DURCH SCHULD WAHNSINNIG
Ich, der Lenker des Himmelswagens,
Tiefblau überall, aber mein Herz nicht.
Wenn die letzten Sterne zu schlingern anfangen,
Meine Hände vermengt mit kommenden Zeitaltern.
Von Jahrtausend zu Jahrtausend steuerte ich das
aaaaaFlugzeug.
Was ich da trage, was ich da werfe, was wußte ich
aaaaadenn.
Leise öffnete sich eine Epoche,
Barfuß lief ich durchs Licht.
Löste die Bombe aus ihrer Halterung.
Plötzlich verwelkte die riesige Blume, genannt Hiroshima.
Wie, habe ich hunderttausend Menschen getötet?
Mein Geist, ein Vogel aus Flammen, zieht fort in die Nacht.
Die historischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts brachten der Türkei den Zusammenbruch des Osmanischen Imperiums, den Sieg über europäische Mächte, die mit Kolonisationsabsichten bis ins anatolische Kernland eingerückt waren, und 1923 die Gründung der Türkischen Republik unter Mustafa Kemal Pasa, genannt „Atatürk“. Sie brachten im weiteren die Gefährdung dieser Republik durch reaktionäre Kräfte, die zuerst 1910 durch den Wahlsieg der Konservativen augenfällig wurde, und bis heute – wir schreiben das Jahr 1982 – bereits die dritte Militärjunta an die Macht. Wurde der erste Staatsstreich des Militärs 1960 noch als Versuch zur Rettung des Atatürkschen Reformwerkes unternommen, so treibt der soeben vorgelegte Neuentwurf der Verfassung das türkische Volk in die finstersten Zeiten der Unterdrückung zurück.
Die Entwicklung der türkischen Dichtung in diesem Jahrhundert mag demgegenüber weniger existentielle Auswirkungen haben, ist aber ebenso bewegt verlaufen. Das erste Drittel des Jahrhunderts zeigte eine Spätblüte der osmanischen Poesie: mit einer Art Neubelebung der im Schmuck- und Regelwerk erstarrten Diwanlyrik durch Einflüsse des französischen Symbolismus. Das fein und artig Gesagte wurde noch feiner gesagt und mit einer psychologischen Vielschichtigkeit versehen, es spiegelte das überwache Bewußtsein der Autoren, die den Untergang ihres Zeitalters miterlebten. Gleichzeitig spielte die politisch verfügte Besinnung auf nationale Werte die Erinnerung an türkische Volksdichtung herauf. Deren Wurzeln gehen bis auf die frühesten Spuren türkischer Besiedlung zentralasiatischer Gebiete zurück. Unbeachtet, aber auch unbeschadet hatte sie im vernachlässigten Hinterland des zentralistisch regierten Osmanischen Reiches überlebt. Sie ist eine silbenzählende Dichtung, während die Diwanlyrik sich arabische und persische Versmaße anerzogen hatte und – weil diese auf türkische Wörter gar nicht anwendbar sind – arabische und persische Fremdwörter bevorzugt.
Als durch die nationalen Umwälzungen auch das Nebeneinanderherbestehen zweier Literatursprachen erkannt wurde, erklärten vorübergehend durchaus fortschrittlich gesinnte Autoren die silbenzählenden Maße, als einzig der Struktur des Türkischen gemäß, zum Programm. Es waren jedoch Dichter zur Stelle, die eine Austrocknung und abermalige Beschränkung der Poesie auf ein einseitiges Regelsystem allein mit ihrer Sprachbegabung für ihre ganze Generation überwanden. Hierzu gehört der weltberühmte Nazim Hikmet (1902-1963). In seinen reifsten Werken verwendet er Diwan-, Silben- und freie Maße jeweils als Instrument des darzustellenden Inhalts und verschmilzt sie zugleich zum unverwechselbaren persönlichen Ton. indem er den Leser zum Mitgestalten einer brüderlich-gerechten Gesellschaft anzustiften versucht.
Das Ende des elitären Dahindichtens wurde auch von der Gruppe der Eigenartigen (Garipler) beschleunigt, vor allem von Orhan Veli Kanik (1914-1950). Er verfaßte ein poetisches Manifest, um der aufgebauschten Phrase, dem Mißbrauch der Sprache als bloßes Material rhetorischer Figuren den Kampf anzusagen. Das Wort sollte, zu seinem ursprünglichen Sinn- und Klanggehalt befreit, nichts anderes ausdrücken als sich selbst. Kaniks Konzept wirkte um so nachhaltiger, als er selbst ein zwar schmales, aber überzeugendes dichterisches Werk hinterließ. Und doch ließ die Gegenströmung nicht lange auf sich warten. Dichtung ohne Zierat, ohne Verfremdung, ohne vielsagende Übertreibungen konnte nicht durchgehalten werden. Dieser Einwand der „Zweiten Neuen“ rettete die Farbigkeit dichterischer Phantasie, verstieg sich aber auch, im Unmaß des Widerspruchs und unter den Bedrückungen erneuter gesellschaftlicher Desorientierung, zu Metaphernkaskaden, die nur einzelne übersensibilisierte Individuen, niemals das Volk, mitzureißen vermochten. Im folgenden vermischten sich die Methoden und Haltungen, ohne daß eine von ihnen ganz aus dem Spektrum türkischer Gegenwartslyrik verschwunden wäre. Zur Zeit macht keine neue tonangebende Schule von sich reden. Es zählt die an den Lehren des Jahrhunderts gereifte Meisterschaft einzelner, denen es gelingt, Leser zu erreichen und zu bewegen.
Fazıl Hüsnü Dağlarca, geboren 1914 in Istanbul, ist Zeuge all dieser poetischen Ent- und Verwicklungen geworden und hat sich doch niemals zu einer Richtung bekannt. Er gilt als Naturtalent, das heißt, er kann nicht anders als dichten und nichts anderes als Dichten. Er spricht auch keine andere Sprache als Türkisch. Türkisch ist für ihn Ur- und Weltsprache, sie ist die im Menschen manifestierte Energie, die alle Inhalte des Kosmos zusammenfaßt und als Bewußtseinsinhalt neu erschafft. Dabei blickt er keineswegs auf andere Sprachen herab. Der Kosmos braucht die Dichter aller Weltsprachen, um sich in ihrem Werk tausendschichtig, wie er ist, am Werden zu erhalten.
Zu Dağlarcas Biographie finden sich nur spärliche Angaben. Im Orient ist es nicht schicklich, Einzelheiten des Privatlebens zu erfragen. Dağlarcas Vater war Berufssoldat im Range eines Oberstleutnants der Kavallerie. Diese Tätigkeit brachte einen häufigen Ortswechsel der Familie mit sich, so daß Dağlarca schon als Kind verschiedene anatolische Landschatten aufnahm. Außerdem schien mit dem väterlichen Vorbild auch sein Berufsweg vorgezeichnet. Er besuchte Kadettengymnasium und Offiziersschule in Istanbul. Am 30. August 1935 beendete er seine Ausbildung. Am selben Tag erschien sein erster Gedichtband: In die Luft gezeichnete Welt. Die nächsten fünfzehn Jahre verbrachte er im Militärdienst, wiederum in Anatolien von Ort zu Ort wechselnd – fünfzehn Jahre, die den zweiten Weltkrieg einschlossen, aber ohne Kriegshandlungen auf türkischem Boden, 1950 schied Dağlarca freiwillig aus dem Heer, unternahm eine längere Europareise, war anschließend einige Jahre als Inspektor für das Türkische Arbeitsministerium tätig und eröffnete 1959 eine Buchhandlung in der Istanbuler Altstadt. Als er 1970 diese Buchhandlung wieder aufgab und sich zum Dasein eines freischaffenden Schriftstellers entschloß, hatte er bereits dreiunddreißig Bände Lyrik veröffentlicht. Seitdem sind noch etwa dreißig Bände dazugekommen.
Erst im freundschaftlichen Gespräch mit dem Autor sind auch Einflüsse und Erlebnisse zu erfahren, die sich in seinem lyrischen Werk themen- und stilbildend niederschlagen. Einige Jahre seiner Kindheit verlebte Dağlarca im Hause seiner Großmutter in Konya. Diese Frau sang ihm Lieder der beiden großen mystischen Dichter Yunus Emre und Celaleddin Rumi vor. So wurde er in einem noch unkritischen, emotional offenen Lebensalter mit den Bildern und Empfindungen eines Traditionsstromes vertraut, der jahrhundertelang die anatolische Volksdichtung geprägt hat. Es gab keine Person in Dağlarcas Leben, die ihn in ähnlich empfindsamer Weise in die orthodoxen Lehren des Islam eingewiesen hätte, zu dem die Familie sich doch rückhaltlos bekannte. Statt dessen fiel dem Jungen zu einer Zeit, die dem Vater noch allzu früh schien, ein Buch über griechische Mythologie und antike Philosophie in die Hände. Dağlarca hält diesen Zufall und die Lektüre des Buches für entscheidend in der Herausbildung seines Lebensgefühls und seiner Weitsicht. Eine weitere Perspektive erschloß sich, als er von der zentralasiatischen Vergangenheit seines Volkes erfuhr, um die sich eine reiche Überlieferung vorislamischer, schamanistischer Anschauungen rankt.
Keineswegs um solcherlei Ansichten zur Sprache zu bringen, die sich noch unverarbeitet im Gemüt des jungen Dağlarca kreuzten, sondern einfach aus Freude am Wortspiel begann er schon als Kind, nach schulischem Schema Gedichte anzufertigen. Er füllte Heft um Heft mit Versen in den Metren der Diwanpoesie. Noch heute, wenn ihn junge Dichter um Rat bitten, erklärt er solche handwerklichen Übungen zur Voraussetzung des späteren souveränen Umgangs mit der Sprache auch in „formlosen“ Texten. Er verabscheut es, wenn Anfänger ihre Gefühle ungeniert in freie Zeilen gießen und das Produkt ein Gedicht nennen. Er verlangt auch von einem reim- und metrenlosen Gedicht, daß seine Lautgestalt in einer bewußt herbeigeführten Beziehung zur übermittelten Nachricht steht, daß die Materialien des Textes (Inhalt und Wörter) zueinander in eine beabsichtigte Ordnung treten. Er selbst ist diesem Anspruch mit seiner unverwechselbaren, scheinbar mühelosen und doch nicht leichthin zu entziffernden poetischen Handschrift gerecht geworden.
Der Titel des ersten Bandes, In die Luft gezeichnete Welt, deutet an, daß es sich bei den lyrischen Mitteilungen des bei Erscheinen des Buches Einundzwanzigjährigen um eine Innenwelt handelt, die noch wenig mit den Konturen harter gesellschaftlicher Wirklichkeit gemein hat. Nur im Nachhinein lassen sich Leitthemen des bis heute vorliegenden gigantischen Werkes des Autors in diesen frühen verträumten Versen, sozusagen im Keimzustand. auffinden. Da „würgt“ ihn eine „finstere Trauer der Dörfer“ – vage Ankündigung seines späteren leidenschaftlichen Einsatzes für die in rückständigem Elend lebende anatolische Landbevölkerung. Deutlicher zeigt sich sein Verhältnis zur Natur an, die er im Kommenden, auch in ihren unbelebten Formen, seinem Verbund der Geschöpfe einreihen wird: einem Biotop aller irdischen Existenzen mit dem Menschen als zutiefst Gezeichnetem und einzig Sprechendem in der Mitte, das zur Fortdauer im All in friedlicher Tauschbewegung, genannt Liebe, bestimmt ist. Dabei ist ihm die Qualität „Fortdauer“, das unerbittliche Weiterwirken der Zeit, vorerst – und noch zwanzig Jahre lang – ein Dorn im Auge, eine Herausforderung, der er Widerstand ansagt. Er, dessen Seele aus gänzlich anderen Stoffen gewoben scheint als seine reale Umwelt, möchte sich auflösen, möchte mitsamt allen Wurzeln seines Wesens aus der Seinswelt verschwinden. „Das Weltall ist meine Mutter, ich will meine Mutter verlieren“ lautet eine Zeile des Gedichtes „Wunsch, vcrlorenzugehen“ im ersten Buch, die Dringlichkeit, dialektische Spannung und Aussichtslosigkeit zugleich verrät. Gleichsam im Abschiedsrausch schreibt er auch die Texte des zweiten Buches, Kind und Gott, besingt verlorene Kindheit und verlorene Gottheit und läßt, dermaßen freigegeben von Vergangenheit und Zukunft, das Durchtrennen der kurzwährenden Gegenwart als winzigen Schnitt erscheinen. Diese Texte geraten nicht nur in einer pretiösen, ebenso klaren wie glühenden Sprache – so daß sie im Türkischen etwa den gleichen Stellenwert einnehmen wie Rilkes Dichtung im Deutschen –, sondern treffen auch in eine Phase des ideologischen Vakuums im Aufbau der jungen Türkischen Republik. Im Erscheinungsjahr 1940, zwei Jahre nach Atatürks Tod, ist die Säkularisierung des Bildungssystem so weit gediehen, daß dieses in groben Umrissen Ähnlichkeit mit europäischen Einrichtungen zeigt, doch ist für die Gemütswerte der zwangsweise abgeschafften Religiosität kein Ersatz gefunden. Parolen zur Erstarkung des Staates bieten nicht das gleiche Seelenpolster wie jahrhundertlang fortgeerbte Gebete. In diesem Zeitpunkt müssen die Texte Kind und Gott fortschrittswilligen, gleichwohl desorientierten Intellektuellen wie eine Bibel erscheinen. Der Ruhm seines zweiten Buches hat sich bis heute erhalten und überhaupt den Ruhm des Autors begründet. Ein distanzierter Blick möchte diesen Ruhm lieber auf andere, den Nerv der Epoche treffende Publikationen beziehungsweise auf das Gesamtwerk umleiten. Vier folgende Bände der vierziger Jahre markierten Schritte in einmal eingeschlagener Richtung, bis der Band Mutter Erde, 1950 erschienen, einen wie neugeborenen, nämlich zum erstenmal der Welt in ihrer realen Dinglichkeit zugewandten Dağlarca zeigt.
Das Schlüsselerlebnis, das zu dieser Wende führte, hat Dağlarca mündlich berichtet. Er erzählt von einem Aufenthalt in der ostanatolischen Stadt Sivas im März 1949, Sivas ist Zentrum der bis ins zwanzigste Jahrhundert lebendigen Tradition der wandernden Volkssänger (aşık), es gehört zu den ökonomisch vernachlässigten Gebieten, in denen zu osmanischer Zeit mehrere Aufstände gegen die das Volk drangsalierenden Regierungsvertreter ausbrachen. In dieser Kreisstadt, einem um seine berühmte „Himmelsmoschee“ herumgebauten Elendsquartier, erkennt Dağlarca, ähnlich wie seine großen Kollegen Pir Sultan Abdal (16. Jh.) und Aşik Veyscl (1894-1973), den entrechteten und doch niemals entwürdigten Menschenbruder als Lebensziel, für das er zu kämpfen, zu dichten und seinen Selbstauflösungswunsch zurückzustellen hat. Ein Jahr später nimmt er seinen Abschied vom Militär. Als das Buch Mutter Erde gedruckt vorliegt, vollzieht sich durch den Wahlsieg des konservativen Lagers der politische Wandel im Land. Geplante Agrarreformen werden verzögert oder verhindert, feudalistische Abhängigkeiten wiederhergestellt. Mutter Erde, Liebes- und Klagelied, realistischer Report und animistischer Hymnus, kommt zu spät. Diese Texte haben bis heute fast kein Echo gefunden.
Dağlarca richtet sich mit seinem Berufsleben neu ein, verarbeitet in Westschmerz die Eindrücke seiner Europareise. Aus den Publikationen der fünfziger Jahre ragt der Band Asu (1955) heraus, weil er darin sein Verhältnis zur Zeit klärt und das Verweilen in ihr als Möglichkeit zu menschlicher Arbeit endgültig bejaht.
Die Zukunft des Menschen ist nicht ein Zuwachs an
Zeitdauer, sie ist ein Zuwachs an Empfänglichkeit,
an Vernunft, an Vernunftempfänglichkeit…
Asu ist der, der täglich aufs Feld geht, in die Schule
geht, zum Dienst geht…
Asu ist eine Bewegung: von der befristeten zur offenen
Zeit…
Doch hat sich Dağlarcas poetische Forschung seit der einmal erfolgten Festlegung des Ziels schon verzweigt, geht nicht mehr nur eigenen existientiellen Problemen nach, zeichnet Ereignisse der türkischen Geschichte auf, artikuliert sich in Kindergedichten, taucht in mystische Strömungen des Mittelalters zurück, wendet sich, in den sechziger Jahren, der Bewußtseinserweiterung durch die Ergebnisse der Raumfahrt zu und beginnt, außertürkische historische Bewegungen zu reflektieren. Der Sivas-Impuls gibt sich noch einmal von 1963 bis 1966 unüberlagert zu erkennen, diesmal im städtischen Milieu der Istanbuler Altstadt. Dağlara klebt im Abstand von zwei Wochen dreistrophige sozialkritische Gedichte gegen die Schaufensterscheibe seiner Buchhandlung. Als er merkt, daß sich an jedem zweiten Donnerstag die Passanten vor dem Fenster drängen und auch Analphabeten darunter sind, fügt er für die letzteren ein Bild bei. Eins dieser Gedichte, „Der Hahn“, bringt ihm den Vorwurf der Staatsfeindlichkeit und einen Prozeß ein. Doch ist es ein Merkmal seiner Poesie, daß sie ihre Aussage, auch die politische, nicht eindeutig agitatorisch wiedergibt, sondern in Schlüsselsymbolen, für die die Justiz noch keine Kompendien bereithält. So ist Dağlaru straffrei ausgegangen.
Auf die Frage, wie er als Türke auch über die Katastrophen von Vietnam und Hiroshima schreiben könne, antwortete Dağlarca mit dem Satz:
Die Erde ist ein Leib. Wo immer sie verwundet wird, wo ihr Blut fließt, bis dorthin reicht das Schmerzempfinden des Künstlers.
Der Vietnam- und der Hiroshima-Zyklus zeigen eine bittere Anschaulichkeit, als wären sie Augenzeugenberichte. 1966 beziehungsweise 1970 publiziert, nehmen sie Sprechweise und Thematik literarischer Äußerungen der internationalen Friedensbewegung voraus. Auch die Texte des 1981 erschienenen Bandes Neutronenbombe unterbrechen die eher bedächtige, aussparende Verssprache des alternden Dağlarca mit brennender Aktualität.
Dağlarcas Werk hat im eigenen Land Begeisterung, aber auch Irritation ausgelöst. Obwohl kaum jemand seinen Ruhm als größter türkischer Dichter der Gegenwart anzweifelt, erkennen doch nur wenige sein poetisches Anliegen oder können sich mit seiner Position identifizieren. Daß Leserkreise des rechten Lagers ihn ablehnen, verwundert nicht angesichts seines rigorosen Einsatzes aller lyrischen Mittel gegen soziale Mißstände und imperialistische Bestrebungen, wo immer in der Welt sie auftreten. Aber auch Leser der Linken fühlen sich abgewiesen, vermissen einen konsequenten Materialismus, werfen dem Autor „Mystik“ vor. In der Tat geht Dağlarca mit seinem Konzept eines weltumfassenden Biotops, in dem angeblich tote Naturgegenstände beseelt sind und angeblich abstrakte Begriffsinhalte zum Bestand der Materie gehören, selbst über die utopischen und privatistischen Entwürfe linker Schattierung hinaus und über sie hinweg. Außerdem ist da die Verehrung Atatürks und die beharrliche Anzahl von Kriegsdichtungen und historischen Hohenliedern des Autors, die der in anderen Texten bezeugten Solidarität mit den fernsten Erdbewohnern zu widersprechen scheinen. Über sein Verhältnis zu dem Begründer der Türkischen Republik sagt Dağlarca:
Atatürk – wir sind damals alle zu ihm geeilt. Es gab keine Alternative. Ohne ihn keine Türkei.
Er sieht Gründe für die mangelhafte und teilweise gescheiterte nationale Umgestaltung im Widerstand reaktionärer Kreise und in Atarürks frühem Tod, weniger in dessen Fehlleistungen. Vor allem unterstützt er die Arbeit der von Aratürk eingesetzten Türkischen Sprachkommission und ist bis heute ihr Mitglied. Diese Kommission stellte 1928 die Schrift von arabischen auf lateinische Zeichen um. Da die vokallose arabische Schrift zur Notierung der vokalreichen türkischen Sprache denkbar untauglich ist, war Schreiben und Leben jahrhundertelang einer kleinen Schicht von Gelehrten vorbehalten. Die Einführung der lateinischen Zeichen, zusammen mit einer leicht faßlichen Orthographie gab zum erstenmal die Möglichkeit, die hohe Analphabetenrate Anatoliens abzubauen. Ferner setzte und setzt sich die Sprachkommission zur Aufgabe, Fremdwörter gegen Wortneubildungen auszutauschen, denen alttürkisches Wortmaterial zugrunde liegt. Eine solche vielleicht puristisch anmutende Bemühung wirkt verständlicher, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß zu Ende des 19. Jahrhunderts zwei Drittel des „türkischen“ Wortschatzes aus arabischen und persischen Wörtern bestanden. Bei chronologischer Durchsicht der Werke Dağlarcas – und auch der Werke Hikmets – läßt sich der allmähliche Verzicht auf Fremdwörter, das Gefügigmachen neuzugeschnittener Sprachteile deutlich ablesen.
Allerdings, angesichts der gegenwärtigen innenpolitischen Entwicklung der Türkei erscheinen Sprachprobleme zweitrangig. Zwar gehört Dağlarca bisher nicht zu der Gruppe verfolgter oder inhaftierter Autoren, doch spricht aus Briefen seine Isolierung und Verbitterung. In beigelegten Texten meldet sich der „alte Dağlarca“ zu Wort: weltweit traurig, kämpferisch, liebesbereit.
Gisela Kraft, Nachwort, September 1982
Mit dieser Auswahl – der bisher umfangreichsten im deutschsprachigen Raum – präsentiert der Verlag Volk und Welt einen Dichter, der in der Türkei als einer der Großen des 20. Jahrhunderts angesehen ist. Fazıl Hüsnü Dağlarca (er wurde 1914 geboren, war von 1935 bis 1950 Berufssoldat, dann Inspektor im Arbeitsministerium, Buchhändler; seit 1970 lebt er als freischaffender Schriftsteller in Istanbul) veröffentlichte seinen ersten Gedichtband 1935: verträumte Verse, die vom orthodoxen Islam und der mystischen orientalischen Lyrik beeinflußt waren. Zu den strengen Formprinzipien der Diwanpoesie bekennt sich Dağlarca bis heute, nachdem er in seinem Werk längst die Abkehr von der Innenwelt vollzogen und sich der realen Wirklichkeit zugewandt hat: der Geschichte und Gegenwart des eigenen Volkes, dem Schicksal der Menschheit in einer bedrohten Welt, wie er sie in seinen späten Zyklen mit den programmatischen Titeln „Hiroshima“, „Vietnam“ oder „Neutronenbombe“ heraufbeschwört. Denn: „Die Erde ist ein Leib. Wo immer sie verwundet wird, wo ihr Blut fließt, bis dorthin reicht das Schmerzempfinden des Künstlers.“
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1984
Daǧlarca, türkisch: bergeweise. Türkischer Dichter, Verfasser von mehr als fünfzig Gedichtbänden. Lyrik bergeweise. Im Alltag wortkarg. Nur nicht zuviel fragen, erst einmal nachschlagen, Stichwort Fazil Hüsnü Daǧlarca:
Geboren 1914 in Istanbul. Wählte den Beruf seines Vaters: Soldat. Beendete seine Offiziersausbildung am 30. August 1935. Am selben Tag erschien sein erster Gedichtband In die Luft gezeichnete Welt. Fünfzehn Jahre Militärdienst in verschiedenen Gegenden Anatoliens, fünfzehn Jahre ohne Kriegshandlungen auf anatolischem Boden. Zeit zur Beobachtung…
Abschied vom Heer 1950. Erste Reisen ins westliche Europa. Danach für das Arbeitsministerium tätig… Internationale Preise. Übertragen unter anderem in Jugoslawien, Frankreich, SU, USA…
1959 eröffnet Daǧlarca in der Istanbuler Altstadt die Buchhandlung Kitap (Buch).
Ich muß Daǧlarca kennenlernen, will über ihn eine Arbeit schreiben. Im Jahr zuvor, das war im September 1973, spazierte ich an einem Laden vorbei, ein verstaubtes Schaufenster, drinnen Bücherhaufen, Kisten, Paketstapel. Über der Scheibe noch das Wort Kitap. In der Tür stand ein Mann mit einer Schürze. Mein türkischer Freund, ein Bewunderer Nazim Hikmets, sagte:
Das ist auch ein Dichter von uns. Der berühmteste.
Wie berühmt sogar die Schaufensterscheibe war, soll mir Jahre später der Dichter selbst erzählen:
1963, an einem eisigen Winternachmittag, hörte ich draußen rufen: Holzhacker! Holzhacker… Ein Mann mit einer Axt über der Schulter schlich müde die Straße hinunter und bot seine Dienste feil. Ich kann den hohlen, unendlich alten Klang seiner Stimme nicht vergessen. Darüber habe ich ein Gedicht gemacht, ein Gedicht mit drei Strophen. Jede Strophe hat als Refrain diesen Ruf des Holzhackers. Das Gedicht schrieb ich auf ein riesiges Packpapier und klebte es, mit der Schrift nach außen, gegen die Schaufensterscheibe. Leute blieben stehen und lasen. Nach zwei Wochen hängte ich ein anderes Gedicht aus. Und so weiter. Die Gedichte handelten von Straßenverkäufern und Tagelöhnern, von Mißständen in Anatolien, Korruption und nichteingehaltenen Wahlversprechen. Oder vom Widerstand dagegen, von der Hoffnung. Die ganze Aktion nannte ich: Wandzeitung ,Gegen‘. (Die Gedichte waren ja ,gegen‘ die Scheibe geklebt.) Immer mehr Leute kamen zum Lesen, auch Analphabeten. Für sie klebte ich ein Bild neben den Text. Alle zwei Donnerstage erschien die nächste Nummer. Einmal hatte ich mich verspätet. Da gab es ein großes Geschimpfe von den Weithergereisten. Ich mußte also pünktlich sein – drei Jahre lang…
Es ist Oktober 1974. Der Laden ist verwaist. Wo finde ich Daǧlarca? Im Verlag vielleicht. Meine Beklommenheit, mein erst dreijähriges Türkisch. Ich frage den Verlagsleiter:
Können Sie mir helfen, Herrn Daǧlarca kennenzulernen?
Er zeigt auf einen Mann, der neben ihm sitzt und einen Brief liest. „Der ist es.“ Keine Zeit mehr zum Schreck. Daǧlarca, das ganze Zimmer voll. Dann sind wir schon auf der Straße. Er will mit mir ins Teehaus gehen. Wir schieben uns durch Menschenknäuel, über verstopfte Kreuzungen. Nur nicht zuviel fragen. Der orientalische Anstand. Noch nach sieben Jahren werde ich nicht wissen, ob er verheiratet war und wie oft. Nur, daß er allein ist.
Ich bin ein Wasser, ich spiegele die Ereignisse wider.
Solche Antworten stehen aufgezeichnet, auch die Fragen dazu: Wie ist es Ihnen möglich, nicht nur Ihre eigene Umwelt ins Gedicht zu bringen, sondern Algerien, Vietnam, Hiroshima? Kann ein einzelner hier, von der Türkei aus, sich in diese fernab liegenden Völker und Länder hineinversetzen?
Die Erde ist ein Leib. Wo immer sie verwundet wird, wo ihr Blut fließt, bis dorthin reicht das Schmerzempfinden des Künstlers.
Wir haben den alten Büchermarkt erreicht, durchqueren ihn. Dahinter der Platz der Beyazit-Moschee. Unter Platanen Tische, seitlich in einem Verschlag die Teeküche. Wir setzen uns.
Auch in meinen angeblich abstraktesten Gedichten bin ich ganz konkret.
Ich suche nach der biographischen Ursache seiner Mystik, selbst in ,realistischen‘ Texten. Denn sie treibt die Linken von ihm weg, während die Rechten ihn erst recht ablehnen, wegen der Sozialkritik.
Vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr lebte ich in Konya. Die Mutter meiner Mutter sang mir die Meditationslieder Yunus Emres vor. Ich durfte auch beim Reigen der tanzenden Derwische zuschauen.
Ist das der Grund? Können diese frühkindlichen Eindrücke so nachwirken, daß die Zeilen entstehen:
Solange Tag ist, drisch das Korn
Erkenn die Welt daraus
Kornmaß um Kornmaß, die Nachrichten der Erde…
Oder im Lied des Kupfertopfs:
Wenn Kraut kocht, schmerzt die Oberseite der Berge
Wenn Wurzeln kochen, tut weh, was unter der Erde ist…?
Ist das nicht erlittene Erfahrung, übersteigerte Wahrnehmung? Der verträumte Offiziersanwärter von 1935, der seine erste ,Welt in die Luft zeichnete‘, hatte diese Wahrnehmung noch nicht. Nur ,würgte‘ ihn schon eine unbestimmte ,finstere Trauer der Dörfer‘.
Ein Jahr vor meinem Abschied vom Militär, im März 1949, war ich in Sivas in Ostanatolien. Auf dem Marktplatz sah ich einen alten Mann hin und her gehen, der hielt in der Hand ein Bündel Wollsocken, die er verkaufen wollte. Dieser Mann änderte meine ganze Weltsicht. Ich erkannte in ihm den Menschenbruder.
Aus dem Sivas-Erlebnis entstand der Band Mutter Erde, 1950 erschienen, dem Jahr, in dem die Konservativen die Wahlen gewannen und den Reformen der Atatürkschen Republik den Kampf ansagten. Als mir Daǧlarca davon erzählt, halten wir wieder Gläser mit heißem Tee in Händen, nicht mehr unter den Platanen beim Büchermarkt. Wir sitzen auf dem langsam hin und her schwankenden Deck eines Bosporus-Dampfers. Sommer 1977. Es geht um das eine Thema, das ich wissenschaftlich notiere als ,Beseeltheit‘ und strukturale Verwandtschaft aller Inhalte des Universums:.
Was ihr Pappel nennt
Ist es nicht das Sich-Strecken
Eines durstigen Toten?
Daǧlarca weiß, daß ich ihn jetzt kenne und er nicht mehr so viel reden muß. Ich frage ein Wort, er murmelt, hebt die Hand, schleudert sie weg, senkt den Kopf. Dabei blickt er gleichzeitig streng nach oben. Ich lächle, nicke. So laufen unsere Dialoge. Den Brief eines, Literaturgeschichtlers mit fünfundzwanzig Fragen hat er in meiner Gegenwart zerrissen. Er hat mir alle seine Bücher geschenkt. Auch wenn es die letzten Exemplare waren. Mich bedrückt die Verpflichtung. Er ist immer traurig, grundsätzlich, gleichsam weltweit.
Ein Dichter muß sein Gedicht bezahlen. Mit Leben, mit Glück, mit Qualen, mit Liebe, mit Verantwortung.
Daǧlarca war fünfzehn Jahre Berufssoldat. Ist er ein Militarist? Ein Nationalist?
Atatürk – wir sind damals alle zu ihm geeilt. Es gab keine Alternative. Ohne ihn keine Türkei.
Und seine historischen Hohelieder auf die Schlacht von Mantzikert 1071 zum Beispiel oder die Eroberung Istanbuls 1453? Zeitalter sind „ineinanderliegende Rundungen“. Sie überlagern sich, bilden die Gegenwart.
Seit Zentralasien bin ich am Leben, frei
Waffe, Ich Pferd, Ich
Trotzdem, was wird aus der Erde, was wird die Zukunft sein?
Die Zukunft des Menschen ist nicht ein Zuwachs an Zeitdauer. Sie ist ein Zuwachs an Empfänglichkeit, an Vernunft, an Vernunftempfänglichkeit.
Das alles Daǧlarca. Sprache bergeweise. Sechs- oder achttausend Gedichte.
Sie laufen mir aus den Fingern.
Zu Hause weitere Berge von Manuskripten, in osmanischer Handschrift, unlesbar für Nachfahren.
Ich ordne sie nach drei Überschriften: Liebe – Gott – Tod.
Das Deck des Bosporus-Dampfers ist überfüllt. Städter mit Aktentaschen und Dörfler mit Bündeln. Daǧlarca zeigt auf einen Alten in einem abgerissenen Mantel.
Sieh mal, das ist er, der Menschenbruder aus Sivas. Für ihn sind wir da. Er wird uns nie lesen. Er wird nie von uns erfahren.
Wieder Schweigen. Das Schulterzucken, der strenge Blick.
Aber die Erde liest.
Ich zucke selbst mit den Schultern. Sätze, Mienen, Gesten, über das, was die Erde liest und wie man es schreiben soll.
Viel Übung ist nötig.
Ja, wenn der Vers wahr ist:
Andere entsteigen den Texten eines Nachts
Bedecken das Weltall, andere.
Die künftige Geburt aus dem Kehlkopf? Der Schöpfungsstift Allahs in der Hand des dichtenden Menschen? Wie auch immer, eine neue Welt.
Gisela Kraft, Sinn und Form, Heft 2, März/April 1982
Kai Agathe: Für Gisela Kraft, die Derwischa und Katzenfreundin
Das Blättchen, 27.6.2011
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