Felix Philipp Ingold: Aufs Wort (genau) – Eindrücklich …

Aufs Wort (genau) – Teil 9

 

Teil 8 siehe hier

Eindrücklich und beispielhaft bezeugt die russische Lyrikerin Anna Achmatowa den Vorrang des einzelnen Worts, einzelner Silben oder Laute bei der Gedichtentstehung. Diese formieren sich allmählich aus sprachlichen Elementarteilchen, die unwillkürlich aufkommen und zusammenfinden, bevor sie bewusst zu Versen und Strophen arrangiert werden. «Wenn sie ‘Verse komponierte’, war dies ein kontinuierlicher Prozess», berichtet Anatolij Najman in seinen Erinnerungen von 1989: «Ganz plötzlich – während der Replik eines Gesprächspartners, bei der Lektüre eines Buchs, beim Schreiben oder Lesen eines Briefs, beim Essen – begann sie mit erhobener Stimme (‘Singsang’) undeutliche Vokale und Konsonanten der aufkommenden Verse vor sich hin zu singen, die bereits ihren Rhythmus gefunden hatten. Dieses Rumoren schien einen eigenen Klang zu haben – es war der dem gewöhnlichen Gehör nicht wahrnehmbare stetige Sang der Poesie.» Dass dem Akt der Bewerkstelligung des Gedichts eine derartige, spontan eintretende Brabbelphase vorausgeht, wird vielfach auch von andern Autorinnen und Autoren bestätigt. – Die kanadische Dichterin und Altphilologin Anne Carson glaubt im «Wortlaut» (mehr als in der Wortbedeutung) eine individuelle Vernehmlassung zu erkennen; in ihrem Essay über «The Gender of Sound» hält sie fest: «Jeder Laut, den wir von uns geben, ist ein Stück Autobiographie. Er hat eine total private Innerlichkeit, auch wenn seine Zielrichtung äusserlich (public) ist. Etwas Inneres wird nach aussen projiziert.»

… Fortsetzung hier

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