Felix Philipp Ingold: Märzember

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Felix Philipp Ingold: Märzember

Ingold-Märzember

TRAUERN heißt ganz
Ohr sein für die niegehörte
Dauer. Für den Ton
der fehlt wo immer jetzt
das Ende lautet.

Zeitversetzt verblühn
die Farben und Vokale die
den einen Namen meinen also
unerhört die Mitte
und keine Blöße ahnungslos.

 

 

 

Märzember –

der Titel von Felix Philipp Ingolds Gedichten und Sprüchen der jüngsten Zeit mag ein diskretes Programm sein: Gegensätzliches, Unvereinbares, naturgemäß Getrenntes wird zusammengeschnitten – Frühling, Herbst, Winter als hybride, ganzheitliche, nicht mehr getaktete Jahreszeit. So wie hier Grenzen verschwimmen in der Epoche des Klimawandels und der großen Migrationen, so schwinden allgemein die Konturen. Gleichmacherei und Profillosigkeit greifen um sich, prägen auch die Geisteswelt. Fakes und Realität vermengen sich bis zur Ununterscheidbarkeit, Robotik und andere Künstliche Intelligenzen bestimmen zunehmend unsern Alltag, und – so heißt es in einem der Gedichte – „am Horizont | die Helle einer kommenden | Welt die wir wirklich schön hinter uns | haben.“ Ähnlich paradox wirken viele der hier vereinigten Gedichte und Sprüche aus den Jahren 2022 bis 2015, eine Sammlung poetischer Statements, deren Sprach- und Spruchform frei fluktuiert zwischen Kolloquialität und hohem Ton, Wortwitz und Skepsis.

Arco Verlag, Klappentext, 2024

 

Poesie und Prosa: fliessende Grenzen

– Klaus Merz, Zsuzsanna Gahse, Felix Philipp Ingold. –

Nie nicht bei Ingold

Wo Klaus Merz zur kleinsten Form tendiert und Zsuzsanna Gahse ihre Beobachtungen streng zeilenweise ausrichtet, neigt Felix Philipp Ingold in seinem Band  Märzember  zu einem ausschweifenden, ja zuweilen ekstatischen Zeichen- und Zeilenfluss. Auf über 200 Seiten mischen sich bei ihm lockere Spruchweisheiten, bedachte Wortspiele, präzis gesetzte Zeilen zu einem lyrischen Parlando, das sich an den inhaltlichen Motiven Nacht, Finsternis, Abgrund und Tod ausrichtet. Der titelgebende „Märzember“ wird zum Begleiter des Winters, indem er den Sommer unausgesprochen ein- und verklammert.

Denn nie
hat die Sonne keinen Erfolg. Niemals
kriegt sie ihre Nacht zu sehn.
Und wird für immer so schön scheinen
dass keiner jemals ihren Tod
bemerkt.

Charakteristisch an diesem Zitat ist die doppelte Verneinung nie-nicht, die dem Band eine befangene Affirmation verleiht, mit der „die schlechte Hiesigkeit – meist Realität genannt“ bedacht wird. Gleich anschliessend:

Das Verstehn kommt (wenn’s kommt) hakenschlagend nie nicht hinterher

Ins selbe Motiv stossen die Zeilen:

Zu trauen
ist einzig den Schatten – sie schaffen
das Licht und behaupten
die Sonne.

Sie stammen aus dem vielleicht schönsten Kapitel „Mit andern Worten (wie denn sonst)“. Darin schliesst sich ein vielstrophiges Gedicht um (kursiv angezeigte) Zitate aus Kafkas Werkentwürfen und Tagebüchern, in denen die düstere Motivik mit einem verspielt elegischen Tonfall kontrastiert.
Dichterische Anleihen (etwa bei Rimbaud), philosophisches Blinzeln, Wortwitz („Unterstand – von understatement“) und ein allgegenwärtiges Memento mori kugeln lebhaft durcheinander. So erweckt dieser Band mit Texten aus den Jahren „2022 bis 2015“ übers Ganze hinweg einen impulsiven, zugleich unkonzentrierten Eindruck, getreu dem, was Ingold ganz zuletzt bemerkt:

Mir kommt’s mehr auf das Schreiben an als auf’s Geschriebene.

Ausgerechnet der strenge Formalist Ingold lässt es hier an Formstrenge vermissen. Die Gedichte fransen gerne ins leichthin Hinzugefügte aus und und erwecken den Eindruck des spontan Hingeworfenen. „Oft wissen Kalauer mehr / als die älteren Weisheiten“ – mag sein, aber sie klingen nicht selten auch unausgegoren bis zum „Gehtnichtmehr“ (einer gern verwendeten Redefigur). Ingolds Gedichtband bleibt so ein Buch zum punktuellen Hineinlesen, mal hier, mal da, serendipitös, auf der Suche nach Sentenzen, die im entsprechenden Moment perfekt passen: „im Fall der Fälle“ – und durchaus verwandt mit Klaus Merz’ „unsere Aufgabe bleibt die Aufgabe“.

Beat Mazenauer, viceversa littérature.ch, 4.12.2023

Felix Philipp Ingold: Märzember. Sprüche und Gedichte

Der Schriftsteller Felix Philipp Ingold, geb. 1942, der in vielen Rollen tätig ist: als Kulturkorrespondent und Rezensent, Übersetzer, Herausgeber und Slawistikprofessor, hat seit vielen Jahren, genauer seit Haupts Werk (1984), eine Beziehung zur Gattung des Aphorismus, primär wie sekundär. Das habe ich zuletzt aus Anlass zweier Bände, Aus beliebiger Prosa. Ein Hundert Lesespäne (2019), einer eigenständigen, der Intention des Autors gemäßen Aphorismensammlung jenseits der ursprünglichen Kontexte, und „Aus eigenem Anbau. Zwei Hundert Merksätze“ 2020, hier kurz dargelegt und dabei sein zentrales Thema, die Selbsterkundung als Schreibender gezeigt, unter anderem mit Übereinstimmungen zu Martin Walser und Peter Handke.1 Als Literaturwissenschaftler hat er sich zum Beispiel mit Ludwig Hohl und Hans Albrecht Moser, mehr noch mit Albrecht Fabri2  und Franz Josef Czernin auseinandergesetzt. Auf jede erdenkliche Weise hat er seine Arbeit innerhalb der kurzen literarischen Formen seither weitergeführt, so 2019 in einem Aufsatz,3 in dem er feststellt, dass der Aphorismus „die optimale Lektüre für unsere Tage sein“ könnte, es aber offensichtlich nicht ist, weil für diese „letztlich elitäre Textsorte, die den aktuellen, eher nachlässigen literarischen Sprachgebrauch klar konterkariert, sich aber nicht dagegen zu behaupten vermag“, kaum noch ein kompetentes Publikum zu finden sei. Der „Versuch, den Aphorismus wieder auf den Punkt zu bringen“, in der Zeitschrift Volltext 2021 geht in dieselbe Richtung.4 Dort heißt es mit deutlichem Bezug zu der eigenen aphoristischen Arbeit – Theoretiker und Praktiker greifen ineinander –: „Vielfach konstituiert sich das Es des Aphoristikers aus der Sprache selbst, dort nämlich, wo Bedeutung allein aus dem Wort- und Gedankenspiel erwächst.“5 Er stellt für eine Anthologie Deutsche Aphoristik der Gegenwart Texte zur Verfügung, unter anderem auch ein Statement, das die Thesen des Aufsatzes zusammenfasst.6 Und er gibt Drei Hundert Dreizeiler in der Art des japanischen Haiku heraus, klugerweise aber nicht im strengen Silbenkorsett des Vorbildes, sondern nur „Haikulike“,7 womit er sich, wie es im Nachwort heißt, von den Amateuren absetzen will, „die diese Textform ohne exklusiven Kunstanspruch als Spielvorlage nutzen – gewöhnliche Bastelei statt abgehobenes Dichtertum“. Er nimmt sich die Freiheit, die Form unter anderem durch häufigen Einsatz von Wortspielen und Paradoxien, die Verwendung von poetischen Metaphern und philosophischer („abstrakter“) Begrifflichkeit und auch durch die gesuchte Nähe zum Aphorismus oder Sinnspruch zu verändern. Zuletzt hat er zudem Franz Kafkas Zürauer Aphorismen einen Aufsatz gewidmet. Er spricht ihnen dieses Etikett in iner in sich schlüssigen Argumentation dezidiert ab, weil sie Kommentare erforderten; es seien Aufzeichnungen.8 Dabei geht er wohl von dem klassischen Aphorismus-Begriff aus und diskutiert die Literatur, die sich an Gerhard Neumann (1968/1973) anschließt, nicht. (Calassos [2006] und Stachs [2019] Editionen werden allerdings diskutiert.)9

Aktuell liegen nun als „Auslese aus meiner Schreibarbeit 2022 bis 2015“ „Sprüche und Gedichte“ unter dem Titel Märzember vor, bei dem sich unmittelbar manche Assoziationen zur Gleichzeitigkeit und Vereinbarkeit des Unvereinbaren bis hin zu Goethes Faust einstellen (v. S. 1675ff.). Die Texte überschreiten die Grenze der aphoristischen Gattung zur Lyrik im Ganzen deutlich; ich konzentriere mich auf die Kapitel 1 („Wer oder was…“, S. 7–26), 6 („Auch das soll ein Gedicht sein…“, S. 83–127) und 8 („Aus welcher Ferne…“, S. 128–175), die von der Typographie her noch am ehesten die Nähe zum Aphorismus suggerieren. Die Texte legen die theoretisch entfalteten Beziehungen zu Kafka („Irgendwann halt eingestehn der Durst ist größer als die Wüste größer als das Meer.“, 9; vgl. S. 110, 127) wie zum Haiku (etwa: „Da! Der Tag beginnt mit Rost und Tau. Mit Knirschen und Glitzern; Wie jetzt.“, 9) vielfach im Detail offen.

Zwei Prämissen bestimmen die Arbeitsweise Ingolds, so auch dieses neue Buch, eine negativ orientierte, eine positiv bestimmte. Das Resümee, das ich vor 20 Jahren in meinem Ingold-Kapitel zog, er sei kein Weisheitslehrer, kein Artist, „von Wert ist in seinen Aufzeichnungen der fortwährende Schreibprozeß selbst“,10  bestätigt der Autor in seinem Nachwort, das seinen Impuls zur Poesie explizit macht: „Schreib, damit Text sei!“; „Mir kommt’s mehr auf das Schreiben an als auf’s Geschriebene.“ (S. 239) Wenn er vom Haiku sagt, es beschränke sich darauf, Wahrnehmbares, Wahrzunehmendes, Wahrgenommenes zu benennen und es solcherart sprachlich  dingfest  zu machen, statt zu bedeuten (Nachwort „Haikulike“), so gilt das im gleichen Maße hier. Dem Leser, der Leserin, die immerfort (und oft vergeblich) auf ‚Bedeutung‘ aus ist, gibt er diese Leseanweisung:

SCHWER
zu sein.
Wo alles
bedeutet.
(S. 56)

Es wird eine eigene poetische Welt konstituiert, in der bis zur Frage „Blutgrün? Moosrot?“ (S. 105) neue Ungewissheiten herrschen und der gegenüber der Wirklichkeit der Vorzug gebührt: „Was ist wohl drüben / in der Wirklichkeit los?“ (S. 82); „Dass das Wirkliche (verglichen mit allem andern) das Wenigste sei!“ (S. 104)

Positiv hängt mit diesem ‚Bedeutungsverlust‘ zusammen, dass seine Poesie aus dem Sprachkörper, dem Klang, lebt. Jenseits kruder ‚Bedeutung‘ führen Alliterationen, Assonanzen und andere Klangelemente den Schreibprozeß fort („Flocken“ – „Knoten“, S. 28; „Thea“ – „Theater“, S. 54; „Sonne“ – „Sohn“, S. 98, „Kuss“ – „Fluch“, S. 120). Das lässt den Kalauer („So weit die Scheidung reicht.“, S. 105) in der Gewissheit: „Oft wissen Kalauer mehr als die älteren Weisheiten.“ (S. 76) so wenig aus wie das Zitat („Der Lattenzaun? Hindurchzuschaun!“)11  oder stammelnd-stotternde Fügungen („ka-ra-krachende Hintertür“, S. 35; „knapp der Umsch…der Uns…der Unsicher…Unsichtbarkeit“, S. 120).

Formal auffällig sind die Fragen („Die Welt vergessen? All die Men und Schen und Interessen?“, S. 133), die infiniten Sätze („Warten auf Freitag als gehörte er zur Woche.“, S. 133), das Partizip Präsens, die Ellipse („Denken mit erstickter Stimme?“, S. 141) und insbesondere die doppelte Negation, dutzendemal von „Aber wer? Aber was? Nie ist der Pass nicht abgelaufen.“ (S. 13) bis „[…] Das nie nicht allerletzte Wort. […]“ (S. 213). Inhaltlich auffällig sind permanent auftretende semantische Bereiche wie die Leere, Licht und Schatten, Nacht, Blitz, die regelmäßig ins Surreale hinübergleiten:

„Nie – auch heute nicht – kann die Asche ihr Feuer vergessen.“ (S. 93)
„Und doch erweitert sich die Nacht des Wissens. Am besten zu sehn bei abnehmendem Mond.“ (S. 90)
„Noch ein Blitz in Pillenform! Und wie der Gaumen – auch ein Firmament! – erstrahlt. Mehr Licht geht nicht. Nicht aufs Mal.“ (S. 100)

Nicht zu vergessen daneben sind, nicht zum ersten Mal, die Selbsterkundung, also Identitätsfragen um Ich und Wir und Du („Anderseits „ich“ als Schlüssel zu jeglicher Ferne. Also auch zu dir.“, S. 129; „Wie den Abgrund vermessen, der einen von sich selber trennt? Oder einfach ihn meiden?“, S. 136) sowie die autoreflexiv poetologische Ebene, so im Sonett „Dies“ (S. 30) etwa, „[…] Wo jede Zeile des Sonetts mit einem Wo / beginnt. […]“, so zur „Bedeutung“ („Fürs Schreiben taugt eher die Ebene. Nebenher läuft die Bedeutung. Sie zu stürzen macht Sinn und…“, S. 102) oder zum Verhältnis von Text, Satz und Schrift („Dass das Geschriebene – zum Beispiel dieser Satz hier – mit der Schrift identisch sei. Der Text – zum Beispiel dieses Gedicht – ist der Schrift bestenfalls ähnlich.“, S. 84). Nach den vielen Zitaten, die die – sekundäre – Beschreibung durch das Primäre unterfüttern sollen, ein letztes als ein großes doppeltes Bekenntnis des Autors, das seine literarischen Arbeiten insgesamt überformt:

Und die Hungerkünstler ausgestorben. Die Kunst dahin. Bleibt nur der Hunger. (S. 135)

Friedemann Spicker, Deutsches Aphorismus-Archiv

 

Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012

Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

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