Erst heute erfuhren wir vom Tod des schweizer Lyrikers und Essayisten Pierre Chappuis. Felix Philipp Ingold, der 2019 im Limmat Verlag den Band Pierre Chappuis: So weit die Stimme reicht. Gedichte übersetzt und herausgeben hat, schrieb den folgenden aufdatierten Nekrolog.
Während vieler Jahrzehnte hat der aus Tavannes (Berner Jura) gebürtige Lyriker und Essayist Pierre Chappuis als beamteter Lehrer seinen Lebensunterhalt bestritten. Die Entscheidung, das literarische Schaffen mit einem bürgerlichen Beruf abzusichern und es damit von ökonomischem Druck freizuhalten, teilte er nicht nur mit manchen andern Schweizer Autoren, sondern auch mit dem französischen Dichterfürsten Stéphane Mallarmé, der zu seinen prägenden Vorbildern gehörte.
Chappuis war knapp 40 Jahre alt, als er 1969 sein erstes Gedichtbuch vorlegte, und es brauchte noch einmal zwei Jahrzehnte, bis er in der Person von José Corti einen adäquaten Verleger fand: Cortis berühmte Pariser Librairie wurde zur verlässlichen Anlaufstelle für mehr als ein Dutzend Lyrik- und Prosabände, die bis in die jüngste Gegenwart mit staunenswerter Regelmässigkeit und in gleichbleibend hoher Qualität erschienen sind.
Biographisch gibt es von Pierre Chappuis kaum etwas zu berichten. Weder hat er sich in der weiten Welt umgetan, noch sich am Literaturbetrieb oder an politischen Debatten beteiligt. Dass er den Grossteil seines Lebens im provinziellen Schuldienst verbracht hat, macht ihn aber keineswegs zu einem wirklichkeitsfernen Stubenhocker und Schöngeist. Die kleine karge Welt, die er in langen Wanderungen auf abseitigen Pfaden erschloss und mit allen Sinnen auslotete, war ihm gross genug, und sie vergrösserte sich noch dadurch, dass er sie mit immer wieder anderer Optik wahrnahm – im winzigsten Detail, im umgreifenden Panorama, in wechselnder Ausleuchtung und Perspektive.
Dieser unscheinbare, von Steinen und Bäumen besetzte, von Insekten und Vögeln bevölkerte, von wechselnden Farben und Geräuschen durchwirkte Mikrokosmos bot ihm ausreichend Anlass für Abenteuer der sublimen Art – für die intensive Lektüre der Natur ebenso wie für deren Übertragung in die Schrift. Man könnte Chappuis’ Sprachkunst mit dem präzisen und dabei höchst erfindungsreichen Handwerk jurassischer Uhrmacher vergleichen. Jedes Rädchen und Schräubchen beziehungsweise jedes Wort, jede rhetorische Figur, jede Assonanz, jedes Interpunktionszeichen – alle Bau- und Funktionselemente des Dichtwerks sind sorgsam ausgearbeitet und variantenreich aufeinander bezogen. Grammatik, Syntax, Phonetik werden hier in gleichem Mass zum Gegenstand der Poesie wie die schlichte Dingwelt, die der Autor vorzugsweise erkundet – heimatliche Landschaften mit Auen, Hügeln, Bächen, Wäldern im Wandel der Tages- und Jahreszeiten.
Chappuis selbst hat sein dichterisches Tun in einem seiner späten poetologischen Notate mit der strengen Arbeit eines Malers vor dem Motiv verglichen: Die Natur entziffern, so wie man es von Cézanne hat sagen können: Ein Verfahren – die Mühe – schichtweiser Demontage und Rekonstruktion, in jedem Augenblick beherrscht von innerer Spannung. «Von Fleck zu Fleck gewinnen wir Anteil am Dialog der Farbe, und nicht weniger auch durch die Leerstellen, welche die blosse Leinwand sehen lassen und jenseits der Vereinzelung ein unerfüllbares Ganzes heraufrufen.» Mit seinen schmalen Lyrikbüchern wie auch mit seinen privaten und poetologischen Aufzeichnungen, die sich nun als imposantes Lebenswerk präsentieren, hat Pierre Chappuis, der am 22. Dezember 2020 im Alter von 90 Jahren in Neuchâtel gestorben ist, auf meisterliche Weise dazu beigetragen, jenes unerfüllbare Ganze ahnbar zu machen – als «verschwiegene Kehrseite» des Schrifttexts.
Felix Philipp Ingold, aufdatiert 9. Januar 2020
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