Felix Philipp Ingold: Aufs Wort (genau) – Das …

Aufs Wort (genau) – Teil 15

 

Teil 14 siehe hier …

Das Interesse gilt im Folgenden lediglich den in literarischem Kontext relevanten Eigennamen, Namen mithin, die für die Literatur insgesamt und für einzelne Literaturwerke speziell von Bedeutung sind. – Das betrifft vorab den Namen des Autors, der bekanntlich nicht allein die Person bezeichnet, sondern auch (in mündlichem wie schriftlichem Wortgebrauch) das Werk. Der Name «Sue» oder «Musil» bezeichnet einerseits den jeweiligen Verfasser als Zivilperson, steht aber auch für einzelne seiner Werke beziehungsweise für sein Gesamtwerk. In diesem Verständnis lässt sich gleichermassen sagen, man lese «Die Mysterien von Paris» oder man lese (Eugène) «Sue», und wer den «Mann ohne Eigenschaften», womöglich auch das Musil’sche Gesamtwerk gelesen hat, wird – ohne irgendwelche Buchtitel anzuführen – sagen dürfen, er habe (Robert) «Musil» gelesen.
Diesem gravierenden, wenn auch weitverbreiteten Trugschluss ist einst Jean-Jacques Rousseau mit seinem Projekt einer rückhaltlosen Selbstentblössung («Confessions», 1766-1770) entgegengetreten: Der Autor (und sogar «die Lettern meines Namens») müssten gänzlich hinter den Text zurücktreten, damit dieser sich gewissermassen selbst aussprechen und Allgemeingültigkeit erlangen könne. Seltsames Paradox – rückhaltlose Offenheit bei gleichzeitiger Ausblendung des sprechenden Subjekts einerseits; andrerseits höchste Subjektivität und doppelter Anspruch auf Einzigartigkeit wie auf exemplarische Geltung. Eine eigens «erfundene», völlig «neue» Sprache sollte dieses paradoxale Projekt ermöglichen. Demzufolge hätte Rousseau seine «Bekenntnisse» (oder «Geständnisse») eigentlich anonym oder jedenfalls unter einem Pseudonym herausbringen müssen, er hat jedoch – noch ein Paradox – nicht ohne Eitelkeit an seinem bürgerlichen Namen festgehalten, wie im Übrigen die meisten seiner späteren Adepten und radikal exhibitionistischen Fortsetzer (Amiel, Rosanow, Leiris u.a.).

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