Dies ist das Paradies! Wo der Mehrwert abfällt von
aaaaader Zahl.
Wo die Einsamkeiten deutlicher (am deutlichsten)
zu hören sind. Wo jede Zeile des Sonetts mit einem
aaaaaWo
beginnt. Mit Wogen von gestern und Worten von
aaaaamorgen.
Wo’s die Nächte ohne Jalousien machen und der Tag
das Licht vergisst. Wo Scham und Gier sich mögen.
Wo nichts gerächt ist und keine Wirklichkeit
nicht eingeübt. Wo Luxus mal flackert mal zagt und
nie-nie eine Summe bringt. Wo jeder Fall Flug ist.
Wo jeder sich selbst seinen Strauch baut fürs richtige
Feuer. Wo keine Wahrheit nicht ihr eigenes Buch hat.
Wo die Völker – alle – strammstehn im Schlaf und
nicht mehr auf Erlösung warten ist das Paradies. Und
aber wer hier wem die Augen löscht bleibt offen.
Es ist ein Buch der Aussöhnung: Einzelteile bedingen einander im gemeinsamen Streben, Figur zu werden, sprich: einzugehen in den einenden Sinn. Die Fülle des Sinns erscheint nicht mitteilbar: Die Farbe Schwarz, das Fehlen von Farbe. Erscheint nicht mitteilbar, aber erscheint: Als Schatten, als Abglanz, als Negativ. Als apophatische Doppelverneinung.
Sie kleidet sich in primäre Formen: Den Kreis, das Quadrat, den Spiegel, den Stein. Und jede deutet. Über sich. Hinaus, ins Manifeste, zur Zerstreuung. Zur Sammlung, ins Vorexistente, hinein. Von Metamorphose zu Metamorphose. Der Kreis sucht den Zwang seiner Quadratur, das Quadrat die Freiheit des immanenten Zirkels.
Dabei bildet das weiß keine Antithese zum Schwarz, eher dessen Ahnung: Es trägt im Inneren das eigene Verhülltsein. Die Nacht, die älter ist als das Licht.
Es ist ein Buch der Aussöhnung. Denn das Verhülltsein saugt alles auf. Durchzieht selbst die Fasern des Papiers, welches auf einmal nicht Auffangfläche, sondern ausgeleuchteter Freiraum wird: Für die alles erfüllende Tinte.
Alexander Nitzberg, Vorwort, November 2010
Der 1942 in Basel geborene Schriftsteller, Übersetzer und Kulturkritiker Felix Philipp Ingold ist immer wieder für eine Überraschung gut. Als St. Galler Professor für die Kultur- und Sozialgeschichte Russlands hat er enorme Vermittlerdienste geleistet. Als Lyriker, Essayist und Romancier ist er aber auch immer wieder mit originellen Primärtexten hervorgetreten. Und obwohl seine Texte höchst sorgfältig gearbeitet sind, kann ein herkömmlicher Literaturliebhaber kaum so schnell lesen, wie lngold schreibt. Das jüngste Elaborat des Nimmermüden ist ein schmaler Band, der den ganzen Charme eines unangestrengten Nebenwerks in sich trägt. Steinlese versammelt – in bemerkenswert schöner grafischer Gestaltung – zweimal 33 Gedichte. Links findet sich jeweils, schwarz auf weiss gedruckt, ein „vollständiges“ Gedicht, rechts gegenüber, weiss auf schwarz, bilden ausgewählte Wörter und Wortfolgen aus diesem Text wiederum ein eigenständiges lyrisches Ganzes. Das intellektuelle Spiel ist von hohem Reiz und lädt zur Nachahmung wie zur Variation ein. Wie viele weitere Gedichte mögen sich noch in dem ursprünglichen Text verstecken? Gewiss: Dies ist keine Lektüre für schläfrige Stunden im Strandkorb, die bloss nach einer süffigen Geschichte verlangen. Aber wer sich an der Materialität der Sprache und am Spiel mit ihr freut, der wird hier reich belohnt.
Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012
Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie
Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012
Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022
Auf das Zusammenspiel von Felix Philipp Ingold (Text) und Theo Leuthold (Typografie) in diesem Buch eingehend schreibt uns Theo Leuthold in einer E-Mail:
…In Zusammenarbeit mit Felix Philipp Ingold konnte ich einige seiner poetischen Texte in visuellen Formen realisieren,
die eigene Lesesichten beinhalten und die über den courant normal der Lyrik-Typografie hinausführen.
Ingolds Texte und seine Art, diese in Richtung potentieller Leser aus seiner Hand zu entlassen und als Autor
hinter sie zurückzutreten – wenn denn nicht: gänzlich in ihnen zu verschwinden –, haben mir eine Lesefreiheit
eröffnet, deren Manifestation die vorliegenden typografierten und gestalteten Publikationen sind, die wiederum
Anstoss zu weiteren Lesarten sein könnten … Bei allem Spiel bleibt dabei der schreibsprachliche poetische Text
immer Ausgangspunkt und Referent, auch wenn eine neue Schreib- und Darstellungsweise ihn umgarnt, ihn
vereinnahmt, ihn transformiert – wobei mir bewusst ist, dass Schreibsprachliches von Felix Philipp Ingold nur im
Hörsprechendem wirklich wird…