dem Himmel
aaaaaa aaaaasein löchriges Dach
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaa aaaaadie Sternenpracht
Der japanische Dreizeiler – Haiku oder Hokku – ist heute, losgelöst von seiner sprachlichen und kulturellen Herkunft, weltweit bekannt, und dies nicht allein im Feld der künstlerischen Literatur, sondern auch unter Amateuren, die diese Textform ohne exklusiven Kunstanspruch als Spielvorlage nutzen – gewöhnliche Bastelei statt abgehobenes Dichtertum.
Über Jahrhunderte hin ist die Grundstruktur des Haikus (drei Zeilen mit je 5, 7 und nochmals 5 Silben) erhalten geblieben, bewahrt von Grossmeistern wie Sôkan, Bashô, Buson, Issa, Shiki, aber ebenso von überaus zahlreichen Gelegenheitsdichtern, für die der reguläre Dreizeiler keineswegs zur Hochkultur, sondern zur alltäglichen Geisteswelt gehörte. Wenn derzeit in Japan rund eine Million Menschen – fast ausschliesslich Männer – unter persönlicher Anleitung oder nach Lehrbuch Haikus verfassen und solche auch in entsprechender Menge publizieren, ist das ein bemerkenswerter Beleg für die anhaltende Popularität der traditionsreichen Textsorte. Inzwischen hat sich diese Popularität global ausgeweitet; sie wird aufrecht erhalten durch Haiku-Klubs, Haiku-Workshops, Haiku-Wettbewerbe, Haiku-Jahrbücher, -Almanache und -Anthologien, neuerdings gar durch digitale Haiku-Generatoren, die aus vorgegebenen Begriffen innert kürzester Zeit passable Dreizeiler komputieren.
Die Beliebtheit, die weite Verbreitung, die massenhafte Produktion von Haikus in unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen beruht wohl auf dem Faszinosum der einfachen Form und schlichten Thematik bei gleichzeitiger Vielfalt des Sinngehalts auf assoziativer Ebene, einem Faszinosum also, das der euroamerikanischen, oft als schwierig und elitär geltenden Poesie mehrheitlich abgeht. Prinzipiell darf und kann sich jedermann zumuten, Haikus abzufassen, sei es streng nach überlieferter Vorgabe, sei es nach eigenem Gutdünken – obligatorisch bleibt letztlich nur die Darbietung in drei Zeilen, derweil Silbenzahl und Motivwahl variabel sein können.
Thematisch bleibt das traditionelle Haiku auf alltagsweltliche Phänomene festgelegt, vorab auf kalendarische und meteorologische Momente wie Tages- oder Jahreszeiten, auf die Wetterlage, auf die Tier- und Pflanzenwelt, generell auf naturhaftes Geschehen, wobei dessen sinnliche Wahrnehmung jeglicher Deutung oder Bedeutung vorangehen soll. „Ein Prinzip der Haiku-Ästhetik ist, dass das Haiku ,nichts Spezielles‘ enthält“, erklärt der amerikanische Haiku-Poet John Stevenson:
Die Prämisse könnte sein: Was immer profund ist im Leben, ist auch präsent in den meisten gewöhnlichen Dingen.
Statt zu besagen und zu bedeuten, beschränkt sich das Haiku darauf, Wahrnehmbares, Wahrzunehmendes, Wahrgenommenes zu benennen und es solcherart sprachlich dingfest zu machen. Generell geht es um die Feststellung dessen, was hier und jetzt vorhanden ist oder in Erscheinung tritt. Emotionale Momente – Trauer, Freude, Trost, Wut, Sehnsucht, Begehren – werden im klassischen Haiku nicht eigens artikuliert oder gar kommentiert, und auch historische, mythologische und intertextuelle Bezüge bleiben ausgespart.
Dazu kommt, dass formale Besonderheiten dichterischer Rede (Assonanzen, Anagramme, Stab- oder Endreime usf.) für die Haiku-Poetik unerheblich sind. „Zuviel Schönheit, zuviel Worteffekt kann im Haiku von übel sein“, vermerkt dazu der Übersetzer Roger Munier. Der weitgehende Verzicht auf sprachliche Übertragung und Überhöhung (durch Vergleiche, Metaphern usf.), wie sie in westlicher Dichtung gang und gäbe sind, ist für das originale Haiku charakteristisch; denn sein Einzugsgebiet ist die aussersprachliche Welt, und nicht die Sprachwelt der Texte.
Unerheblich ist im Übrigen auch das Ich des Autors – es tritt diskret hinter das rapportierte Geschehen zurück, die Autorität gehört hier nicht dem Verfasser, vielmehr dem Gegenstand des Gedichts, der bei dessen Niederschrift wie von selbst sich konturieren soll als pure Artikulation des Realen. Angestrebt wird damit eine Unmöglichkeit, hochgehalten ein Paradox: Vermittels der Sprache soll eingeholt werden, was mit Worten nicht einzuholen ist. Das Haiku spricht aus, was es gleichzeitig zu verschweigen sucht.
In seinem Werkfragment über „Japanische Dichtung“ (ca. 1957) bestätigt Jürgen von der Wense die Tatsache, dass es hier „kein Ich“ gebe, „das alles in Subjekt und Objekt aufteilt“:
Alles ist ebenmässig temperiert, im grossen Es der Natur ausgeschlichtet und verwogen.
Das Haiku müsse „in Form und Inhalt völlig schlicht sein, leer – aber dann weiterschwingen im Hörer, der es eigentlich weiterdichtet und austönt“.
*
Das deutschsprachige Haiku, dessen nachhaltige Rezeption erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und dann auch – mit Autoren wie Karl Kleinschmidt, Manfred Hausmann, Hans Carl Artmann, Günter Eich und der Übersetzerin Anna von Rottauscher – rasch zu einem Trend wurde, lässt formal oft kaum noch etwas ahnen vom japanischen Modell. Die überwiegende Mehrheit deutscher Haiku-Lyrik – egal, ob Nachahmung oder Nachdichtung – erfüllt die vielfältigen Anforderungen der japanischen Poetik nicht. Wie weit davon abgewichen werden kann, zeigt beispielhaft eine Adaptation von Bertolt Brecht:
Der Bauer pflügt den Acker.
Wer
Wird die Ernte einbringen?
Auch Rainer Maria Rilke, der die „in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reife und reine Gestaltung“ des Haiku hoch zu schätzen wusste und schon um 1920 einige diesbezügliche Schreibversuche unternommen hat, bleibt vom Schema weit entfernt, wenn er einen Dreizeiler wie diesen ausarbeitet:
Kleine Motten taumeln schaudernd quer aus dem Buchs;
sie sterben heute abend und werden nie wissen,
daß es nicht Frühling war.
Nicht nur der Form nach strapaziert er das japanische Muster (mit 12 statt 5 Silben in der ersten Zeile und mit unnötiger Interpunktion), sondern auch durch die menschliche Emotionalisierung der Motten, deren angebliches „Schaudern“ keine reale Wahrnehmung ist, sondern eine dichterische Behauptung oder Erfindung. Dass die „kleinen Motten“ „schaudernd quer“ durch die Luft taumeln, ist eine für das Haiku viel zu üppige, letztlich pleonastische Formulierung, da ja doch alle Motten „klein“ sind und deren Taumeln nicht weiter präzisiert werden muss. Ein Zuviel an dekorativem Wortaufwand ist der Haiku-Dichtung in jedem Fall unangemessen. Wenn sich Rilke in diesem Fall als Verfasser zudem über das aktuelle natürliche Geschehen des Mottenflugs stellt, indem er den Tod der Motten vorhersagt und auch noch hinzufügt, was diese Motten „nie wissen“ werden, masst er sich eine Autorität an, die der Demut japanischer Dichter klar widerspricht und die auch faktisch unhaltbar ist, weil Motten weder wissend noch unwissend sind. Ebenso widerspricht dem japanischen Haiku-Konzept die von Rilke bewerkstelligte doppelte Verneinung („nie wissen, | dass es nicht Frühling war“), die als rhetorische Figur in der Wirklichkeit keine Entsprechung hat und die übrigens auch logisch nicht überzeugen kann.
*
Mit dem Verweis auf Rilkes eigenmächtigen Umgang mit Konzept und Form der Haiku-Strophe möchte ich an dieser Stelle meine eigenen diesbezüglichen Bemühungen gleichsam ex negativo rechtfertigen. „Haikulike“, der Gesamttitel der vorliegenden Sammlung, soll vorab klarmachen, dass die Dreizeiler lediglich in der Art von japanischen Haikus abgefasst wurden, und nicht streng nach deren poetologischem Modell.
Zwar habe ich die entsprechenden Vorgaben beim Schreiben präsent gehalten, sie teilweise – zumindest annähernd – auch erfüllt, doch habe ich mir dabei vielerlei Freiheiten herausgenommen, die dem Haiku völlig fremd sind oder ihm, sogar, prinzipiell widersprechen. Der häufige Einsatz von Wortspielen und Paradoxien, die Verwendung von poetischen Metaphern und philosophischer („abstrakter“) Begrifflichkeit, die gesuchte Nähe zum Aphorismus oder Sinnspruch, der gelegentliche Rückzug in mythologische, fiktionale, utopische Welten – für all dies gibt es in der Haiku-Dichtung keine Lizenz. Dennoch praktiziere ich es in meinen Dreizeilern nach Belieben. Der Normbruch gehört hier oft zum Bauprinzip, und jedes der Gedichte bleibt für unterschiedliche Lesarten offen. Vorab jedoch geht es mir (noch einmal mit Roger Munier) darum, „kommen zu lassen, was kommt – das Unerwartete und seinen jähen Zauber zu bewerkstelligen“.
Felix Philipp Ingold, Nachwort
Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012
Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie
Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012
Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022
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