Ist Idee denn so viel besser als die Tränenform des Alls.
Auf heller Fläche schmale dunkle Streifen in der Horizontalen, in der Vertikalen, Geraden, rechte Winkel, einfachste Geometrie: minimal art. Die waagerechten Linien stehen bald oben, bald in der Mitte, bald unten, treten einzeln oder zu zweit auf, die senkrechten, immer in der Mitte, stehen allein. Viel Platz ist zwischen einer gedruckten Zeile und der nächsten. Sie gehören nicht zusammen, höchstens ausnahmsweise folgt eine auf eine andere, als würde eine Rede fortgesetzt, als erhielte eine Frage eine Antwort. Sie bilden keinen Text, jede Zeile ist vielmehr ein Gedicht aus nur einem einzigen Vers, ein Monostichon (griechisch monos – ein, allein, stichos – Zeile, Vers), jedes ein Einzeiler, ein Eizeller: in sich geschlossen, kompakt und schön geformt. „Ei ist vollkommen wie die Null…“ – das ist ihr ästhetisches Modell. Und auch ihre Gebrauchsanweisung bringen sie mit, die Anleitung zur Lektüre:
Die Spur kommt vor dem Schritt. Da steht’s geschrieben.
und
Die Ferse geht bei jedem Schritt voran.
Die leibliche Bewegung (des Fußes, der Ferse), die eine sichtbare Markierung hinterlässt, hat zeitliche und logische Priorität vor dem abstrakteren Ganzen: Das hinterlassene Zeichen (Spur) geht dem Sinn und Zweck der Bewegung (Schritt) voran – so wird es autoritativ behauptet: „Da steht’s geschrieben.“, und zugleich begründet: ,Da (= weil) stets geschrieben‘: Die Spur hat Vorrang, weil das Geschriebensein zuerst da sein muss, bevor sich ein Sinn daraus lesen lässt. In der Poesie gilt die Umkehrung der normalen Gangart: Nicht die Zehenspitze geht voran, sondern die Ferse, der Vers. Poetische Rede ist eine, in der die Bewegung des Schreibens, ursprünglich des Furchen ziehenden Pflugs, nicht geradeaus – prorsus – weitergeht wie in der Prosa (prorsa oratio), sondern sich umwendet – versus. Diese Unterscheidung ist ein alter Topos, ebenso wie der Gedanke, den eine andere Zeile aufruft: „Der Ferse nah ist die Rede wahrer“: Dem Verse nah…. – doch das wäre Kitsch, ,der Ferse nah‘ bricht die Erbaulichkeit. Und nimmt der poetischen Rede ihre Selbstsicherheit. Nicht Vers, sondern nur ihm ,nah‘: Nur in der Bewegung auf den Vers zu kann die Rede eine andere als die gewöhnliche sein, nicht ,wahr‘, aber doch komparativisch ,wahrer‘. Die Hommage an die Poesie ist diskret: Sie versteckt sich in der Homophonie (Ferse/Verse), der Synekdoche (Ferse für Fuß), der Metapher (Versfuß), im Chiasmus („Im Sprung noch ungeerdet bist du, was du wirst.“), im Paradox, in der spielerischen Zerlegung der Wörter in Klänge und ihrer Verbindung zu neuen Syntagmen:
Träne wörtlich übersetzt wird Teer und nimmt also die Form der Erde an; und auch die Farbe.
,Wörtlich übersetzt‘, d.h., die Buchstaben übergesetzt, versetzt, ergibt ,Traene‘ ,taeren‘, ,teeren‘, Teer (ohne ,n‘, ohne En-dung) und die (Klang-)Form und (Klang-)Farbe der Erde, im Französischen nämlich: terre. So verbinden uns die Tränen mit ihrem dunklen, opaken, festen Gegenteil: Anders als der „Sprung“ erden sie uns.
Fuß, Schritt, gehen, Zeichen hinterlassen – sie alle verweisen aufs Schreiben: Die schwarze Zeile bleibt auf der weißen Fläche, hebt sich ab von ihr wie eine Spur im Schnee oder eine Ritze in einer glatten Oberfläche. Sie ähnelt einer Wunde in der Haut, einem Mal, einer Narbe, wenn die Wunde sich schließt, einer Naht, wenn der Schnitt vernäht wird mit einem Stich, einem Einstich, einem Monostich. Als Spur des invertierten Gangs, der Ferse, des Verses hat Gehen nicht nur den Zweck, irgendwohin zu kommen oder eine Distanz zu überwinden. Seine sinnlich wahrnehmbare Manifestation „wird Fährte statt bloß Weg zu sein“: eine Spur, durch die das Gehen bleibt, anstatt, wenn die Bewegung endet, ,bloß weg zu sein‘. Folgen wir dieser Fährte, halten wir uns an Graphie und Lautbestand und sehen, wohin diese Fährte führt. Zu Gedanken, zu Ideen? Zu welchen? Aber – Mallarmé hat darüber gespottet – Gedichte macht man nicht mit Ideen, sondern mit Worten. Wird hier etwas ausgesagt, gedacht, behauptet? Nee die Ideen wollen nur gelesen werden, aber intensiv, hin und her, vor und zurück: Der Titel ist ein Palindrom, eine Buchstabensequenz, die in beide Richtungen gelesen den gleichen Wortlaut ergibt. Nichts ist ,hinter‘ oder ,unter‘ dem Text, den Schriftzeichen, den Klängen, der Gestalt der Seite, sondern sie selbst sind die Ideen und ihr Gegenteil, ihre Umkehrung und ihre Verneinung. Nur die Aufmerksamkeit muss diese Volte vollziehen und sich auf die im ,normalen‘ Lesen unbeachteten Signifikanten richten. Die übliche, Mitteilungen verlangende Lektüre erwartet von ihnen, dass sie ein Was und Wie anzeigen, dass sie Bedeutungen transportieren. Im aktiven, auch die Leserichtung wechselnden Lesen aber „zeigt sich stumm Unendliches. Wozu noch Eigenschaften?“ Denn erst das aus etablierten Verbindungen gelöste Wort, das ohne ,Eigenschaften‘, ist fähig, anderes als das Gewohnte, längst Bekannte zu sagen. In diesem Sinn lassen die Monosticha vertraute Sprachfetzen anklingen, Redewendungen, Fast-Zitate, halbvergessene alte Lieder und geben ihnen durch kleine Umstellungen und minimale Gegenbewegungen ein fremdes Gesicht: „… zwischen Berg und Maus“, „Auf die Nacht genau…“, „Wer wagt uns heute“: Aus ,es‘ ist ,uns‘ geworden – und aus ,Es‘ wird doch nicht ,Ich‘. „Der Wald steht schwarz, und schweigend provoziert er den Verstand“, statt mit Matthias Claudius zur Nachtruhe zu verhelfen. Klangähnlichkeiten und sprachliche Automatismen zeigen ausdrücklich ihre generative Kraft vor: „Die Trauer wird, solang sie Wut sein will, fett und fetter; so wie die Väter, wenn sie als Söhne ihrer Töchter wiederkehrn.“ Die Formel ,Trauer und Wut‘ begegnet in der Zeitung, fett gedruckt womöglich, aber hier verschiebt sich ,Wut‘ (über ,foot‘) zu ,fett‘, und ,fett, fetter, Väter‘ bilden eine lautliche Variationskette wie ,Väter und Söhne‘, ,Söhne und Töchter‘ semantische Paare. Sinn entsteht post festum, und dieses Prinzip gilt hier in forcierter Weise, denn die Spiel- und Produktionsregel lässt als Ergebnis nur einen einzigen Vers zu. An anderen Stellen werden aus Sprachklischees durch kleine Interventionen enigmatische Zeilen:
Keine Lichtgestalt verglüht nicht beim ersten Blick, der Liebe will.
,Liebe auf den ersten Blick‘, die Kombination von ,Liebe‘ und ,glühen‘, ,Lichtqestalt:‘ – alles Phrasen und Hohlformen, doch sie sind irritierend verknüpft durch Negationen (,Keine‘, ,ver-‘, ,nicht‘), und am Ende ist der ganze Vers doch weder ein Satz über Lichtgestalten noch einer über Liebe, sondern eine Variation über die Silbe ,li‘. Denn zuerst kommt hier, was sonst bestenfalls danach kommt. Dieser Regel gemäß vertauschen sich auch unten und oben, Grund und Folge, Subjekt und Objekt:
Zuoberst der Grund der’s weiß.
Der Grund liegt normalerweise unten und vielleicht ,weiß‘ ihn jemand, aber er selbst ,weiß‘ nichts. Im performativen Widerspruch zur Aussage steht die entsprechende Zeile hier jedoch selbst ,zuoberst‘ auf der Seite, und der Grund nimmt – Ironie der Verkehrung von Verkehrung – die ganze Seite darunter ein. Wer glaubt, die Regel zu kennen und das Spiel durchschaut zu haben, sieht sich genarrt; es bleibt, wie es sich gehört: Zuunterst ,der Grund, der ist weiß‘. Auf anderen Seiten freilich macht er sich breit in der oberen Hälfte oder über die ganze Seite bis hinunter zur einzigen Zeile und gibt anschaulich zu verstehen, dass „Am meisten zählt, was fehlt.“
Was fehlt, sind unter anderem Ort und Jahr der Entstehung und Name des Verfassers am Ende; „die Unterschrift“ steht oben, unten aber verbirgt sich der Autor in der Auslassung und in einem nicht-existenten Datum. Wo andere – als Dritter, als Sechster – dabei sein wollen, um zu zählen, im Bund der Freundschaft, im Kreis der kanonisierten Dichter, im Pakt zwischen Autor und Leser, beim Treffen von Laut und Bedeutung, fehlt er lieber – er oder besser ,ich‘:
Als Dritter von uns beiden bleib ich dieser Nähe fern.
Denn „Im Gehn seh ich mir selber ähnlicher. Von fern.“ Gehen, weggehen, schreiben und im Schreiben bleiben – ein Ich würde nur stören. Was fehlt, ist auch der Fluss eines Textes, einer Rede, der sich die Lektüre überlassen könnte. Kaum begonnen, wird er wieder gestaut. Fermaten sind Pausenzeichen, ein Ton wird angehalten, ausgehalten, ein Geschehen stillgestellt. Aber aus den Silben und Klängen, verweilt das Lesen bei ihnen, wird Sinn:
Ja! die Wahrheit ist Einhalt; Beifall nie.
So wenig wie das wiederkehrende Wort ,Gott‘ meint diese ,Wahrheit‘ eine theologische oder metaphysische. Das Adjektiv im Untertitel des Buches verweist vielmehr auf die unmögliche Wissenschaft vom Einzelfall, ein Konzept von Alfred Jarry, dem sich dann Raimond Queneau, Marcel Duchamp und viele andere in einem Collège de ’Pataphysique verschrieben hatten. Der Satz über die ,Wahrheit‘ semantisiert eine Variation über die Laute a – ei – i und gelangt so zur Trinität des vollkommenen nulligen Ei: a – / i – a – ei – / i – ei – a – / ei – a – i. Die ,Wahrheit‘ bleibt daher, wo sie ist, in dieser Zeile, und wird keine transportable Botschaft, die Medien und Waffen verbreiten könnten.
Vor Ort bleibt die Wahrheit. Ist Einhalt genug. Ein Halt ohne Beifall.
Vorort ist sie, nicht Metropole, Peripherie, nicht Zentrum, und daran ändert sich nichts: „Da!“, „Dort!“ „jetzt“ – das Zeigen lässt sich hier wie andernorts nicht von seiner Stelle und seiner Situation ablösen; ,wahr‘ ist es immer nur ,vor Ort‘.
Die Zeilen folgen aufeinander mit wechselnden Abständen – mit unterschiedlich langen Halten. Die Augen müssen springen und die Hände ihnen beispringen. Manche Verse treten vor, andere zurück, so scheint es zumindest, denn die Schriftgrade variieren. Jeder Vers füllt eine einzige Zeile; das macht die kürzeren größer, die längeren kleiner, die längsten durchziehen die Seite von unten nach oben, doch ohne dass die Buchstaben zum Sehtest schrumpfen. Die Typographie nutzt vielmehr minimale Differenzen, um die Strenge des Formzwangs mit den praktischen Erfordernissen des Lesens zu harmonisieren. Verteilung auf der Doppelseite und Letterngröße folgen derart ,typoetischen‘ Regeln. Und das Weiß spielt jeweils mit, auch bei der Lektüre. Zwischen den Zeilen klafft es als leeres „All“, wo „die Sonne alles allein“ kann. Es grüßen die kosmischen Wortkonstellationen M-all-armés. Doch wozu das alles? Was ist das Ziel? Eine Formulierung, die den Buchstaben ,e‘ ausspart, macht es klanglich und graphisch wahrnehmbar:
Bin auf kein Ziel angelegt. Wie alle, die sich im Ausstrbn übn.
Sabine Mainberger, Nachwort
Die Fermate ist ein Ruhezeichen, ein Aushaltezeichen, sie zeigt das Innehalten in der Bewegung an. Aus der Musik stammend, verwendet Felix Philipp Ingold sie für die Sprache, seine ,Pataphysische Fermaten‘ gliedern Sätze, stellen Abstand oder Nähe, Beziehung oder Kontrast her. Nee die Ideen zeigt aufs Schönste, dass man Gedichte nicht mit Ideen sondern mit Worten macht. Zum Gedicht werden Ideen erst durch die Worte, denen Ingold wie kein zweiter auf den Grund geht, ihnen nachspürt und sie in all ihren Facetten aufblitzen lässt.
Matthes & Seitz, Ankündigung
Jan Kuhlbrodt: Erste Annäherung an Felix Philipp Ingold: Nee die Idden. Pataphysische Fermaten
signaturen-magazin.de
Jan Kuhlbrodt: Vers und Ferse
fixpoetry.com, 15.10.2014
Felix Philipp Ingolds Nee die Ideen. Pataphysische Fermaten (Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014) lassen im Titel ihr Programm vernehmen: Das Palindrom fordert dazu auf, vorwärts und rückwärts gelesen zu werden. Der Autor lockt seine Leser, diese Bewegung aufzugreifen: Zäsuren und semantische Wechsel zu beachten, dem Hin und Her seines eleganten Sprachdenkens zu folgen.
In den einzeiligen Versen dieses Buches experimentiert Ingold auf virtuose Weise mit einer höchst verdichteten Form, die nicht immer Pointen liefern oder einen Gedanken zum Abschluss bringen muss. Hier darf der Vers gelegentlich auch andeuten, dass er ins Unendliche weiterläuft, um auf seiner Bahn ungewöhnliche Wort-Momente, Esprit, Witz und tiefe Einsichten aufleuchten zu lassen. Die Anspielung auf den Pataphysiker Alfred Jarry unterstreicht die Sprach-Spielfreude und Wendigkeit, die bis ins Absurde gehen kann; die Fermate hingegen bietet oder fordert Zeit zum Innehalten, Nachsinnen, Nachklingenlassen.
Für dieses großartige Lese-, Schau- und Denkvergnügen erhält Felix Philipp Ingold auf Empfehlung der Literaturkommission eine Anerkennungsgabe des Präsidialamts der Stadt Zürich im Wert von CHF 10.000.
Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012
Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie
Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012
Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022
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