KÜRZE MIT UND OHNE WÜRZE
– Der Trend zum Minimalismus prägt den aktuellen Sprachgebrauch. –
Einen Sachverhalt „kurz und bündig“ auf den Punkt zu bringen und darüber hinaus, soweit möglich, die „Kürze mit Würze“ anzureichern, ist ein althergebrachter Grundimpuls des Sprachgebrauchs. Entsprechend häufig begegnen – heute mehr denn je − in spontaner Rede und Niederschrift abgekürzte Begriffe, unvollständige Sätze, simplifizierende Vergleiche, undifferenzierte Superlative, mithin Defekte und Defizite, die in gepflegter Schriftsprache tunlichst vermieden werden.
Die durch eine Vielzahl neuer Medien vorgegebenen Kommunikationskanäle und Kommunikationstechniken verstärken nun offenkundig diesen Trend, indem sie – man denke an WhatsApp, Twitter und andere Kurznachrichtendienste – die Informationsübertragung quantitativ stark einschränken, so stark, dass die althergebrachte Tendenz zur Kürze nun sichtlich zu einem Kürzungszwang mutiert. Bei Twitter wie bei elektronischen Kommentar- oder Kundenformularen weiss man genau, wieviele – wie wenige − Zeichen maximal eingegeben werden können, man lässt sich auf die Beschränkung ein und legt es naturgemäss darauf an, den zur Verfügung stehenden Zeichenbestand trickreich zu nutzen.
Dies geschieht nicht allein durch grammatikalische und syntaktische Regelbrüche oder durch die Verwendung von Kurzformen aller Art (darunter, besonders privilegiert, #hashtags), sondern mehr und mehr auch durch den Einsatz von Icons und Emojis, die jeweils auf einen Blick die übermittelte Nachricht erkennen lassen. Sprachliche Zeichen verlieren damit an Interesse und Bedeutung, während einfache, problemlos einsetzbare und entzifferbare Bildsymbole an Effizienz wie an Beliebtheit deutlich gewinnen.
Der Gebrauch solch moderner Hieroglyphen – von der Sanduhr über das tränende Herz bis zum Smiley – setzt keinerlei syntaktische Fügung voraus, er bleibt auf schlichte Setzung oder additive Reihung beschränkt, vermag also weder eine Zeitenfolge (vorzeitig, nachzeitig) festzuhalten noch eine Kausalität oder eine Konsequenz, wie es bei gewöhnlichen Nebensätzen (mit „weil“, mit „so dass“) der Fall ist. Doch solche Defizite scheinen für Smartphone- oder Tabletnutzer derweil ohne Belang zu sein. Der Kurznachrichtendienst selbst ist als Begriff zusammengeschnurrt auf das Kürzel SMS (deutsche Verbform: „essemesseln“ bzw. „SMSeln“), von dem kaum jemand noch weiss und auch niemand wissen muss, auf welchen ursprünglichen Wortbestand es sich bezieht, dies umso weniger, als neuerdings WhatsApp die entsprechende Funktion übernommen hat.
„Unsere Zeit ist die Kürze“ – das hatte schon in den 1930er Jahren die Dichterin Marina Zwetajewa notiert, ein Daseinsgefühl, das sich seither beängstigend intensiviert hat und heute unter einem generellen Beschleunigungszwang sich auszuleben scheint. Der Sprachgebrauch (und in der Folge auch die literarische Sprachkultur) hat jenes „Gefühl“ und diesen „Zwang“ inzwischen weitgehend verinnerlicht – das „Kürzel“, wie auch immer bewerkstelligt, ist heute als vollwertiges sprachliches Zeichen etabliert, und es wird keineswegs bloss von privaten Nutzern eingesetzt, sondern auch von der Werbeindustrie und von der Politik, die ihre Botschaften meist auf knappem Raum (Plakate, Inserate, Abstimmungsparolen, Internetbanner, Facebook- oder Instagram-Posts usw.) beziehungsweise in kürzester Zeit (TV-, Radiowerbung) einrücken müssen: Jeder Zentimeter, jede Sekunde zählt und muss bezahlt werden.
Die zeitliche und räumliche Kompression des sprachlichen Ausdrucks wird auf unterschiedliche Weise bewerkstelligt, sie kann als spontaner Sprechakt erfolgen oder als Ergebnis eines ausgeklügelten Sprachdesigns. Dem Sprechenden wie dem Angesprochenen ist dabei jederzeit klar, welche Bedeutung – welche Botschaft – die freigesetzten Wort- und Satzpartikel mit sich führen. Das gilt in der Werbung genauso wie bei Demonstrationen oder Protestmärschen. Die eingesetzten Slogans sollen ihrer Aussage und ihrem Klang nach besonders eingängig und leicht zu memorieren sein: „Keine Kohle für Kohle!“ (gegen die Subventionierung des Braunkohleabbaus) oder „No deal is ideal!“ (gegen einen Brexitvertrag). Für ganze Sätze mit Subjekt und Prädikat ist da kein Platz mehr − kompakte sprachspielerische Fügungen verlauten als akustische Signale, die ungewöhnlich, bisweilen geradezu poetisch klingen und gleichwohl die präzise zielgerichtete Übertragung bestimmter Informationen gewährleisten.
Eine besondere, auch besonders häufige Form der Verknappung stellt das Akronym dar. Bei diesem althergebrachten, neuerdings wieder gern eingesetzten Verfahren werden die Anfangsbuchstaben einer vorgegebenen Wortfolge oder eines mehrgliedrigen Namens separiert und zu einem eigenständigen Lettern- beziehungsweise Lautgebilde zusammengefügt. Solch künstliche Neubildungen setzen sich im besten Fall als autonome Begriffe durch (vgl. UNO, NATO, UNICEF, EDA, AIDS, LASER, LOL, VIP usw.) und gelangen so als eigenständige Begriffe ins Wörterbuch, meistens aber bleibt es bei einer unverbundenen Buchstabengruppe wie SMS, EDV, USB, SUV, CEO, BMW, NRW, NGO. – Der oder die PC hat derweil die ungewollte, eher verwirrliche Doppelbedeutung von „personal computer“ und „political correctness“ angenommen. Akronyme dieses Typs werden wohl zusammenhängend geschrieben, können aber nur im Staccato und nicht als selbständige Kunstbegriffe gesprochen werden.
Wie beliebt derartige Kürzel heute sind, wie rasch sie aufkommen und wie zeitsparend ihre Verwendung ist, wurde unmittelbar ersichtlich, als Annegret Kramp-Karrenbauer in Berlin zur Generalsekretärin der CDU gewählt wurde: Noch am gleichen Tag hat man ihren zungenbrecherischen Namen in den Medien akronymisch auf AKK verschlankt. Entsprechend firmiert die bei den jüngsten Midterms neu in den US-Kongress gewählte demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez unterm Kürzel AOC.
Akronyme sind zum Standard heutiger Kürzelsprache geworden und finden neuerdings auch breite Verwendung in der Rapmusik. Das gilt sowohl für die Künstler- wie für Gruppennamen (vgl. Afrob, B-Tight, Basstart, Deine Eltan usw.) als auch für Liedtitel (vgl. beispielshalber https://www.villagevoice.com/2011/02/01/top-ten-greatest-rap-acronym-anthems/), und ebenso funktioniert es in der Alltagskommunikation, die klischeehafte Aussagen wie „you only live once“ (YOLO), „greatest of all time“ (GOAT) oder „fear of missing you“ (FOMO) akronymisch auf den Punkt bringt. − Besonders sinnreich sind derartige Kürzel dann, wenn sie sich gleichzeitig als ein Begriff mit entsprechender Bedeutung gebrauchen lassen. So ist PEN nicht nur die Abkürzung für „Poets Essayists Novelists“, sondern auch das altbekannte Wort zur Bezeichnung des Schreibgeräts („pen“, engl. für „Feder“). Ausschliesslich auf der Schriftebene funktioniert ein in Kurznachrichten gern verwendetes Kürzel wie R U OK? Gesprochen wird die Lautfolge (englisch) wie ARE YOU OK? Die Schriftform ist also deutlich knapper als die Aussageform.
Einen frühen Sonderfall stellen die lautspielerischen Typenbezeichnungen ID und DS des Autoherstellers Citroën dar, die französisch als „idée“ (Idee) beziehungsweise als „déesse“ (Göttin) auszusprechen sind – eine linguistische Werbeidee der 1960er Jahre, die als Grundimpuls für das nachmalige internationale Sprachdesign gelten kann. Dass zu jener Zeit in Paris die formalistische Dichtkunst der Oulipoten (Werkkreis für potentielle Literatur) mit ebensolchen Sprachspielen Furore machte, bestätigt die Affinität zwischen kreativer Werbesprache und avantgardistischer Poesie, wie überhaupt die unterschiedlichsten sprachlichen Kürzel oftmals (wohl unbewusst) auf dichterische Vorbilder zurückgehen.
Im alltäglichen Sprachgebrauch (soziale Medien und Gratispresse inbegriffen) werden Verkürzung und Beschleunigung mehrheitlich durch Einzelbegriffe beziehungsweise Einwortsätze bewerkstelligt. Vorab der einsilbige Ausruf oder die Befehlsform kommen dabei zum Zug: WOW! HIP! OUT! LOS! FUCK! GEIL! UPS! BINGO! usw. − Eine besonders ingeniöse, vielfach nachgeahmte Neubildung dieser Art ist das schon ältere Modelabel JOOP!, das den Namen des Firmengründers wie eine Befehlsform oder einen Aufruf optisch zur Geltung bringt.
Generell werden Superlative gern zur Verallgemeinerung und Verknappung expliziter Aussagen eingesetzt. Es ist ein Leichtes, ein Produkt oder eine Person ganz oben auf die Liste der „Besten“ zu setzen, um damit eine singuläre Sonderstellung zu markieren, statt deren jeweilige Qualitäten argumentativ oder dokumentarisch aufzuzeigen. Das „beste“ Buch, den „besten“ Wein, das „beste“ Ferienziel der Saison, des Jahrgangs, des vergangenen Jahrzehnts oder unseres Jahrhunderts herauszustellen, ist eine zwar effiziente, aber in keinem Fall faktisch belegbare Empfehlung – was übrigens auch umgekehrt auf das „schlechteste“ Produkt und die Pauschalkritik daran zutrifft.
Zur Sprachverknappung finden nicht zuletzt so beliebte Wortelemente wie MEGA, SUPER, EX, EXTRA, MONO, HETERO, HOMO, PYRO, XENO, POP u. a. m. Verwendung, Rumpfbegriffe also, die emotional beliebig aufgeladen und als Reizwörter oder Kollektivbegriffe gebraucht werden können. Bemerkenswert ist bei diesen geläufigen Kürzeln, dass sie aus fremden, ja „toten“ Sprachen (Latein, Altgriechisch) hergeleitet sind und dass den Nutzern ihre ursprüngliche Bedeutung zumeist gar nicht mehr geläufig ist. Aber das ist auch nicht nötig, es genügt, die Kurzform als solche zu verinnerlichen − ihre Bedeutung ist im jeweiligen Letternbestand angelegt und schwingt assoziativ jederzeit mit.
So hat sich etwa die im Deutschen gebräuchliche Grössenangabe XL (extra large für „sehr gross“) von ihrer lateinisch-englischen Herkunft völlig abgelöst, ohne dass dadurch ihr Verständnis erschwert würde. Anderseits wird neuerdings − mündlich wie schriftlich − die Kurzformel „& Co.“ eingesetzt (gesprochen: „und Ko“), die einst bei Firmenbezeichnungen gang und gäbe war (z. B. „Müller & Co.“ für Müller und Compagnie oder Compagnons) und die nun soviel bedeuten soll wie „und andere“, „und Ähnliches“. In solchem Verständnis ist dann etwa – an der Grenze zum Komischen − die Rede von „Bienen, Hummeln & Co.“ oder von umweltschädlichen „Abgasen, Kunstdünger, Feinstaub & Co.“
Weit komplexer, dennoch leicht nachvollziehbar sind sprachliche Kurzformen, die durch Kontamination (Verschränkung) gewonnen werden, mithin dadurch, dass aus zwei oder mehr Wörtern willkürlich ausgewählte Versatzstücke (einzelne Buchstaben, Silben, Endungen) neue Einzelbegriffe geschaffen werden, beispielsweise aus „global English“ – GLOBISH, aus „password harvesting“ (Passworte sammeln) und „fishing“ (Angeln, Fischen) – PHISHING, ein heute international gebräuchliches Kunstwort zur Benennung von Datenfälschung und Datendiebstahl im Internet.
Vergleichbare Neubildungen finden sich in grosser Zahl bei der Bezeichnung von Firmen und Institutionen: REATCH als Namenskürzel für „Research and technology in Switzerland“, TENOR als Titel einer Schriftenreihe („Text und Normativität“), STUBE für „Studien- und Beratungsstelle“ (Erzbistum Wien). − Weit vertrackter noch ist die kontaminierte Portalbezeichnung „OkCupid“ einer Website für Partnersuche: „Ok!“ und „occupied“ und „Cupid“ (Amor) gehen hier eine hochkompakte, dabei unmittelbar einleuchtende Verbindung ein.
Auch längst bestehende Begriffe lassen sich nachträglich umdeuten oder ins Mehrdeutige verfremden durch dieses Kontaminationsverfahren. So kann sich das französische Wort „masculin“ in feministischer Lesart unversehens als eine (fiktive) Verknüpfung von „masque“, Maske, und „cul“, Arsch, erweisen, oder man geht (wie vor einiger Zeit in Augsburg) auf die Strasse, um unter dem Motto THEJATER – „Ja!“ zum „Theater“ – für die Renovation der städtischen Bühne einzutreten. Mit dem Aufruf EURO PARAT! soll der „Europarat“ zu vermehrtem Einsatz in der BREXIT-Debatte angehalten werden.
Bei einer wirtschaftskritischen Kundgebung in Frankfurt hat man den Slogan UMFAIRTEILEN! mitgetragen, der die doppelte Forderung nach „Umverteilung“ und nach „fairem Teilen“ in einem einzigen Wort unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Der Slogan richtete sich an die Bankenwelt von MAINHATTAN, sollte mithin die Finanzplätze Frankfurt am Main und Manhattan gleichermassen betreffen und darüber hinaus – symbolisch – den globalen „Raubritterkapitalismus“. Auch das im selben Kontext eingesetzte Kürzelwort INWASTEMENT (aus „to waste“, vergeuden, und „investment“) steht exemplarisch für die heute weit verbreitete Technik sprachlicher Kontamination, und die Verunglimpfung von Flüchtlingen („refugees“) als RAPE-FUGEES (Vergewaltiger) gehört zur alltäglichen Twitter-Rhetorik der Trump’schen Administration.
Dass solch ebenso schlichte wie raffinierte Begriffs- und Buchstabenspiele heute ganz rasch populär werden können und dass sie auch sofort in den sozialen Medien Verbreitung finden, lässt auf eine hohe lautsprachliche Sensibilität schliessen. Doch womöglich geht es hier nicht bloss um die Kürze und Bequemlichkeit des sprachlichen Ausdrucks. Die präzise Wahrnehmung sinnlicher Sprachqualitäten (Klang, Rhythmus) sowie deren produktive Umsetzung zu immer wieder neuen Wortschöpfungen könnte durchaus ein kompensatorischer Gegenzug sein zum weithin beklagten Schwund sprachlicher Korrektheit im schriftlichen wie im mündlichen Gebrauch. Allerdings wird ein blosser Gegenzug, bei dem sich das Interesse der Sprachteilnehmer vom Satzbau und von der kohärenten Aussage auf das noch so witzige Wortspiel verlagert, jenen Schwund nicht ausgleichen können.
Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Publizist und Übersetzer in Romainmôtier; jüngst erschien sein Roman „Die Blindgängerin“ (2018), demnächst folgt der illustrierte Kunstessay „Körperblicke“ (2019, beides bei Ritterbooks).
Schreibe einen Kommentar