Felix Philipp Ingold: Aufs Wort (genau) – Die …

Aufs Wort (genau) – Teil 36

 

Teil 35 siehe hier

Die hier nur unzureichend dokumentierten Verfahren wortspielerischer Techniken, die für weite Bereiche der heutigen internationalen Sprachkultur charakteristisch, wenn nicht prägend geworden sind, waren lange Zeit der Dichtkunst vorbehalten und kamen nebenher in Sprichwörtern, Kalauern oder Kinderversen zur Geltung. Für die Gebrauchssprache und auch für die konventionelle Erzählliteratur hatten sie keine merkliche Relevanz. Fast ist man versucht, von «gesunkenem Kulturgut» zu reden, wenn man feststellt, mit welcher Selbstverständlichkeit heutzutage auch in durchaus kunstfernen Zusammenhängen höchst anspruchsvolle dichterische Verfahren brillant gehandhabt werden, während gleichzeitig – selbst bei der professionellen Literaturkritik – die Bereitschaft abnimmt, sich des angeblich «schwierigen» Genres der Lyrik anzunehmen.
Die Tatsache, dass auch komplexe Werbetexte problemlos verstanden werden, Gedichte jedoch mehrheitlich als hermetisch, selbstbezüglich und unzeitgemäss gelten, hat einen ganz einfachen Grund: Die Kalauereien der Werbung wie der politischen Rhetorik und generell der Spassgesellschaft unterstehen einer vorbestimmten Intention und sind immer nur auf eine – ebenfalls vorbestimmte – Bedeutung angelegt, derweil die Dichtung (und vorab die starke, die «schwierige» Dichtung) stets mehrere Lesarten zulässt, dabei aber den Leser in die Pflicht nimmt, ihn zu produktivem Verstehen und damit zu eigener Sinnbildung herausfordert. Das zielgerichtete Wortspiel, das seine Bedeutung, wenn nicht gar seinen Zweck unverkennbar herausstellt, erfüllt eine Funktion, macht aber keinen Sinn.

… Fortsetzung hier

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00