Felix Philipp Ingold: Aufs Wort (genau) – Ausser …

Aufs Wort (genau) – Teil 28

 

Teil 27 siehe hier

Ausser den eben genannten Wortformen, die ausschliesslich visuell zu erkennen und nutzbar zu machen sind, gibt es andere, viel weiter verbreitete, primär akustisch wahrnehmbare Anwendungen, die in der Prosa wie in der Poesie häufig praktiziert werden. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um assonantische Fügungen, zu denen als Spezialfall auch der Endreim gehört. Assonantische Wortverbindungen können sich wohl auch in der Alltagssprache einstellen, werden aber kaum je bewusst und in bestimmter Absicht bewerkstelligt. In literarischen Texten kommt ihnen eine wichtige formale Funktion zu, die sich auch auf der Bedeutungsebene auswirken kann.
Schon in der vorsokratischen Philosophie wie später in biblischen (vor allem alttestamentlichen) Texten können einzelne Wörter – oder Namen – als lautliche Attraktoren fungieren, die klangähnliche andere Wörter gleichsam an sich ziehen, um mit ihnen mehr oder minder weitläufige Assonanzen zu bilden. Solchen Gleichklängen wird (wie auf der Schriftebene den Anagrammen) oft ein bestimmter Sinn zugesprochen, auch wenn die gleich oder ähnlich lautenden Wörter semantisch nichts miteinander gemein haben. Wenn Friedrich Hölderlin Erde, Rede, Äther assonantisch engführt, ist das zunächst ein Klangereignis, das aber unwillkürlich auf eine möglicherweise dahinter liegende Bedeutung abgefragt wird. Ob es eine solche tatsächlich gibt, ob sie vom Autor intendiert ist oder ob die Assonanz einzig auf ästhetischen Kriterien beruht, muss von Fall zu Fall geprüft werden.
Klar ist, dass bei der Lektüre schwer verständlicher oder unverständlicher Texte (Orakel, Zauberverse, Kindersprache, hermetische Dichtung usf.) das Leserinteresse unwillkürlich auf deren klangliche Qualität sich verlagert, während bei leicht rezipierbaren Vorlagen gerade diese Ebene zumeist unbemerkt bleibt. „Wie man den Klang einer Sprache nur so lange hört, als man sie nicht versteht», hat dazu Arthur Schopenhauer in seinen «Pandectae» (§ 219.4) zutreffend notiert: «Weil das Bezeichnete das Zeichen aus dem Bewusstsein verdrängt …»

… Fortsetzung hier

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