung mißlungen oder wirkungslos (und darum mißlungen), die Aufgabe nicht gelöst. „… es fügt sich nicht ein“, heißt es in einem der letzte Cantos. „Und warum sie fehlgehen, da doch ihr Sinn nach Richtigkeit steht…“ – diese Frage quälte ihn über die Verwicklungen des eigenen Schicksals hinaus.
Dieses war ihm gleichgültig geworden. „Nur selten noch bin ich wirklich wach“, hatte er schon 1959 in der Brunnenburg bei Meran im Gespräch gesagt, wo er bei seinem Schwiegersohn, dem Ägyptologen Boris de Rachewiltz, nachmittags Familie und Freunde versammelte, um die Cantos zu lesen, wie Priester ihre Litaneien intonieren. Damals dachte er noch daran, gelegentlich einen größeren Kreis zu Diskussionen zu laden, aber die Kommunikation erwies sich ihm, melancholisch zwischen Apathie und Verzweiflung, als immer schwieriger und beinahe unmöglich.
War es die letzte Rolle, die er spielte, die letzte Maske, unter der er erschien? Vielleicht. Aber er tat sie nicht mehr ab, und sie wurde sein wahres Gesicht.
Gescheitert war er ja schon 1933, als er ein einziges Mal zu Mussolini vordrang, diesem Operettendikator und verkrachten Intellektuellen, als den ihn Giorgio de Chirico beschrieben hat. Pound wollte ihm helfen, die ökonomischen Ideen des Faschismus zu kanalisieren. Sie redeten aneinder vorbei: Pound von Wirtschaft, Mussolini von Poesie.
Gescheitert war er schon 1939, als er nach Washington fuhr, in der wahnwitzigen Hoffnung, Präsident Roosevelt sprechen und der amerikanischen Politik eine friedliche Wendung geben zu können. Er kam nur bis zu ein paar Unterstaatssekretären und Senatoren, Roosevelt empfing ihn nicht, auf seine wirr anmutenden Ideen ging keiner ein. Mussolini hatte ihn wenigstens angehört.
Gescheitert war er, als er auf seine ökonomisch-sozialen Rundbriefe an die Chefs europäischer Regierungen kein Echo erhielt und sich ihm die Reden über Radio Rom als die letzte Chance anboten, doch noch Gehör zu finden.
Hat er wirklich an sie geglaubt? Da erscholl, schrill, eifernd und maßlos, die Stimme eines Mannes, der, von der Gerechtigkeit seiner Sache durchdrungen, doch weiß, daß es zu spät ist, daß er zu tauben Ohren spricht. Die Faschisten ließen den „Spinner“ gewähren, der gegen Krieg und Kapitalismus, Imperialismus und Zionismus, gegen ihre Verflechtungen und gegen ihre Repräsentanten in einem sich degeneriert darstellenden Amerika wetterte; von seiner Nützlichkeit waren sie nicht recht überzeugt, und was er wirklich wollte, verstanden sie schon gar nicht. Hätte ihn damals überhaupt jemand verstehen können?
Gescheitert war er, als er 1945 – seine ersehnte Repatriierung drei Jahre zuvor hatte das amerikanische Konsulat in Genua verweigert – von der amerikanischen Armee verhaftet und buchstäblich in Ketten gelegt, vier Wochen in einem jämmerlichen eisernen Käfig im Straflager von Pisa gefangen gehalten wurde, der Hitze, der Unbill des Wetters ausgesetzt, bis er physisch und psychisch zusammenbrach und man ihn nach einem Lazarettaufenthalt in amerikanische Kerker überführte. Als einziger Besitz war ihm ein Buch des Konfuzius geblieben.
Damals schon war er gescheitert, der in die Zeit hatte wirken wollen für ein vernünftiges tätiges diesseitiges Leben, und spätestens im Camp von Pisa muß es ihm ganz bewußt geworden sein. Noch aber wurde das Scheitern aufgewogen von der Hoffnung auf die Stimme des Werkes; noch ließ sich den römischen Reden das Geschichtsbewußtsein der Cantos entgegenhalten, deren schwer entzifferbare Botschaft jene in krasser Verzerrung widerspiegelten, die Konstellationen von Andeutungen ins Überdeutliche entstellend. Noch ließ sich die Erfahrung der Isolierung, des Ausgesetzseins und der Sprachlosigkeit – es war auch den Wachen im Camp verboten, mit Pound ein Wort zu wechseln fassen und ins Werk übersetzen. Erbarmungslos auf das Hier und Jetzt verwiesen, wuchs ihm eine Fülle konkreter Bezüge zu, die Maske des „Old Ez“ trat leibhaftig in die Cantos ein. In Fragmenten offenbarte sich ihm die Natur, in einem Eukalyptuszweig und den Erinnerungen, die er herbeirief, in einem Grashalm zwischen Betonplatten, in den Wolken, die nur bis Lucca zogen und die erbarmungslose Sonne von Pisa nicht milderten; da gaben sich ihm so große und abstrakte Begriffe wie etwa „Humanität“ im Kleinsten und Greifbarsten zu erkennen, in der Geste eines Negersoldaten, der sich über Verbote hinwegsetzte und ihm Schreibzeug zuschob.
In der Zeit der Verfolgung blieb ihm trotz aller Schikanen – in St. Elizabeth war er mehr als zwei Jahre mit Tobsüchtigen zusammen in der Abteilung für „gewalttätige Geistesgestörte“ eingesperrt und gegen alle Widrigkeit die Stimme und die Hoffnung, sich noch von diesem untersten und makabren Forum aus vernehmbar zu machen; die Entlassung erst stieß ihn ins Nichts und in die schmerzhafte Einsicht vollkommener Vergeblichkeit. Sie nahm ihm, was er am meisten brauchte: das Gefühl des Widerstands der Welt. An ihm hatte er noch sich aufzurichten vermocht, er war sein letzter Halt gewesen.
Pounds Ethos war das eines tätigen schöpferischen Lebens, an dem prinzipiell jeder partizipieren kann und soll; die verlorene Sensibilität für eine solche vita activa in einer noch über konfuzianischen (oder faustischen) Geist hinausgehenden Fülle zu wecken – dem galt seine dichterische und polemische Anstrengung. Schlimmer als fehlzugehen und zu irren erschien ihm bis zuletzt: zu zögern, „nicht getan zu haben, statt getan zu haben“, erschien ihm vor allem der „Kleinmut, der nichts wagte“.
Der Wagemut, in Neuland – in ein neues Paradiso oder in ein neues Purgatorium – vorzudringen, mußte gedeckt sein durch die Wahrhaftigkeit des Berichts, durch die niemals harmonisierte Aussage. Alles beruhte in der Welt Pounds darauf, daß die Werte sich deckten, daß die Währung stimmte; daß die Worte gedeckt waren durch die Realität, wie das Geld gedeckt sein muß durch Ware und Leistung.
So erschien ihm als das größte Übel die usura, die Zinslast, der Wucher, das schlechthin Nicht-Gedeckte und durch nichts zu Rechtfertigende. Usura ist das Prinzip des Bösen in den Cantos. Usura erstickt die Tat im Keim und zerstört die Liebe, sie ist die Selbstvermehrung des Kapitals in den Händen des untätigen Wucherers, die „Plusmacherei“, wie Marx sie nannte, das wie eine Krebsgeschwulst wachsende Geldvolumen, das hemmungslose Konsumdenken. Marx, mit dem Pound in überraschenden Details, Beobachtungen und Verurteilungen übereinstimmte – ohne ihn je ganz zu akzeptieren –, machte er zum Vorwurf, er habe zu wenig über die Funktion des Geldes nachgedacht. In Major C.H. Douglas’ Lehre vom Sozialkredit, in Silvio Gesells These von der Verstaatlichung des Geldes meinte er die über Marx’ Kapital hinausweisenden Gedanken zu finden. Das Geldvolumen durfte nicht krankhaft wachsen und auswuchern, es sollte vielmehr von der Schrumpfung bedroht und so im Umlauf gehalten werden.
Die Schwundgeldtheorie von Silvio Gesell, dem „Finanzminister“ der Münchener Räteregierung mit Gustav Landauer im April 1919, die dann eine kurze Zeitlang im tirolischen Wörgl erfolgreich praktiziert wurde, schien ihm den richtigen Weg zu weisen, usura an der Wurzel zu packen und zu vernichten. Ein Teil der Hoffnung, die Pound 1945 auf Attlee und die Labour Party setzte, beruhte darauf, daß nun „die Bank dem Volk gehören mag“.
Jetzt, da Pound tot ist, sollten wir nicht mehr fragen, welche der vielen Masken seines Lebens die gültige war und an welche wir uns zu halten haben: Es gilt jetzt, die Funktion zu sehen, die die Maske für ihn besaß, und die Summe aller Rollen zu ziehen.
Von Anfang an war es Pound klar, daß ein Dichter, der nur sich selber ausdrücken will, nicht sehr weit kommen kann. In einem erklärenden Text über seinen frühen Gedichtband Personae (Masken, 1909) schrieb er: „Auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach echter Selbstverwirklichung tappt man umher, stößt auf scheinbare Wahrheit. Man sagt: ,Ich bin dies oder jenes’ und hört auf, es zu sein, ehe noch die Worte verhallt sind. Diese Suche nach dem Wesen begann ich mit meinem: Buch ,Personae‘ genannt, indem ich gleichsam mit jedem Gedicht eine fertige Maske des Selbst abtat.“
Er selber war in seinen Masken nicht zu fassen: Er spricht durch sie in seinen großen Augenblicken als ein immer anderer, um sich dann wieder zu entziehen, so wie sich die Schatten ihm entziehen: „… wie die Seelen großer Männer / zuweilen durch uns ziehen,… so bin ich Dante eine Zeitlang, bin / einer namens Villon… dies einen Augenblick, und dann erlischt die Flamme.“
In den Cantos nimmt Pound, gerade wenn er Persönlichstes sagen will, das Zitat als Maske auf. Zur stetig wiederkehrenden Maske aber wird ihm Odysseus: In seiner Figur hat er die Persona der Cantos gefunden, sie geleitet ihn wie Vergil den Dante. Noch glaubt er an ein Ithaka am Ende aller Irrfahrten. Im listenreichen und wandlungsfähigen Odysseus, der sich, um den blinden Zyklopen zu täuschen, OY TIS nennt, „Niemand“, findet er sich selbst, um sich zu verlieren: „,TIS, OTIS“, heißt es in den Pisan Cantos: „Mein Name ist niemand.“ Eine allerletzte und schmerzlichste Maske hat er dieser noch angefügt, die des Herakles, der, nachdem er übermenschliche Taten vollbracht hat, schließlich erkennt, daß er im Wahnsinn die eigenen Kinder erschlug.
Es wird nicht leicht sein, endgültig Bilanz zu ziehen über dieses Leben, diesen Mann, dieses Werk. So einfach ist es nicht, daß wir hier Plus und Minus, Aktiva und Passiva unter dem Strich gegeneinander aufrechnen könnten – den großen Dichter gegen den dilettantischen Politiker, den immer hilfsbereiten und selbstlosen Menschen gegen ein starrsinnig gelebtes Leben. Wir können nicht die Faszination durch Lenin gegen die durch Mussolini aufrechnen, nicht die Nähe zu Marx gegen die Neigung zum Mythos, nicht die Augenblicke höchster Wahrheit und Luzidität gegen die furchtbare Verfinsterung, nicht die Schuld gegen die Sühne. So einfach ist es nicht.
Was den Fall Pound so außerordentlich macht, ist nicht bloß die Schlüsselrolle für die Literatur unseres Jahrhunderts, die vielschillernde Persönlichkeit und das mit der Zeitgeschichte aufs abenteuerlichste verbundene Leben. Es ist mehr: Es ist die Konsequenz, in der in diesem Werk aus dem Bewußtsein der Wichtigkeit ökonomischer Verhältnisse für die Praxis unseres Lebens Kunst und Wirklichkeit aneinander gemessen und miteinander verknüpft wurden. Es ist der Ernst, mit dem hier Poesie nach ihrer Wahrheit und nach ihrer Wirksamkeit beurteilt wurde. Es ist der Zwiespalt, in den dieses Werk vor einer komplexen Realität immer mehr geriet, zwischen poetischer Vision und politischer Erkenntnis, zwischen künstlerischem Ausdruck und gesellschaftlich-wirtschaftlichem Zusammenhang, zwischen Wahrheit und Wirksamkeit, zwischen Avantgarde und Veränderung der Basis. Und es ist schließlich das Exemplarische, mit dem diese Konflikte bis ans Ende ausgetragen und mit dem dieses Leben bis an die Grenze des Verstummens gelebt wurde.
Pound wird uns noch lange zu denken geben.
Wieland Schmidt, Die Zeit, 10.11.1972
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Wir haben die paradoxe Entwicklung aufgezeigt, die von einer anfänglich rein ästhetischen Einstellung zur gesellschaftlichen Verantwortung des Dichters führte, woraus dann wiederum die Auffassung von seiner Funktion als vates, als Seher und Künder der Wahrheit, erstand. Pound übernimmt damit halb unbewußt eine archaische und magische Rolle, die diesem erklärtermaßen der ratio verschworenen Dichter seltsam genug zu Gesicht steht. Aber Pounds Bestreben, das prosaische, aufgesplitterte, abstrakte Bewußtsein der Gegenwart durch seine Cantos in einer integralen Sensibilität zu erden und so die „große Ausheilung“ („Canto XCI“) zu bewirken, seine religo, die Rückwendung und Rückführung zu den Ursprüngen, darf sich nicht nur auf die mystischen Erfahrungen und Zeugnisse anderer stützen, sie erfordert in den Augen dieses Gerechten die subjektive Deckung der eigenen Erfahrung, den periplus.
Wohl infolge von Pounds Scheu, diese Dinge erörtert zu sehen, ist die Kritik auf diese Schicht der Cantos, in der Pound zugleich Autor, Akteur und Zuschauer ist, noch kaum aufmerksam geworden. Der Dichter wechselt als Versuchsperson auf die Nachtseiten der Seele hinüber und durchmißt jene Regionen unter dem Meer und unter der Erde, die im Motivgeflecht der Cantos einen so großen Raum einnehmen. Dabei setzt er sich seelischen Gefahren aus, die die Freudsche Psychoanalyse zwar nicht kennt, die aber offenbar genauso gut zur geistigen Verdüsterung führen können wie die anerkannteren Komplexe. Pound ist ein Mann, für den – in mehr als einer Hinsicht – „die Sonne niederging“ wie er in Pisa („Canto LXXIV“) schrieb.
Seltsamerweise entspricht gerade dieser mythologische Einsatz seiner Person jenem „amerikanischen Grundton“, den er zuerst an Whitman ausmachte und der darin besteht, daß der Dichter „sich anheischig macht, in seiner Kunst nichts zu unternehmen, wofür er nicht mit seiner Person einsteht: ,Camerado, dies ist kein Buch / Wer dies berührt / berührt einen Mann‘ [Whitman]. Der Künstler ist bereit, für seine Person Belastungen auf sich zu nehmen, die sein Schaffen fast zunichte machen könnten“ (Pound, Patria Mia). Das dürfte für Pounds rationale Arbeit an den Cantos ebensowohl wie für das irrationale, stellvertretende Werk gelten, das er in eigener Person auf sich nimmt, worin de Rachewiltz die „Palingenese“, also die alchimistische Wiedergeburt und Wiedererneuerung, erkennt. Die Bedeutsamkeit des existentiellen Abenteuers des Einzelnen für das kollektive Wohl ist dem modernen Denken, das sich auf kleinster Wohnfläche eingerichtet hat, nicht mehr unmittelbar einsichtig (wobei man die einschlägigen Überlegungen von C.G. Jung vielleicht ausnehmen sollte). Voraussetzung ist die uralte Intuition vor der spiegelbildlichen Zusammengehörigkeit (der „Blattgegenständigkeit“ sagt Pound) von Makro- und Mikrokosmos, aus der nachweislich jeder frühgeschichtliche architektonische Kanon entstanden ist. Auf dem Gebiet des Wortes finden wir diese Intuition bei Platon ausgesprochen in der Vorstellung, daß die ganze Welt der menschlichen Seele bildhaft eingeboren sei, und bei Aristoteles (De anima, III, 5). Die mikrokosmischen Entsprechungen des Universums sind demnach eine antike Vorstellung, aber sie setzen sich durch alle Zeiten fort und finden in vielerlei Gestalt Ausdruck, etwa im Mittelalter in den Lichtentsprechungen der mystischen Philosophie, oder in der Lehre von den göttlichen Signaturen in den natürlichen Gegenständen, die Chiffren für ein System von Entsprechungen sind oder in der Neuzeit bei Goethe in der Überzeugung, daß „etwas unbekanntes Gesetzliches im Subjekt“, dem „unbekannten Gesetzlichen im Objekt“, entspricht, oder bei den deutschen Romantikern, in dem Glauben an das Walten von geheimnisvollen „Sympathien“ zwischen den Erscheinungen, die nur der Künstler wahrnehmen kann; noch Baudelaire spricht von einer „analogie unverselle“.
Doch selbst wenn man diese menschlichen Weisheiten aus der Zeitentiefe als Aberglauben oder Beziehungswahn aus seinem Denken ausspart, bleibt hinsichtlich des seelischen Wagnisses von Pound ein Wert (der wesentliche) bestehen, denn:
der künstlerische Nachweis des Menschen ist nicht der Nachweis der objektiven, theoretischen Schichten in ihm, sondern der seines Wollens und Fühlens… Darin liegt das Überzeugende der Kunst, daß ihr Nachweis ein Nachweis motorischer Kräfte ist (Patria Mia).
Hier wird deutlich, daß Pound als Dichter nicht auf die „Vorstellung“ (im Schopenhauerschen Sinne) aus war, sondern auf das Wort als Sprachrohr des „Willens“, als Zugang zum verschütteten Leben. Wenn um die Jahrhundertwende der Umgang mit dem Symbol u.a. von einer Spätzündung der Schopenhauerschen Definition der „Vorstellung“ als ästhetische Gegenbewegung des Geistes gegen den „Willen“, des Lebens bestimmt war (man erinnert sich der Formel Vaihingers vom Schicksal des Denkens als eines „Als-ob“), so mußte der Symbolgebrauch der Symbolisten zu einer radikalen Abtrennung der Kunst vom Leben, zu einer Sprache subjektiver Gleichnisse werden. Diese Symbole waren Begriffe des Scheins, mit denen sich der Dichter gegen die Banalität des Bürgerlichen eine höhere Welt zu errichten suchte. Im Ursinn des Wortes aber sind Symbole nicht als abstrakte Begriffe, von der Nabelschnur zum Sein losgelöst, sondern Sinnerscheinungen, die dem Einzelnen von der Welt vermittelt werden. Pound durchlief die entscheidende Entwicklung zum Ideogramm nur, weil er die Gleichnisse nicht als Vergleiche, sondern als Entsprechungen im Sein („objektive Korrelate“, wie es Eliot nennt) sah. Aus diesem Absetzen des „Es-ist“ von jeglichem „Es-bedeutet“ erkennen wir, daß für das Ich des Dichters die Dinge die Wörter des Universums sind; liest man sie ab, so setzt der Canto des Dialogs zwischen dem Subjekt und dem anderen Sein ein. Nun findet das Symbol seinen Sammelort im Subjekt, das Gegensätzliche der Realität fällt dem Dichter in einer coincidentia (sym-bolon heißt ja Zusammen-Fall) in eins, Wille und Vorstellung vermählen sich im Eros des Dichters: „in coitu inluminatio“ („Canto LXXIV“). Insofern bedeutet für Pound, wenn er die symbolistische Willkür als Ästhetenspielerei ablehnt, das Symbol keinen kunstreich „erfundenen“ Einfall, sondern den eigentlichen Stoffwechsel des Lebens zwischen Ich und Nicht-Ich, den erfüllten Augenblick, das Feuer, in dem die Zeit verbrennt. Ein solches Erlebnis der großen Synthese finden wir ganz unmittelbar dargestellt in dem Moment da Herakles in den Frauen von Trachis die Maske der „göttlichen Agonie“ abwirft, als ihn die ästhetische und philosophische Erleuchtung durchfährt:
Wenn man’s so sieht, mein Junge, welch ein
GLANZ! ES FÜGT SICH ALLES EIN
Dies ist geradezu das archetypische Erlebnis des Erkennens im Subjekt. Der Sog des subjektiven Erregtseins, des Wahnsinns in diesem Falle, klärt sich vor dem Tremendum ab: der Einsicht, daß die göttlichen Maße im Geiste des Menschen Entsprechungen haben, die den Kontakt zwischen Unterbewußtem und Überbewußtem erlauben.
Eva Hesse
Immer wieder begegnet man in Ezra Pounds kritischer Prosa Bemerkungen, die auf eine pauschale Ablehnung der Symbolik in der Dichtung zugunsten des image, des image-in-der-Bewegung oder des Ideogramms, hinauszulaufen scheinen. Es ließe sich jedoch zeigen, daß sich diese Ablehnung nur gegen die Anwendung von Symbolen „mit zugeordnetem oder absichtlichem Sinn“ richtet, während er den „Symbolismus im tieferen Sinne“ als: „den Glauben an eine Art fortdauernde Metapher“ („Vorticism“) definiert und des weiteren bezeichnenderweise ausführt:
Es ist nicht unbedingt ein Glaube an eine fortdauernde Welt, aber es ist ein Glaube in dieser Richtung.
Pound scheint hierbei eher an ein sich herausbildendes Symbol zu denken als an ein Symbol als feststehende Größe, dessen Sinn sich gänzlich aus dem Zusammenhang herauslösen läßt. Yeats’ Begriffstrennung zwischen dem intellektuellen und dem emotionalen Symbolismus (Ideas of Good and Evil, 1903) kommt einem hier zustatten. Das „intellektuelle Symbol“ greift auf einen Bestand von feststehenden mythologischen oder religiösen Zeichensetzungen zurück und ist somit – zumindest für den Eingeweihten – eine objektive, mehr oder weniger klar umrissene Größe. Beim „emotionalen Symbol“ hingegen handelt es sich um ein heimliches Symbol, das der Autor seinen individuellen Tropismen gemäß erfunden hat und das daher, vor allem seinem Ursprung nach, rein subjektiver Natur ist. Seine volle Tragweite ergibt sich erst aus dem Sinnzusammenhang des ganzen Gedichts, der sich nach und nach herausschält. Allerdings liegt es in der Natur der Sache, daß auch das objektive Symbol in einer früheren Phase einmal den Charakter eines emotionalen oder subjektiven Symbols gehabt haben muß. Pound in seiner Leidenschaft „to make it new“, weist in seinem Werk durchgehend einen Hang dazu auf, dem intellektuellen Symbol von Fall zu Fall etwas von seinem ursprünglichen subjektiven Gehalt wiederzugeben – was bis zu einem gewissen Grad sein unbekümmertes Schalten mit den überkommenen Mythologien und Theogonien erklärt. Aus diesem Grunde legt er so großen Nachdruck auf die konkrete Beschaffenheit von image und Ideogramm gegenüber dem Symbol als abstraktem und abstrahierbarem Begriff. Es lassen sich jedoch, wenn wir die Cantos als „fortdauernde Metapher- in Richtung auf den „Glauben an eine fortdauernde Welt“ lesen, gewisse, periodisch wiederkehrende Formeln und Bildvorstellungen ausmachen, die allmählich symbolischen Wert bekommen und zunehmend „objektiver“ werden. Besonders deutlich wird dieser Vorgang in den späten Cantos der Rock-Drill und Thrones-Folgen. Mit solchen quasi objektiven Symbolen im Werk Ezra Pounds wollen wir uns nun im folgenden beschäftigen.
Wer mit den grimoires und anderen mittelalterlichen Texten vertraut ist, in denen Zauberformeln und verschlungene Pentagramm-Zeichnungen, die Chiffren von Engeln und Dämonen, die nomina barbara et arcana zu finden sind, wird beim Anblick der Canto-Seiten kaum so befremdet sein wie der unvorbereitete Leser, der dieses Buch aufschlägt, dessen Textgestalt und rhythmische Inständigkeit so häufig alle Kennzeichen eines rituellen Vollzugs an sich hat. Die neuplatonische Auffassung des Jesuiten Athanasius Kircher (1601–1680), wonach die ägyptischen Hieroglyphen magische Symbole sind, wird mit Pounds Handhabung erst der chinesischen Ideogramme und später auch der sumerischen und ägyptischen Piktogramme und sogar der archaischen Notenschrift erneut aufgegriffen. Der Glauben, daß den Schriftzeichen eine wundertätige Kraft eigen ist, ist uralt – er läßt sich ohne weiteres bis zu den graffiti des Neolithikums zurückverfolgen, ja noch weiter bis zur paläolithischen Höhlenkunst. Diese seelische Einstellung bringt die unwägbare Macht des image: imo-ago – „aus den Tiefen zu holen“ – ins Spiel. Und ist man heute nicht durch die Schwingungsfiguren von Jules Lissajous und die Klangfiguren von Ernst Chladni und andere einschlägige Experimente zu der Erkenntnis gelangt, daß das gesprochene Wort nicht nur Klang sondern auch Gestalt hat?
Tatsächlich besitzt in der kabbalistischen Lehre des Sefer Jezirah das Klangelement des Wortes eine Lichtentsprechung, und die nomina arcana, die Signaturen der Dinge, erscheinen in dieser Sphäre als Lichtlettern. Aus eben diesem Grunde löschten die Priester im alten Ägypten, nachdem sie den Hieroglyphen-Text „im rechten Ton“ verlesen hatten, diejenigen Schriftzeichen, die unheilbringende Wesen verkörperten, damit sie in der Astralsphäre nicht wiederaufleben und den Toten schaden konnten. Hört man einmal Pound in seinem halb liturgischen Tonfall die Cantos mit den im Sprechgesang rezitierten Passagen des Griechischen oder Chinesischen lesen, so erkennt man sehr bald darin die charakteristische Stimmfärbung heiliger Texte und magischer Beschwörungen. In seinem Essay „Poesia e realizzazione iniziatica“ will Julius Evola im Magischen sogar den Ansatz zu allem Dichten sehen, und er meint, daß im Rhythmus und in der Bildhaftigkeit noch Elemente lebendig sind, die die allerersten Stufen eines höheren Bewußtseins spiegeln. Gewisse übersinnliche Erlebnisse können, so führt er aus, im Dichterischen besser dargestellt werden als im abstrakt Denkerischen. In Indien wird die Unterweisung der Gurus rhythmisch aufgebaut, tatsächlich ist ja schon das Sanskrit selber in hohem Maße rhythmisch strukturiert. Diese rhythmische Besonderheit der frühen Sprache erhielt sich laut Evola bis ins klassische Griechisch hinein, ist den Sprachen der Neuzeit jedoch weitgehend abhanden gekommen. Im poetischen Rhythmus aber kann diese Spracheigenheit wiederhergestellt werden, sofern er nicht auf bloßen Wohlklang ausgeht, sondern auf seelisch-geistige Vorgänge abgestimmt ist, die in sich selbst wieder rhythmisch sind. „Das genaue Wort zu finden für den stimmlosen Ton des Herzens, heißt sich selbst nicht belügen“, übersetzt Ezra Pound ein Wort des Konfuzius. Schon davor hatte er sich zu einem „absoluten Rhythmus“ bekannt:
Ich glaube, daß jede Empfindung und jede Empfindungsphase irgendeine tonlose Phrase, eine rhythmische Phrase enthält, die ihr Ausdruck gibt.
Es zeigt sich demnach, daß die Dichtung an und für sich ein magisches Element enthält. Dieses magische Element verstärkt sich meist in dem Maße, in dem der Dichter älter wird. Wenn sich die Visionen nicht mehr von selber einstellen, werden die subjektiven Zeichen und Worte, die ursprünglich einem echten übersinnlichen Erlebnis entsprangen, als Beschwörungsformeln eingesetzt, um nun ihrerseits die einstigen Visionen wieder auszulösen. Diese Entwicklung läßt sich bei vielen Dichtern beobachten, Yeats ist hier geradezu ein Musterbeispiel, bei Pound jedoch nimmt sie einen etwas anderen Verlauf, da sich bei ihm schon in den Anfängen ein stark ausgeprägter magischer Zug abzeichnet und eine erneute Hinwendung zum Magischen im Alter.
Bereits in Pounds frühesten Gedichten ist das magische Element unverkennbar. In der Personae-Ausgabe von 1909 erscheint in dem Gedicht „La Fraisne“ erstmals jene mythische Esche, die in den späten „Cantos LXXXV“ und XC als die Weltesche „Ygdrasill“ erneut auftauchen sollte. Mehr noch, der ersten gedruckten Fassung dieses Gedichts ließ Pound eine Anmerkung folgen, in der er den naturmystischen Kreislauf des heidnischen Altertums wieder aufleben läßt:
Wenn die Seele ausgebrannt ist von Feuer, kehrt der Geist heim zu seiner uranfänglichen Natur und es weht ihn ein großer Frieden an des Waldes
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaamagna pax et silvestris.
Alsdann wird er eines Geschlechts mit dem Faun und der Dryade. Ein Waldwesen inmitten von Wildbächen und Gerölle, consociis faunis dryadisque inter saxa sylvarum (Janus von Basel). Desgleichen hat Mr. Yeats in seinem Celtic Twilight von derlei Dingen gehandelt, und ich, da mir zumute war danach und weil ich mich aufgespalten fühlte zwischen meinem leiblichen Ich und einem ätherischen Ich, „ein Waldwesen inmitten von Wildbächen und Geröll“, von ewiger Dauer, da von unvermengter Beschaffenheit.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaeternis quia simplex natura,
Weil ich mich ledig fühlte der Last einer Seele, „die zu Erlösung oder Verdammnis berufen“, ein leidigs strebend Ding, das nach so manchem Ringen gnädig von mir genommen ward; so als wär einer des Weges gekommen, der gesprochen hätte wie jener im Totenbuch: „Siehe, ich bins, der die Seelen zu sich ruft“, und hätt sie mitgenommen, indem er mich derart zurückließ, simplex natura, also befriedet und seins-inne wie der Waldweiher schuf ichs.
Diese heidnische Rückführung auf eine simplex natura ist offenbar zugleich der hermetische Schlüssel des Alchimisten bei seinem großen Werk der Palingenese [der Wiedergeburt und Wiedererneuerung]. Im gleichen Gedichtband begegnen wir der ersten Erwähnung Ägyptens, das in Pounds Leben zu einem doppelbodigen Faktor wurde, denn obwohl er immer wieder darauf zurückkam, empfand er dafür nie die unmittelbare Geistesverwandtschaft, die er etwa für das China von Konfuzius und Menzius fühlte. Ägypten in seiner Jenseitsbezogenheit blieb oberhalb von Pounds Reizschwelle. Daher sein Freudenausbruch, als er, wenn auch erst in späten Jahren, bei den alten Ägyptern Persönlichkeiten wie König Khaty und den Patrizier Antef entdeckte, die praktische Lebensweisheiten hinterlassen haben, Lebensweisheiten, die man denen der chinesischen Weisen an die Seite stellen kann: „Khaty und Antef gleich Kung und Meng?“ Antef wird am Anfang von „Canto XCIII“ im Zusammenhang mit dem „panis angelicus“ erwähnt. Von Antef, der seiner Grabstele im Britischen Museum zufolge in die Periode des Sesostris I. (XII. Dynastie) gehört, gibt es nämlich eine Reihe von moralischen Richtlinien, die diejenigen der Evangelisten um fast zwei Jahrtausende vorwegnehmen. Eine davon sprach Pound besonders an: „Gib den Hungrigen Brot und den Durstigen Bier!“ Dies und die Maxime des Khaty: „Des Menschen Paradies ist seine Menschlichkeit“, die er so oft wiederholt, gehören dem rein menschlich-diesseitigen Bereich an, der „Rufer der Seelen“ jedoch, von dem Pound in seiner Anmerkung zu „La Fraisne“ spricht, taucht unmittelbar aus dem ägyptischen Totenreich empor, dessen chthonische Welt dem Dichter in seinem Leben und Werk stets gegenwärtig war:
Die Götter der Unterwelt warten mein, o Anubis,
Die hier gehören deiner Rotte an.
(„Before Sleep“, 1914)
Wir begegnen dieser Gottheit aufs Neue in „Canto XCII“ (1955), wo sie mit den Worten: „O Anubis, wach über das Tor hier, / wie über der cellula / Mont Segur / sanctus“ beschworen wird. In dem ägyptischen Ritual der Osiris-Werdung wachte Osiris über das Zelt, in dem sich die rituelle Auferstehung vollzog. Hier nun wird er in seiner Eigenschaft als Wächter über die „cellula“ angerufen, also über die Krypta, die in der Symbolsprache der Freimaurer das „innere Gemach“ genannt wird und dem sanctum sanctorum, dem Allerheiligsten des Tempels, entspricht. Dieser Raum, der, makrokosmisch gesehen, den Raum des Gottes oder den kosmischen Berg vertritt, entspricht im menschlichen Mikrokosmos dem ignis centrum terrae des Einzelnen, also dem Herzen. In der esoterischen Sprache der Ägypter wird das Herz als nether imy remet = „Gott im Menschen“ bezeichnet. Es ist nicht uninteressant, daß schon der junge Pound in „De Aegypto“ sein Wissen um mystische Erfahrung geltend macht:
Ich, ja ich, bin der, der die Straßen kennt,
Die durch den Luftraum gehn und deren Wind mein Leib ist
Das liest sich wie ein Abschnitt aus den Pyramidentexten worin die Fahrt des Königs, „der die Wege kennt“, quer über den Himmel beschrieben wird. Dazu kommt, daß sich im esoterischen Sprachgebrauch der Wind oder das „Anwehen“ stets auf des Menschen erstes Erleben von kosmischen Kräften beziehen, nachdem er sich vom Körper befreit hat – ein Umstand, der durch das Einweihungsritual im Mithraskult ebenfalls verbürgt ist. Solch frühes Präludieren eines lebenslangen Themas gewinnt dann mit den Rock-Drill-Cantos weit größere Dimensionen, nämlich dort, wo Isis, die ägyptische Mondgöttin, mit Kwannon, dem männlich-weiblichen Bodhisattwa, der die Barmherzigkeit verkörpert, in Verbindung gebracht wird.“ „Isis Kwannon / aus der Beuge des Mondes“ („Canto XC“). überhaupt tritt die Göttin mit ihren Attributen: den „Hörnern“ des Mondes, dem ägyptischen caduceus, der Uräus-Schlange, in den Cantos wieder und wieder auf. Am interessantesten ist jedoch wohl ihre Offenbarung als die synkretistische Wesenheit „RaSet“, die sich auf dem Boot der Unterwelt eingeschifft hat, wobei die Göttin im Grunde mit der „Herrin des Bootes“ aus dem Buch, dem Pound hier seine Anregung entnahm: Il Libro Egizio degli lnferi [Das ägyptische Buch der Unterwelt] identisch ist.
Einige noch unveröffentlichte Briefe aus dieser Zeit mögen uns das Verständnis der Poundschen Gedankengänge hierbei erleichtern. Als er an diesen Cantos schrieb, las er unter anderem die Massime degli antichi Egiziani, die Übersetzung eines Hieroglyphentextes, aus der er eine Anzahl von ganz wesentlichen Canto-Motiven bezog. Seine Briefe aus St. Elizabeth unterstreichen die Bedeutung, die diese Funde für ihn angenommen haben:
König Khaty ist das helle Licht der Auslese… Des Menschen Paradies ist seine Menschlichkeit. Das hätte ich gern in Hieroglyphen gesehen… Cantobile (15. VIII. 1954).
Dann eine Bemerkung telepathischer Natur:
Übrigens, ich hatte in dem Canto-Entwurf am 12. Agosto ,Le Paradis n’est pas artificiel‘ wiederholt / Khatys Zeile traf am 14. ein. (16.VIII.1954).
Andere Briefe erbitten weitere Auskünfte über die schwarze Kunst: Einzelheiten über die Einweihungszeremonien… von größter Dringlichkeit. Gibt es noch mehr Bann-Sprüche (starke) für das Austreiben – ägyptisch – von dämonischer Besessenheit? Apollonius bei Phil[-ostratus] droht den Teufeln nur, und Phil[-ostratus] gibt keine Zaubersprüche an. (25.IX.1954).
Und wiederum:
Ich werde über die esoterischen Behelfe nachdenken. Die Isis-Inschrift (Iset weret) ist, glaube ich, vorderhand die beste Abhilfe. (14.XII.1954).
Die Verbindung Isis-Kwannon muß aus dem Zusammenhang mit „Ra-Set“ verstanden werden. Der Kommentar zum Papiro Magico Vaticano veranlaßte Pound unter anderem, sich mit dem Problem von Gut und Böse im alten Ägypten zu beschäftigen. Diesem Papyrus zufolge wird nämlich Set, das böse Prinzip, losgesprochen und in das Boot des Sonnengottes Ra aufgenommen. Ra ist die männliche Gottheit par excellence, ja, seine Männlichkeit wird durch verschiedene seiner Attribute eigens hervorgehoben, während Set stets als „typhonische“ Kraft aufgefaßt und deshalb mit Feuchtigkeit, Passivität, also weiblichen Merkmalen ausgestattet wurde. Die Idee eines unheilbringenden, aber naturnotwendigen Wesens ist im Osiris-Mythos selbst enthalten, wo Set, den Horus in Ketten gelegt hat, von Isis befreit wird, die sich hier als das barmherzige Prinzip darstellt und in dieser Hinsicht mit Kwannon verglichen werden kann. „Ra-Set“ wäre demnach ein Poundscher Synkretismus, der auf den unerläßlichen kosmischen Kräfteausgleich zwischen Gut und Böse verweist. Diese Vorstellung erinnert an Plotin, in dessen Lehre es, vom universalen Standpunkt aus gesehen, das Böse nicht gibt, sondern nur eine Art Kompensation zwischen den verschiedenen Seins-Stufen, während das Weltall im Ganzen „ein seliger Gott“ ist. Im Kommentar zu dem oben angeführten Papyrus wird überdies die kabbalistische Lehre des Zohar erwähnt, wonach in der letzten Auflösung der kosmischen Zyklen das Böse resorbiert wird, um nur noch als Zeugnis eines früheren Gegensatzes fortzubestehen:
Am Ende der Zeiten soll sama (Gift) von dem Namen Samael (der Name des Teufels) subtrahiert werden, und nur das El, die Bezeichnung Gottes, wird übrig bleiben.
Man sollte sich vor Augen halten, daß nach dem ägyptischen Denken, wie auch später in der griechischen Philosophie, die Idee des Guten eher eine ontologische als eine moralische Kategorie ist. So schließt Nofre, was im Alt-Ägyptischen „gut“ bedeutet, die übergreifenden Attribute der „Vollendung“, des „Einsseins“ und der „Einordnung ins Weltganze“ ein, und Wnnofre, ein Beiname des Osiris, der früher allgemein als „Gutes Wesen“ übersetzt wurde, entspricht nach neueren kritischen Untersuchungen eher dem Sinngehalt eines „Heilen Wesens“.
Daß dies der Sinn ist, der Pound in „Canto XCI“ vorschwebt, wird uns deutlich, wenn wir sehen, wie er Ra und Set als eine weibliche Wesenheit einführt, obwohl sie im ägyptischen Götterreich als zwei männliche Gottheiten gelten:
Die Prinzessin Ra-Set
hat die steinernen Kniee erklommen
Sie geht ein in die Obhut
die große Wolke umhegt sie,
Sie trat ein in kristallene Obhut.
Diese Geschlechts-Umstellung weist deutlich darauf hin, daß in der esoterischen Terminologie sowohl eine makrokosmische wie eine mikrokosmische Bedeutung beschlossen ist. Von der letzteren aus gesehen, d.h., sub specie interioritatis, symbolisieren die männlich-weiblichen Komponenten Ra-Sets den abgeschlossenen Zyklus, die Sonnen- und Mondbahn, der wiederum die Sonnenmysterien des Ammon und die Mondmysterien der Isis entsprechen, die sogenannten großen und kleinen Mysterien. Diese Polarität war Pound bereits aufgegangen, als er in The Spirit of Romance schrieb:
Wenn wir zur Kontemplation dessen was im Fluß ist gelangen, so begegnen wir dem Sexus, oder etwas das dem Sexus analog ist, ,Positiv und Negativ‘, ,Nord und Süd‘, ,Sonne und Mond‘, oder was für Termini des je eigenen Kultes oder Wissensgebietes man dafür einsetzen will… Die Einführung eines komplizierteren Triebwerks oder vielleicht einer subtileren Energie in diese Gleichungen ist einfach genug, oder dürfte einfach genug sein. Ich hänge keinem Dogma an, die folgenden Denkmuster mögen als Behelf gelten. Es ist eine uralte Hypothese, daß der kleine Kosmos dem größeren ,entspricht‘, daß der Mensch sowohl ,Sonne‘ wie ,Mond‘ in seinem Inneren hat. Daraus würde ich folgern, daß es zumindest zwei Wege gibt – ich behaupte nicht, daß sie zu demselben Ort führen – der eine der Weg der Askese, der andere mangels einer besseren Bezeichnung der Weg des ,Frauendienstes‘. Bei dem ersten entwickelt der Mönch, oder wer ihn sonst gehen mag, unter ungeheuerlichen Mühen und Entsagungen den zweiten Pol in seinem Inneren und erzeugt eine magnetische Oberfläche, welche die Schönheiten – ob himmlisch oder anderweitig – durch contemplatio registriert. Bei dem zweiten Weg, der mir, wie ich gestehn muß, dem mens sana in corpore sano besser zu genügen scheint, wird der magnetische Fluß zwischen den vorherrschenden natürlichen Polen der beiden menschlichen Triebwerke erzeugt.
Dieser Dualismus löst sich im Werk des Dichters zur Harmonie, wo das aus sinnlichem Erleben entsprungene Gedankliche sich als „Feuer“ manifestiert („in coitu inluminatio“, Pisaner Gesänge LXXIV) und mythologische Vergegenständlichungen wie Aphrodite-Kypris, Helena, Circe, Hathor usw., erzeugt, während die intellektuelle Erfahrung sich als „Licht“ manifestiert und in Gestalt von Artemis, Selena, Diana usw., anschaulich wird. Diese beiden Erfahrungsbereiche erfassen nur zwei unterschiedliche Aspekte derselben Energie und bringen die zwei konzentrischen Sphären der Cantos hervor: den „Glutball“ („Canto XXXIX“ und XCI) und das „große kristallene Hohlrund“ („Canto CXVI“). Man erinnert sich an die fortschreitende Bewegung von „Canto XCI“: „Auf daß das leibliche Licht austrete / Dem leiblichen Feuer“ und später: „von Kristall zu Feuer, / über das leibliche Licht“.
Wenn Pound einerseits, wie wir gesehen haben, gewisse psychische Kräfte, die er in sich trägt, zu einem privaten Pantheon versammelt, vermenschlicht er auf der anderen Seite seine Götter. Während die Dichter sonst die Götter anführen oder sich wie Yeats der Theosophie in die Arme werfen, um dem Allzumenschlichen zu entfliehen, geht Pound in die entgegengesetzte Richtung. Darum zieht er dem Apuleius den Ovid vor, wie er im Spirit of Romance erläutert:
Das Nicht-zu-Fassende wird möglich gemacht, die Götter werden menschlich, ihre Annalen lesen sich wie Eintragungen in ein Gemeinderegister, und die Heroen scheinen noch mit dem Vater des Dichters auf Du und Du gewesen zu sein.
Aus diesem subjektiven Hang zur Vermenschlichung erklärt sich auch die häufige Identifikation wirklicher Personen mit mythologischen Figuren in Pounds Dichtung. Die Aktualisierung der mythologischen Gestalten und die Mythologisierung zeitgenössischer Persönlichkeiten aus seinem Bekanntenkreis gestatten es ihm dann, in den Göttern die menschlichen und in den Menschen die göttlichen Archetypen zu sehen und eine osmotische Wechselbeziehung zwischen der Götter- und der Menschenwelt in Gang zu bringen, eine dämonische Teilhabe. Natürlich läuft all das auf eine Ausweitung der Identität des Dichters hinaus – wie die folgenden Zeilen aus A Lume Spento verdeutlichen:
Wie einer, den es durch den Schwingungsknoten zieht / Rückläufig in den Wirbelkern hinein… – Und dann aus schierer Einsamkeit schuf ich / Neue Gedanken mir, Mondphasen meiner selbst („Plotinus“).
Die Mondphasen – die „zunehmenden“ Bilder des Selbst – wurden später zu den personae oder Masken. Eine Maske hat, so kann man sagen, ihrer Funktion nach so etwas wie eine eigene Wellenlänge, über die ihr Träger auf die dargestellte Person oder Gottheit eingestellt ist. So erfüllt sie die doppelte Funktion des Empfangens und Ausstrahlens. Dies gilt sowohl für die Funktion der Maske im ethnologischen Bereich wie für ihre metaphorische Rolle in der Dichtung.
Der Weg der anima, der „Prinzessin Ra-Set“, wird in „Canto XCI“ beschrieben: „Das goldne Sonnenboot / nicht raumschots / mit Riemen“, wobei dem Text die Zeichnung eines ägyptischen Boots mit Ruderschaft beigefügt ist:
Diese Zeichnung stammt, wie überhaupt der ganze Vorstellungskomplex, aus der italienischen Übertragung einer alt-ägyptischen Quelle, dem Libro Egizio degli Inferi [Buch der Unterwelt], einem Text des Neuen Reiches, der die nächtliche Reise der Sonne durch die Unterwelt schildert. Es ist ein Ritualbuch, das eine Reihe von zauberkräftigen Formeln für das Einswerden des Menschen mit dem Ewigen enthält, damit er Unsterblichkeit erlangen kann. Die Besatzung der Sonnenbarke, die in der Zeichnung, die Pound verwendet hat, nicht in Erscheinung tritt, besteht aus mehreren Gestalten, die in der „ersten Stunde“ des ägyptischen Textes aufgezählt werden: „Er, der die Wege auftut“, „Erkenntnis“, „Die Herrin des Bootes“ (also Isis), „Horus der Betende“, „Der Stier der Wahrheit“, „Der Besonnene“, „Wille“ und ein Ruderer. Sie alle sind Personifizierungen der Eigenschaften, die für die Reise durchs Unterreich erforderlich sind. Das Symbol des Ruders bekundet, daß es sich um eine sorgfältig geplante Reise handelt, die nicht den Launen des Windes unterworfen ist.
Es hieße Pounds Erregung über diese in St. Elizabeth entdeckte ägyptische Quelle unvollkommen verstehen, wollte man sie nur als die Freude an einem „neuen“ Fund begreifen. Das Motiv bekommt seine eigentliche Tragweite erst dadurch, daß es einen „thematischen Reim“ zu einer anderen Sonnenboot-Reise in die Unterwelt bietet – „Mit der Sonne in einem goldenen Schaff / und hin zu den tiefen Furten der Seenacht“ („Canto XXIII“) – jenem Canto, der sich so unmißverständlich auf den Mithraskult („mit der phrygischen Zipfelmütze“) und die Zerstörung der albigensischen Hochburgen in Chaise Dieu, Mt. Segur und Excideuil bezieht. Das Sonnenthema bildet ja überhaupt einen durchgehenden Motivstrang in den Cantos, der häufig mit der Reise in dunklere Regionen gekoppelt wird, so etwa in „Canto XV“, wo der Dichter nach seiner Höllenfahrt wieder ans Licht steigt, um Helios zu grüßen, oder dann in der Vision der unterirdischen Sonne in „Canto XVII“, die ihrerseits das Löwenmotiv anklingen läßt, jene Löwen mithin, die in der kleinasiatischen Mythologie stets die Schwelle zum Unterreich bewachen:
Sah die Sonne drei Tage, die Sonne lohfarben
Löwenhaft wachsen überm Wüstensand…
Auf drei Tage und hernach nicht mehr,
Ein Leuchten, wie das Leuchten von Hermes
In Thrones („Canto XCVII“) wird das Motiv mit den Worten „zu Rhodos wird das Sonnengefährt ins Meer gekippt“ wieder aufgegriffen. In der Pisaner Phase wird die Sonne, diesmal aus dem Dunkel empor steigend, in den Sinnzusammenhang des schöpferischen Wortes gerückt, das ins Bewußtsein auftaucht – die Sonne ist der Paraklet und der Logos geworden, und zwar auf dem Weg über das chinesische Ideogramm für Mund
[k’ou] das Pound in „Canto LXXVII“ auf seine Art mit dem Ideogramm für Sonne
[jih] in Beziehung setzt:
„Mund ist die Sonne, die Gottes Mund ist“, was wiederum mit Wondjina, einer Gottheit der Australneger, in Verbindung gebracht wird. Wondjina erschuf die Welt, indem er die Dinge „benannte“ – gemäß einer uralten, magisch-kosmogonischen Vorstellung. Aus dieser Zeit heraus entstand Pounds Anrufung des Sonnensymbols en miniature in der Samenkapsel des Eukalyptus: „katzenköpfig, croce di Malta, figura del sol“ („Canto LXXX“). Dabei muß man wissen, daß nach den Gesetzen magischen Vollzugs folgendes gilt:
Eukalyptus soll im theurgischen Vollzug und bei all jenen Verrichtungen angewandt werden, die eine Sympathie zwischen Geistern herstellen… Die Frucht ist mit dem Sonnenzeichen geprägt.
Die griechische Vorstellung von der nächtlichen Sonnenfahrt bildet demnach einen thematischen Reim zur ägyptischen Vorstellung von dem Sonnenboot, aber wir finden noch eine weitere, wenngleich schwächere, Wiederaufnahme des Motivs in der „Mond-Ache“, der wir erstmals in den Pisaner Gesängen („Canto LXXX“) begegnen, und deren weitere Reise wir dann in den Rock-Drill-Cantos verfolgen. Das Mondthema, das sich bisher in vielen Spielarten manifestiert hatte, etwa in der „Mondnymphe immacolata“, der Nymphe des japanischen Nō-Spiels „Hagoromo“ („Canto LXXX“), oder als die Diana von Ephesus, „aufrecht in der Beuge des Mondes“ („Canto LXXX“), in Pounds persönlicher Vision von „la scalza“ [der Barfüßigen], auf die er in den Pisaner Gesängen (LXXIV und LXXVI) immer wieder zurückkommt, nimmt nun die Attribute „Regina“ und „Isis-Luna“ (XC und XCIII an. In Thrones lagert sich dem Motivblock mit der Zeile „alles unter dem Mon ist Fortuna“ (XCVI und XCVII) ein neues Element an. Die esoterische Überlieferung hat mit den wechselnden Phasen des Mondes von jeher einen Zustand der Ungewißheit in Verbindung gebracht, ja, der Mond wurde überwiegend in seiner Eigenart als formbarer Mittler aller Verwandlung gesehen. Es ist daher ganz Folgerichtig, daß Ezra Pound, der von Anfang an darauf bestanden hat, die Dinge nicht als Substantive, sondern als Verbalfunktionen, das heißt, als dynamische Vorgänge, aufzufassen, diesem Aspekt des Mondes besondere Bedeutung beimaß. In der subjektiven Seins-Schicht ist das Motiv wohl auch mit seinem eigenen Schicksal verknüpft, denn nicht nur Fortuna, auch die Moiren, die den Lebensfaden spinnen, sind dem Mond zugesellt. Schon Porphyrios berichtet, daß sie ihren Ursprung im Mond hätten, und in einem orphischen Text heißt es, daß sie zum Mond gehörig seien. Die Zeilen aus Thrones: „überm Mond herrschet Ordnung / unterm Mond forsitan“ („Cantos XCVI“) muten zudem an wie eine direkte Anspielung auf eine wenig bekannte Schrift des Plutarch, De facie in orbe lunae, worin dieser äußert, daß dem Menschen zwei Tode zuteil werden können: den ersten erfährt er auf Erden, wenn der Körper als Leichnam ins Erdreich zurückkehrt und von Seele und Geist (nous) abgetrennt wird. Im zweiten Tod wird die Seele vom Geist geschieden, er trägt sich auf dem Mond zu, wo die Resorption in den kosmischen Zyklus vor sich geht. Nur die Eingeweihten, die Plutarch die „Eroberer“ nennt, steigen über die Mondsphäre hinauf. Das deutet auf eine „aktive Eroberung der Mondsphäre“, unter der alles im Fluß ist, und mithin auf das Erlangen eines hohen kosmischen Grades. Der Dichter jedoch, den, wie Ezra Pound in seiner Abneigung gegen das abstrakte Denken klar erkannte, eine Art Nabelschnur mit dem Sinnlichen und dem Konkreten verknüpft, bleibt dem Zauberbann des Mondes verfallen. „Castalia gleich dem Mondlicht“, heißt es in Rock-Drill („Canto XC“) – eine Zeile, deren besondere Bedeutung darin liegt, daß Castalia bekanntlich für die Quelle aller dichterischen Inspiration steht. Diese mythische Denk- und Ausdrucksweise ist vielleicht erst dann völlig einzusehen, wenn wir uns klar gemacht haben, was „einen Mythos leben“ heißt, nämlich das Teilhaben an einem Erlebnis übergeschichtlicher Ordnung mittels eines symbolischen Prozesses, in dem unwägbare Kräfte am Werk sind, die solcherart im menschlichen Bereich Gestalt gewinnen. Das Wort symbolon bezeichnet von seiner Wortwurzel her einen Akt der Wiedervereinigung, einen dynamischen Vorgang, der dem der Analysis – der Zerlegung, dem Festnageln, der Starrheit und dem Tode – entgegengesetzt ist. In Thrones („Canto CXV“) wird dies bekräftigt: „ne divisibilis intellectu / Nicht durch Syllogisieren zu spalten“. „Einen Mythos leben“ beinhaltet demnach für Pound ein dynamisches Verhalten, abseits von aller bloßen Gelehrsamkeit, und bringt höchst diffizile Überschneidungen der Identität mit sich, wie wir sie bereits gesehen haben. Nach Pounds eigener Definition ist ihm ein Gott: „eine immerwährende Bewußtseinslage“. Und als Ergänzung könnten wir hinzufügen, daß nach der hermetischen Auffassung „einen Gott zu wissen“ oder „sich eines Gottes bewußt zu sein“ gleichbedeutend mit dem Durchbruch zum Schöpferischen ist.
Diese eigentümliche Bewußtseinslage versuchte Pound bereits in The Spirit of Romance schärfer abzugrenzen:
Uns umgibt ein Universum, das von beweglichen Energien geladen ist; unsere Erkenntnisse fußen auf dem keimhaften Universum des grünen Holzes und des grünen Steins. Was seinen [des Menschen] Sinn angeht, so scheint die eine Denkweise in dem zu ruhn, was die Griechen das Phantastikon nannten… Dieses Denken umwölkt den Menschen wie eine Seifenblase, auf deren Oberfläche sich alle möglichen Flicken des Makrokosmos abbilden… Die andere Denkweise besteht in einer Art Kristallkernbildung. Dieses Denken ist im Menschen wie der Gedanke des Baumes im Samen, oder der Gedanke des Grashalms, der Ähre oder der Blüte. Und diese Geistesart ist die poetischere: sie wirkt auf die Vorgänge der Umgebung ein und setzt sie um, ähnlich wie der Same das Erdreich umsetzt, in dem er steckt. Eine solche Denkweise ist dem vitalen Universum blutnah. Die Macht der griechischen Schönheit aber beruht darin, daß ihr Geist immer am Werk war, dieses vitale Universum zu übersetzen…
Folgt man dieser Auffassung von der Funktion des Mythischen, so heißt das freilich, dem Dichter einen gewissen Spielraum für subjektive Auslegungen oder Umsetzungen der gängigen Fassungen der Sage zuzugestehen, was mitunter für ihn ins Feld geführt werden muß, wo der Dichter selbst nicht gemerkt hat, daß er einer Rechtfertigung bedarf. Das fällt bei einigen der pseudo-historischen Abschnitte der Cantos ins Auge, vor allem dort, wo früh geschichtliche Themen behandelt werden, da Pound sich gelegentlich mit Quellen einläßt, die einer kritischen Untersuchung schwerlich standhalten. Ein typisches Beispiel dafür wäre der schottische Lt.-Col. L.A. Waddell (1854–1938), Weltenbummler und Amateur-Orientalist, aus dessen Werken Pound wiederholt zitiert – zu einer Zeit, da er keine Möglichkeit hatte, seine Quelle zu überprüfen [in St. Elizabeth]. So sind denn einige Entsprechungen und Personengleichsetzungen, vor allem zwischen ägyptischen und sumerischen geschichtlichen Persönlichkeiten, die sich Waddell zur Untermauerung seiner phantasievollen Thesen aus den Fingern sog, in die Cantos eingegangen:
Vom Falkenkönig
aaaaaaaaaaaaGoth, Agdu
Prabbu von Kopt, Königin Ash
aaaaaaaaaamög Isis dich schirmen
Manis zahlte für das Land
aaaaaaaaaa1 bur: 60 Maßeinheiten, 10 staio, 1 mana silbers
Wie’s auf dem schwarzen Obelisken steht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaso um 27 0 4
in den langen Booten ostwärts von Abydos
(Rock-Drill, „Canto XCIV“)
Ganz abgesehen davon, daß Waddells Erklärungen zu „Coth, Agdu, Prabbu von Kopt, Königin Ash“ völlig aus der Luft gegriffen sind, ist es auch ganz abwegig, Sargon den Großen als einen vordynastischen Herrscher Ägyptens aufzufassen. Die heraldische Hieroglyphe, die Pound in diesem und in anderen Cantos König Sargon zuschreibt, entstammt Waddells Buch Egyptian Civilization and Its Sumerian Origin and Real Chronology (London 1930), dieser wiederum bezog sie aus der History of Egypt (London 1923–25) von Sir Flinders Petrie (1853–1942), der bei der Ausgrabung von Abydos ein vordynastisches Grab freilegte, das schon im Altertum geplündert worden war. Anhand einer Urneninschrift schrieb er dieses Grab einem wenig bekannten Herrscher, Ka-ap, zu, dessen heraldische Hieroglyphe dann in den „Cantos XCIV“ und XCVII dem Sargon beigelegt wird. Nach Waddells Auslegung war nämlich die von einem Falken gekrönte ägyptische cartouche das Insignium Sargons. Das Zeichen im oberen Teil der cartouche:
hielt Waddell für die emblematische Darstellung eines Tempels. Diese anfechtbare Interpretation übernahm Pound, und so ging das Zeichen mit den drei Säulen in den ikonographischen Bestand der Cantos ein. In „Canto XCVII“ erscheint es mit der refrainartig wiederkehrenden Zeile: „Der Tempel ist heilig / Weil er nicht zum Verkauf steht“, und auch später in dem Canto findet es sich mehrmals neben dem angeblichen Zeichen für Sargons Namen und den dazugehörigen Hieroglyphen
die von Petrie über Waddell auf Pound gekommen waren. Und es heißt darüber hinaus:
Von Sargon aus Agade her
Eintausend Jahre vor T’ang
In „Canto C“ taucht das Tempel-Ideogramm wieder auf, diesmal mit der Bezeichnung „hieron“. Das Ideogramm – eine Fassade mit drei Säulen – hat für Pound einen eigenen Symbolwert angenommen. Tatsächlich wurde der Tempel – ähnlich wie die sakrale Stadt und der Altar – seit altersher als Mittelpunkt der Welt aufgefaßt, als Schnittpunkt der drei Zonen Himmel, Erde und Unterreich, die Pound dank seines assoziativen Schaltens unschwer in den drei Säulen der Fassade ausmachen konnte. Bei aller wissenschaftlichen Unhaltbarkeit verlieren die Zeichnung und die Sinnfülle, die ihr Pound beimißt, als Vision nichts von ihrem Wert, da für ihn der Tempel („hieron“) in seiner Immanenz hier unabhängig von der Gültigkeit der Quelle existiert. Sein Fehlgriff wird überdies bis zu einem gewissen Grade dadurch aufgehoben, daß er sein Emblem durch einen vielfachen thematischen Reim untermauert und eine regelrechte Bedeutungsdruse rings um dieses spezielle Canto-Motiv anlagert. Es verbindet sich mit der Idee der idealen Städte, die sich durch das ganze Gedicht zieht: hierher gehört die Stadt des Deiokes [Ekbatana], die wir aus Herodots Bericht kennen, den Pound in „Canto LXXIV“ aufgreift: „Die Stadt des Deiokes zu baun / mit Terrassen von der Farbe der Sterne“; hierher gehört auch Wagadu, die Stadt aus dem Sagenkreis der Soninke, die, viermal zerstört, sich dennoch wieder erheben wird, um „nun im Geist unzerstörbar“ zu sein. Diese beiden Städte verkörpern den makrokosmischen und den mikrokosmischen Aspekt der sakralen Architektur. Denn die frühgeschichtlichen Städte wurden – genau wie Tempel und Altar – gemäß einem überkommenen Kanon konzipiert, der den heiligen Raum, räumlich sowohl wie zeitlich, gegen den profanen Raum abzugrenzen suchte. Eigentlich konnte nach dieser Denkart jeder beliebige Ort gewissermaßen zur „Mitte der Welt“, zum umbilicus mundi, werden.
Die Absicht, die all dem zugrunde lag, war die Ausrichtung auf eine kosmische Mitte, woraus sich auch die planetarische Symbolik der konzentrischen Mauern im Ziggurat von Ekbatana erklärt, die den sakralen Raum abgrenzen sollten – es handelt sich hier um eine archetypische Vorstellung des menschlichen Geistes, die sich bis in die älteste früh-indische und ägäische Bildkunst zurückverfolgen läßt. Die archetypische, d.h. allgemein-menschliche, Natur dieser Vorstellung wird auch durch die esoterische chinesische Tradition bestätigt, wonach die Hauptstadt des „Vollkommenen Herrschers“ sich in der „Achse des Universums“ befand, nahe am Himmels-Stamm chien-mu, einem Äquivalent der Weltesche Ygdrasill in „Canto LXXXV“, – „daß du am Himmelsbaum lehnst / und Ygdrasill kennst“. Dort, wo chien-mu aufragt, berühren sich die drei kosmischen Zonen Himmel, Erde und Unterwelt, was uns den Symbolwert des emblematischen Tempels mit den drei Säulen ins Gedächtnis ruft. Der springende Punkt bei dieser esoterischen chinesischen Tradition aber ist, daß in dieser Hauptstadt am Tag der Sonnenwende der Schattenstab des Gnomon um die Mittagsstunde schattenlos bleiben muß. Dadurch erhellt sich eine sonst rätselhafte Zeile Pounds: „ein Gnomon / unsre Wissenschaft rührt aus der Wahrnehmung von Schatten“ („Canto LXXXV“), die uns an das berühmte Höhlengleichnis Platons erinnert. Diese „Wahrnehmung von Schatten“ versinnbildlicht die unablässige Suche nach der Mitte, also nach dem Ort, wo der Sonnenwinkel mit dem Einfallslot des Gnomon zusammenfällt, so daß es keinen Schatten gibt, weil zwischen dem Himmel und der Mitte Lotrichtigkeit besteht: die kosmische Achse. Mit anderen Worten: der Schattenstab des Gnomon befindet sich in medio mundi constructum. Diese Idee einer auf dem überlieferten Kanon ruhenden, esoterischen Architektur läßt sich in den „Cantos LXXXVII“ und LXXXV verfolgen, wo das Thema ausgespielt wird: „Centrum circuli“. „hic est medium [mundi]“. In „Canto XC“ wird das Thema mit größerem Nachdruck wieder aufgenommen:
Templum aedificans, noch kein Marmor,
aaaaaaaaaaaaaa„Amphion!“
Und von den San Ku
aaaaaaaaaazu dem Söller in Poitiers wo du stehn kannst
aaaaaaaaaaaaaaaaaaohne Schatten zu werfen,
Das ist „Sagetrieb“,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaist Überlieferung.
Baumeister hatten die Maße bewahrt,
aaaaaaaaaaund Jacques de Molay, hatte der
aaaaaaaaaaaaaaaaadiese Maße gekannt?
und war Erigena einer der Unsern?
Die Maße des „Goldenen Schnittes“ waren den Hütern der geheimen Traditionen wie etwa den Templern wohlbekannt: daher die Anspielung auf Jacques de Molay, den letzten Großmeister des Ordens, der als Ketzer verbrannt wurde. Auch Scotus Erigena, seinerzeit der manichäischen Irrlehre geziehen, kommt hierbei wieder ins Spiel. Dies Problem war schon in den Pisaner Gesängen angeschnitten worden, wo eine Wahlverwandtschaft zwischen Erigena, den Manichäern und den Albigensern angedeutet worden war:
„sunt Iumina“ sprach Erigena Scotus („Canto LXXIV“).
Dort und in „Canto LXXXIII“ wird die Schändung seines Grabes erwähnt, wo man vergeblich nach Manichäern suchte: „und so gruben sie sein Gebein aus, zu Lebzeiten de Montforts (Simon)“. Ein möglicher Beweggrund für diese Entweihung könnte, wie Pound meint, der Wunsch gewesen sein, in Erigenas Skelett den Knochen luz zu finden, um auf diese Weise seine Auferstehung zum Jüngsten Gericht zu verhindern: „Das Bein luz wars wohl von dem er ausging“ … „oder das Bein luz / wie Samenkorn und Muskel…“ („Canto LXXX“). Agrippa erwähnt in seinem Werk De occulta philosophia, I, 20, einen „gewissen, überaus kleinen Knochen, luz genannt, … der unverweslich ist und dem das Feuer nichts anhat, so daß er daraus hervorgeht, ohne Schaden zu nehmen. Aus demselben wird sich aber unser Leib, wie die Pflanze aus dem Samenkorn, nach der Auferstehung wieder zum Leben erheben.“
Das erlaubt uns nunmehr eine genauere Bestimmung der Zeile „Teilweise Urständ in Kairo“ („Canto LXXX“) und des Zusammenhangs zwischen dem „Bein luz“ und dem „Samenkorn“. Das Motiv des schattenlosen Gnomon-Stabs wird danach wieder aufgenommen, um so eine Brücke zu dem Turm in Poitiers zu schlagen. Dieser Turm wiederum führt erneut das Excideuil-Motiv ein, der Hochburg der Albigenser, die schon in „Canto XXIX“, dem Arnaut zugeordnet, vorkam: „… Die Wellenmuster, steingeschrieben / Turmhelm wasserpaß mit dem Brunnenrand“, was in Thrones wiederkehrt als:
Das Wellenmuster zu Excideuil
Turmhelm wasserpaß mit dem Brunnenrand
(„Canto CVII“)
Der Turm ist mithin die esoterische Entsprechung des Gnomon-Stabs, der in den architektonischen Kanon der Templer einging.
Das Gnomon als „Mitte“ findet seine symbolische Entsprechung im omphalos, von dem Pausanias berichtet:
Das, was die Einwohner von Delphos omphalos nennen, ist aus weißem Stein, man hält es für den Mittelpunkt der Erde.
Die Symbolik des heiligen Berges hängt ebenfalls mit dem Gnomon und dem Turm zusammen. Der mesopotamische Tempel wird ja sogar „die Berg-Behausung“ genannt. Nach der islamischen Lehre ist die Ka’aba der höchste Ort der Erde, da die Stellung des Polarsterns darüber beweist, daß sie mit dem Mittelpunkt der Erde im Lot ist. Die Wahl hochgelegener Stätten für die Errichtung von Tempeln und später von Klöstern hat ihren Grund in der skizzierten Denkweise. Eine vielsagende Zusammenschau der Motivreihe finden wir in „Canto LXXX“:
Mt Segur und die Stadt des Deiokes
Que tous les mois avons nouvelle lune.
Das würde darauf hindeuten, daß die ideale Stadt des Deiokes in einem Zusammenhang mit Mt. Segur steht, das mit seiner Abtei von Chaise Dieu die Zufluchtsstätte der albigensischen Ketzer war, die von der Kirche so erbarmungslos verfolgt wurden, wodurch die Kirche, wie Pound in The Spirit of Romance (p. 101) erklärt, einem „hundsgemeinen Raubüberfall, unterm Deckmantel religiöser Scheinheiligkeit“ ihre Autorität lieh. Die Zerstörung von Mt. Segur durch Simon de Montfort wird in „Canto XXIII“ mit einem analogen Vorgang gekoppelt:
Wohl war da Troja dem Erdboden gleich
superbo Ilion…
Wenn Pound hier die Verwüstung der Provence und ihrer Kultur in den Albigenserkriegen beklagt, wie andere Seher vor ihm über den Untergang Trojas trauerten, so wird die tiefere Bedeutungsschicht dieser Wechselbeziehungen freigelegt, wenn man sich klarmacht, daß sowohl die Stadt des Deiokes wie Mt. Segur Schwerpunkte des überkommenen Wissens waren, wobei sich die Riten der Katharer [der „Reinen“, Wovon sich das Wort „Ketzer“ ableitet], wie die Albigenser sich nannten, mit den Überlieferungen der Bogomilen in Thrakien und dem Mithraskult rückverbinden lassen. Die Pisaner Gesänge gehen an einer Stelle darauf ein:
Und in Mt. Segur ist Windstrich und Regenstrich
kein Altar mehr für Mithras
(„Canto LXXVI“).
Außerdem sollte man, was Mithras angeht, nicht vergessen, daß die Existenz des Manes, des Begründers des Manichäismus in Persien, der eine synkretistische Zusammenschau der Mithrasreligion und anderer orientalischer Religionen, der griechischen Philosophie und der christlichen Lehre unternahm, von Pound in „Canto LXXI“ als ein „Avatāra“ [frühere Inkarnation] seiner selbst behandelt wird: Daher die Parallelsetzung ihres Leidens aus dem Käfig in Pisa:
Manes! Manes wurde geschunden und ausgestopft
Aus all dem geht hervor, daß Pounds Verhältnis zum Christentum ziemlich unkanonisch ist. Tatsächlich ist die christliche Lehre bei ihm durchgehend von dem wissenschaftlich-anthropologischen Standpunkt modifiziert worden, der nach seiner Überzeugung aus dem neuzeitlichen Bewußtsein nicht mehr wegzudenken ist:
Und wie Voltaire im 18. Jahrhundert ein notwendiges Licht war, so sind in unseren Tagen Fabre und Frazer unerläßlich für das geistige Mobiliar jedes zeitgenössischen Verstandes, der qualifiziert sein will, über die Ethik, die Philosophie oder jene zusammengebraute Melasse, die Religion, zu schreiben. The Golden Bough hat die Fakten herangeholt, deren Fehlen Voltaires chirurgische Einschnitte offenbart hatten.
Es ist daher nicht erstaunlich, daß in den Cantos so häufig auf die Fruchtbarkeitskulte etwa des Adonis-Tammuz, der chthonischen Dreieinigkeit von Eleusis (Demeter, Persephone, Dionysos) und auf die verschiedenen agrarisch-sexuellen Riten verwiesen wird. Die Pound-Exegeten sind ausführlich darauf eingegangen. Uns interessiert hier vor allem, daß Pound das christliche Ritual bejaht, insofern es Spuren einer älteren, heidnischen Sinnfülle aufweist. „Die Kirche“, schrieb er 1959, „BEWAHRTE die Symbole, solange sie noch bei Sinnen war, siehe das Osterspiel in der Kathedrale von Siena (Ägypten usw.), Ceres, Bakchos, und zum Teufel mit den Blutwaschungen…“. Deshalb wird auch einer der wenigen mit „Einsicht“ begabten Priester hervorgehoben:
Padre José war irgendwas aufgegangen
…
lernte den Sinn der Messe
aaaaaaaaaawie sie vollzogen sein will
das Tanzen zu Fronleichnam das Spielzeug im
aaaaaaaaaaGottesdienst zu Auxerre
Kreisel, Peitsche, und all das
(„Canto LXXVII“)
Traditionen lebendig erhält, die anderen Menschen aus dem Sinn gerieten – es ins Mittelalter tanzten die Priester in ihren Klöstern und Kirchen. Im Sommer führten sie zum Gesang von Psalmen sakrale Tanzspiele auf dem großen Rasen vor der Kirche auf. Jede Stadt hatte ihre eigenen Gebräuche. In Auxerre pflegten die Chorherren des Kapitels im Schiff der Kirche von St. Etienne ein Ballspiel zu tanzen: wenn ein Chorherr neu aufgenommen wurde, übergab er dem Abt einen Ball, den dieser den versammelten Chorherren zuwarf, wo er von Hand zu Hand ging. Dabei bewegte sich der Chorherr im Tanz und sang einen Psalm – ein Ritus, der eigenartig an die rituellen Spiele der Inka-Kultur erinnert, wo die Bahnen des Balls den Lauf der Sterne am Himmel symbolisierten. In der angeführten Canto-Passage handelt es sich also um eine freimütige Deutung der Symbolik der Messe und anderer Bestandteile des Gottesdienstes, von der Mitra und dem Krummstab zum Tanz selbst: heidnische Elemente, die sich in der christlichen Religion erhalten haben. Ebenso wie wir also die objektiven Symbole, die das kirchliche Ritual verwendet, mit Klischees vergleichen können, die, als sie neu waren, auch ihre Stunde der Wahrheit als Bildvorstellung hatten, so löst der Dichter die Allerweltssymbole fortwährend in ihre früheren Bestandteile auf und gibt ihnen dadurch etwas von ihrer Jugendkraft: zurück. Es gehört recht eigentlich zum Wesen des Dichterischen, daß es Traditionen lebendig erhält, die anderen Menschen aus dem Sinn gerieten – es „macht sie neu“.
Pound jedoch nimmt für seine Person die Verantwortlichkeit und Stellvertretung des Dichters für die ganze Menschheit in einem noch tieferen Sinn. In einem Brief an seinen Vater schreibt er 1927 über die Cantos, daß darin folgende Themen enthalten sein sollten:
A.A. Der Lebende steigt hinab zur Welt der Toten
C.B. Der ,historische Kehrreim‘
B.C. Der ,magische Augenblick‘ oder der Moment der Metamorphose, Durchbruch vom Alltäglichen in eine ,göttliche und fortdauernde Welt‘, Götter usw.
Esoterisch gesehen, wird ein solcher „Abstieg in das Unterreich“ innerhalb des eigenen Körpers vollzogen – die Erde entspricht den leiblichen Gegebenheiten – und die Läuterung beschert dem Mysten am Ende den Stein der Weisen. Es handelt sich darum, eine echte Umwandlung herbeizuführen, eine Auferstehung: transmutemini de lapidibus mortuis in vivos lapidis philosophicos: Auch wird schon bei den frühen griechischen Alchimisten, wie Zosimus und Pelagius, das hermetische Werk mit der Weltschöpfung selbst in Verbindung gebracht: in den verschiedenen Phasen der hermetischen Verwirklichung, etwa in der Zeremonie der ersten Weihe, offenbaren sich zugleich die verschiedenen Phasen der Weltwerdung. Mikrokosmos und Makrokosmos decken sich, und die individuelle Einweihung mit den Phasen des „Abstiegs“ und der „Läuterung“ findet eine vollkommene Entsprechung auf der überindividuellen Seins-Ebene. In den Cantos wird analog dazu der Abstieg in ein modernes, neo-danteskes Inferno durchgeführt, und die Arbeit der Läuterung deutet sich in den Methoden an, die Pound als unerläßlich für das künftige Wohl der Menschheit ansieht. Der Dichter und vates in seiner Fähigkeit, die „Fühlhörner der Gattung“ zu sein, bewerkstelligt den Abstieg in die „MAGNA NOX ANIMAE“ (Pisaner Gesänge, „Canto LXXIV“), indem er eine Rolle auf sich nimmt, die zum Ausdruck der Zeitseele wird, und indem er, allen Gefahren für seine Seele zum Trotz, hinabsteigt zu den Schatten seiner Unterwelt, wo er verbessert, „ausrichtet“ und nach dem hieratischen Stein der Weisen sucht. Den Gefahren unterzieht sich Pound, wie Dante, ohne Einschränkung. Während des Abstiegs widerfährt ihm, wie Plutarch sagt, viel Schreckliches: „Zuerst sind da die Irrwege, mühsame Umwege und Wanderungen durch ein Dunkel voller Zweifel und Ungewißheit ohn irgendeine Erfüllung; dann vor dem Ende widerfährt ihm das Äußerste an Tosen, Erschütterung, Beben, Schweiß und Todesangst“, er hat „Drachen, Dämonen und Larven“ zu überwinden – die greifbaren Vergegenständlichungen der Kräfte, die sich ihm in den Weg stellen. In einem Brief drückt Pound das so aus:
Blattgegenständigkeit von: Unterjochung und Verfälschung / wider das Licht. Und das Paradiso, Dante das Vorbild. Die Mächte der Hölle, stets auf dem Sprung zu verfälschen um zu unterjochen. (18.VI.1954.)
Das Leitmotiv des Kristallenen, das die Cantos durchzieht, könnte also sehr gut als Versinnbildlichung des Steins der Weisen verstanden werden. An vielen Stellen der Cantos wie „Ein rinnendes, rauschendes Kristall / unter den Knieen der Götter“ („Canto IV“), dem Bild der Göttin, die Gestalt nimmt als zu Kristall gefrorenes Wasser – „wie Wellen sich türmten zur Form, / das Meer, hartgeglitzert, kristallen, / und die Wellen, zur Form gedüngt, halten die Form. / Kein Licht lotet sie aus.“ („Canto XXXIII“) oder den Visionen des „kristallenen Leibs“ und des Balles, „regsam, kristallen, flüssig“ („Canto LXXVI“) scheint die hermetische Regel zum Ausdruck zu kommen, die über der Porta Magica in Rom geschrieben steht:
Aquam torrentum convertes in petram.
Die Verbindung der durchsichtigen Beschaffenheit des Wassers mit der undurchdringlichen Festigkeit des Steins im Kristall prädestinieren ihn geradezu zum Sinnbild für den Stein der Weisen. Griechische alchimistische Texte, die sich mit dem Abstieg in die Unterwelt befassen, beschreiben die Begegnung mit den rohen Gesteinsmassen:
es sind die neubeseelten Toten, durch Umbildung und Umsetzung geläutert, auf daß das schwarze Erdreich Edelsteine erzeuge.
Auch das ist selbstredend nur sub specie interioritatis zu verstehen. Es ist jedoch bezeichnend, wie oft Jade, Saphir, Topas, Bernstein usw. in Pounds Gedichten auftreten, so daß jeder dieser Steine allmählich einen symbolischen Wert annimmt: eine fortgesetzte Herauskristallisierung des Wesentlichen, gleichbedeutend mit dem Aufbau des Kristalls. Auch die Cantos selbst werden nach und nach immer mehr „abgeläutert“, so als ob das Feuer der hermetischen Flamme die Masse durch fortschreitende Verflüchtigung tatsächlich zu Stein reduziert hätte. Bereits in den Pisaner Gesängen war das Werk durch die Poundsche Alchimie in Kristall umgebildet worden:
Heiter in dem Kristallstrahl
wie der lichte Ball, den der Springbrunnen federt
… wie diamantne Klarheit
(„Canto LXXIV“).
Und in einem seiner letzten Canto-Fragmente stellt der Dichter die Frage:
Das große kristallene Hohlrund hab ich geholt
wer kann es heben?
(„Canto CXVI“).
Rückblickend möchte man fragen, ob die Hyperbel der Cantos – das große „unvollendete“ Werk – nun wirklich zur alchimistischen Synthese gediehen ist und ob die Quintessenz das Gold der Weisen aus dem Gestein heraus gefällt hat. Traditionsgemäß gibt es einen Beweis für die Stichhaltigkeit eines Werks von esoterischen Dimensionen, eines Werks, von dem man sagen könnte: „und liest man nur einen Tag lang, hätt man vielleicht schon den Schlüssel zur Hand.“ („Canto LXXIV“), – es ist der „Schlangenbiß“, das pathos, das den Berufenen, der sich der Arbeit unterzieht, für immer zeichnet. Aus dem speziellen Gesichtswinkel, unter dem Pounds Werk hier betrachtet wurde, dürfen wir wohl das Kriterium annehmen, das Robert Frost aufstellte:
Es ist unsinnig zu meinen, es gäbe nur ein einziges Mittel, um festzustellen, ob ein Gedicht überdauern wird: nämlich abzuwarten, ob es überdauert. Der rechte Leser, dem ein gutes Gedicht begegnet, weiß von dem Augenblick an, da es ihn durchfährt, daß er eine Wunde empfangen hat, die sich nicht schließen wird, daß er niemals darüber hinweg kommen wird.
Boris de Rachewiltz, aus Eva Hesse: Ezra Pound. 22 Versuche über einen Dichter, Athäneum Verlag, 1967
LEICHTER TOD
Am Abend, so lese ich,
Hatte er Magenschmerzen. Im Bett
Lag er sprachlos, dann
Schlief er hinweg. Die „Cantos“
Hatte er hinter sich, vor sich
Die Aufbahrung in San Giorgio Maggiore.
Die Gondel,
Die ihn nach San Michele trug,
Bedeckt mit den Blumen der Jahreszeit,
Fuhr einen leicht gewordenen Körper
Über das Wasser. Mitsamt seiner Irrtümer
Bettete man ihn einen Meter
Unter das Naß der Lagune. Da
Darf er nun ruhen, wartend
Auf das Gericht, das ihn
Schuldig sprechen wird
Oder auch nicht. Wir
Wissen nichts, außer: Tatsachen
Waren nicht seine Sache.
Heinz Czechowski
Durs Grünbein über Ezra Pound: 5.000 Jahre wie ein Tag
Stefan Troller: Ein Mann auf dem Weg zur Toteninsel
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Ezra Pound
Michael Reck: Prospero. Ein Gespräch zwischen Ezra Pound und Allen Ginsberg
DU, Heft 9, September 1968
Franco Antonicelli: Ein Besuch bei Ezra Pound
DU, Heft 2, Februar 1967
Pierre Imhasly: Dichtung in vielen Zungen
DU, Heft 2, Februar 1967
Hans-Jürgen Heise: Ezra Pound zum 80. Geburtstag
Die Tat, 29.10.1965
Steve Lake: Ezra Pound
Akzente, Heft 5, Oktober 1985
Hans-Ulrich Fechner: Vor 50 Jahren ist der Dichter Ezra Pound gestorben
Die Rheinpfalz, 1.11.2022
Willi Winkler: Bürgerkrieg unter friedlichen Affen
Süddeutsche Zeitung, 27.10.2022
Ezra Pound liest Canto XLV.
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