GENIALITÄT WAR GESTERN –
DER MODERNE DICHTER IST EIN TECHNISCHER BASTLER
– Gutes literarisches Schreiben wird seit geraumer Zeit nicht mehr als schöpferischer Akt verstanden. Vielmehr steht die Beherrschung des Sprachmaterials im Zentrum. In heutigen Copy-Paste-Techniken ist das exemplarisch zu sehen – doch die Kreativität geht darob nicht völlig verloren. –
„Gut schreiben“, so dekretierte einst der Dichter und Poetologe Ezra Pound, „ist ein Vorgang, den der Schreibende gänzlich in der Gewalt hat.“ Der Schreibende – damit ist hier der Autor der europäischen Moderne gemeint, der sein Metier unaufgeregt als eine Technik oder ein Handwerk praktiziert, statt sich, wie zuvor während Jahrhunderten üblich, auf Inspiration, Enthusiasmus und Ausdrucksrausch zu verlassen. Das Schreiben zu „beherrschen“, mithin die Sprache „in der Gewalt“ zu haben, ist für die formalistische Wort- und Erzählkunst des 20. Jahrhunderts zum kaum noch hinterfragten Credo geworden: Genialität galt als obsolet, wurde herablassend mit Musendienst und Bauchgefühl in Verbindung gebracht, derweil sich der avancierte Dichter als souveräner Macher zu erkennen gab.
Wenn Pound in seinem Manifest von 1913 das „gute Schreiben“ wiederholt mit „vollkommener Beherrschung“ gleichsetzt, imaginiert er den „serious artist“ als einen durch und durch rationalen, selbstgewissen Formkünstler, der über exzellente Materialkenntnisse wie auch über entsprechende technische Fertigkeiten verfügt und demzufolge auf keinerlei Eingebung angewiesen ist. Der Dichter gewinnt damit eine zeitgemässe Statur und Funktion als Textproduzent, verliert aber seinen Nimbus als inspirierter Sprachschöpfer – der literarische „Ingenieur“ löst den poetischen „Genius“ ab. Die Dichtung als solche erweist sich bloss noch als gekonnt angewandtes „erweitertes“ Sprachmaterial.
Zahllose Selbstaussagen modernistischer Autoren bestätigen (und belobigen) diesen Sachverhalt. T.S. Eliot bringt ihn ex negativo wie folgt auf den Punkt:
Würde man darauf dringen, dass der Dichter spontan und unreflektiert sein, dass er sich auf die Inspiration verlassen und die Technik vernachlässigen solle, so wäre dies der Rückfall aus einer hochkultivierten in eine barbarische Haltung.
Damit ist – plausibel und diskutabel zugleich – ausgesprochen, was für die Poesie der klassischen Moderne insgesamt (und auch noch für weite Teile zeitgenössischer Literatur) Geltung hat.
Gottfried Benn hat diese Geltung in seinem Grundsatzreferat über Probleme der Lyrik (1951) dezidiert unterstrichen und sich selbst als Beispiel, wenn nicht als Prototyp des „verfügenden“ Autors herausgestellt. „Diese meine Sprache“, so erklärte er damals, „steht mir zur Verfügung. Diese Sprache mit ihrer jahrhundertealten Tradition, ihren von lyrischen Vorgängern geprägten sinn- und stimmungsgeschwängerten, seltsam geladenen Worten. Aber auch die Slang-Ausdrücke, Argots, Rotwelsch […], ergänzt durch Fremdworte, Zitate, Sportjargon, antike Reminiszenzen, sind in meinem Besitz.“
Was Benn hier ausführt, gilt – mehr noch als für ihn selbst – für den Grossteil internationaler Gegenwartsliteratur, und zwar für Poesie und Prosa gleichermassen. Google und Wikipedia machen es möglich, beliebige Fakten aus beliebigen Wissensbereichen und Geschichtsepochen abzurufen und sie mit alltagsweltlichen oder autobiografischen Versatzstücken zu synthetisieren. Das wird von preisgekrönten Lyrikern unserer Tage ebenso wie von Erfolgsbelletristen praktiziert: Wiki-Poesie und Google-Prosa haben sich auf breiter Front durchgesetzt, finden bei Kritik und Publikum gleichermassen Anerkennung.
Wenn noch vor ein paar Jahrzehnten die literarische Praxis – man denke an den Nouveau Roman, die konkrete Poesie – als „Technik“ und der Autor als „Ingenieur“ oder als „Handwerker“ haben charakterisiert werden können, so ist an deren Stelle nun eine Textproduktion getreten, die sich pauschal als „Bastelei“ bezeichnen liesse, ein Verfahren nach dem weithin geläufigen Prinzip des Copy-and-Paste, das jedes „schöpferische“ Künstler- beziehungsweise Dichtertum obsolet werden lässt, gleichzeitig aber auch jeden Textproduzenten als „Autor“ in sein Recht setzt. Joseph Beuys’ hochgemutes Diktum, wonach „jeder ein Künstler“ sei, scheint sich damit weitgehend bewahrheitet zu haben.
Dass Copy-and-Paste zum dominanten Verfahren heutiger Trendliteratur geworden ist, bezeugen seit Jahren zahlreiche Debütanten mit bemerkenswerten, wenn nicht gar „sensationellen“ Erstpublikationen, aber auch gestandene, vielfach prämierte Belletristen, die ihre Schreibarbeit in öffentlichen Statements entsprechend kommentieren. Ferdinand von Schirach, erfolgreicher Verfasser von Kriminalgeschichten und narrativen Gerichtsberichten, pflegt seine Storys aus mehreren dokumentierbaren „Fällen“ zusammenzuschneiden und daraus jeweils einen exemplarischen Text zu montieren.
Arno Geiger kopiert in seinem jüngsten Erfolgsroman Unter der Drachenwand Archivmaterialien, private Papiere und Zeitdokumente, um daraus ein Epochenbild zu erstellen. Natascha Wodin besteht darauf, dass ihre mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Familiensaga „ausschliesslich“ aus Fremdtexten montiert sei, und Ähnliches berichtet neuerdings Ursula Krechel zu ihrer Dokufiktion Geisterbahn, die über viele hundert Druckseiten hin das Schicksal der Sinti und Roma unter nationalsozialistischer Repression in der Gegend von Trier vergegenwärtigt.
Zahlreiche weitere Beispiele liessen sich für diese aktuelle Technik des Nach- und Umschreibens namhaft machen, doch darob könnte in Vergessenheit geraten, dass ebendiese Technik eine lange literarische Tradition hat und mehr als dies – sie ist für die Entstehung von Literatur schon immer konstitutiv gewesen, wenn auch nicht so offenkundig, wie es gegenwärtig der Fall ist. Dass das Schreiben von Texten stets das Lesen von Texten voraussetzt, dass also Texte primär aus andern Texten (und nicht etwa aus dem „wahren Leben“) entstehen, ist eine Binsenweisheit, die für alle Literatur seit ihren Anfängen Geltung hat.
Die Anthologie als kompilative „Blütenlese“ aus Fremdtexten gehört zu den ältesten Buchkonzepten überhaupt, das Neue Testament kompiliert vier Evangelien zu einer integralen Heilslehre, und Diogenes Laertios hat im 3. Jahrhundert mit seinem zehnbändigen werkbiografischen Kompendium zum Denken und Dichten antiker Autoren dargetan, wie Lehren und Themen von Buch zu Buch weitergeleitet, variiert und durch den Kunstgriff des Zusammenschneidens immer wieder neu angeeignet wurden, ohne dass man dieses Vorgehen als plagiatorisch gerügt hätte.
Als exemplarisch für dieses anthologische Verfahren können auch die Märchen der Brüder Grimm und Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums gelten, die als geschönte und geschickt arrangierte Kompilate zu eigenständigen Textsorten geworden sind. Am Eingang zur Moderne hat dann der russische Schriftsteller Leo Tolstoi diese Tradition erneut aufgenommen, indem er mehrere umfangreiche Werke aus willkürlich ausgewählten Fremdtexten komponierte.
Es lag und es liegt ganz einfach in der Natur der Sache, dass das Schreiben sich als ein Akt des Nachschreibens, des Überschreibens, des Fortschreibens vollzieht. Copy-and-Paste ist lediglich ein anderer Begriff dafür und bietet sich als eine technisch perfektionierte Verfahrensform an, die man heute bedenkenlos als „uncreative writing“ bezeichnet – als wäre sie der radikale Gegenzug zum herkömmlichen „kreativen Schreiben“, und als sei damit die postmoderne Saga vom „Verschwinden“, ja vom „Tod“ des Autors definitiv besiegelt.
Doch das ist keineswegs der Fall. Copy-and-Paste mag ein „unkreativer“ mechanischer Vorgang sein, ganz und gar autorlos ist er gleichwohl nicht. Auch wenn das Kopieren und Neu-Zusammenfügen an sich keine „schöpferische“ Leistung darstellt, ist es doch jedes Mal auf jemanden angewiesen, der entscheidet, was zu kopieren ist und wie es anschliessend kompiliert werden soll. Kein Kompilat gleicht dem andern, jeder Kompilator legt ein unverwechselbares Werk vor – freilich nicht sein Werk, nicht sein Original, sondern ein Arrangement aus Fremdtexten, das er selbst bewerkstelligt hat und das in der jeweiligen Zusammensetzung nur einmal existiert, nicht anders als ein Werk von angeblich „genialer“, völlig eigenständiger Machart.
Ob so oder anders − literarische Autorschaft bleibt auf einen subjektiven Akt der Dekonstruktion beschränkt: Vorgegebene Fremdtexte werden zerlegt, um aus ihren Teilstücken eine neue, selbsttragende Form entstehen zu lassen. Teilstücke – das können Exzerpte oder Zitate sein, einzelne Motive oder Metaphern, literarische Gestalten und narrative Episoden, die bald „organisch“, bald „mechanisch“ zusammengeführt werden. In beiden Fällen gibt sich der „Autor“ eben dadurch zu erkennen, wie er diese Zusammenführung bewerkstelligt. Exemplarisch kommt dieses Verfahren in Ovids Metamorphosen wie auch im Ulysses-Roman von James Joyce zum Tragen, doch ist es, mehr oder minder diskret gehandhabt, in aller Literatur – Trivialbelletristik und Kunstdichtung gleichermassen − als formbestimmender Faktor zu beobachten.
Ob Kompilation oder Komposition – aus dem Arrangement vorgefundener Materialien und nicht aus der „Schöpfung von Neuem“ erwächst das, was „Personalstil“ genannt wird.
Bemerkenswert ist nun, dass die Verabschiedung des „schöpferischen“ Autors und die Disqualifizierung des „originalen“ Kunstwerks selbst bei den konsequentesten Formalisten der Moderne gewisse Verlustgefühle erwirkt haben. Auch wenn man genau zu wissen glaubte, wie ein Erzähl- oder Gedichtwerk zu machen ist und welche Techniken dafür geeignet sind, war doch auch klar, dass es ausser den entsprechenden Fertigkeiten einen kleinen „schöpferischen“ Restimpuls braucht, um das rationale „Handwerk“ des Dichters als Kunstwerk zu beglaubigen. Nicht dass deswegen auf die Dienstbarkeit einer Muse oder gar auf göttliche Inspiration Bezug genommen worden wäre, auffallend ist aber, wie oft formalistisch engagierte Autoren eben dennoch, zumindest beiläufig, auf den verborgenen kreativen Impetus ihrer Schreibarbeit verweisen.
Ezra Pound tut es an einer Stelle, indem er – entgegen seiner technizistischen Poetik – die Entstehung eines Dichtwerks mit dem Erwachsen einer Eiche aus der Eichel vergleicht. Paul Valéry gibt immerhin zu, dass es ausser den von ihm geforderten „kalkulierten“ Versen immer wieder einen „vorgegebenen“, „geschenkten“ Vers geben müsse, damit das Gedicht sich als Kunst behaupte. Marina Zwetajewa, herausragende Formkünstlerin des russischen Modernismus, besteht darauf, dass Dichtung „geboren“ werden müsse, also nicht bloss ein Artefakt sein könne. Aller Dekonstruktion, Montagetechnik und Bastelei zum Trotz scheint eben doch der Glaube an eine geheime, unkontrollierbare genetische Triebkraft literarischer Arbeit fortzubestehen.
Unter diesem Gesichtspunkt verliert der einstige Musenkult ebenso wie der Kult um das schöpferische Originalgenie einiges von seiner Peinlichkeit, und umgekehrt erfährt der gegenwärtige Hype um die „unkreative“ Kunst- und Textproduktion eine gewisse Relativierung. Denn ohne einen Minimalanteil an subjektiver, unreflektierter, also spontaner, auch riskanter Kreativität scheint authentisches künstlerisches Tun nicht auszukommen, ganz gleich, welchem Epochenstil und welchen technischen Verfahrensweisen es verpflichtet ist.
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