Lesen tu…tut es
aber wer. Und wettern g-ge…
gegen Sturm und
laufen weg wenn er sich
legt und l-liegt
wie nichts. Und nichts
mehr ist diesseits zusch…
zu stillen. Auch nicht
wo’s reimt entg-
ge…gegen den Willen. Wo
das Ziel zwar
das Schwärzeste ist.
H.
Ein Hauch.
Behutsam locken Dichter und Komponist den Hörer: zu „hören, auf das, was nie spricht“.
Der Anfang ist nicht mehr als ein Hauch, bewegte Luft, ein Vor-Klang, vor einer, vor jeglicher Stimme – und doch nach der Stimme? In gewissem Sinne ja, denn zuerst war da der gleichnamige Gedichtband von Felix Philipp Ingold, auf dem die Performance von Felix Philipp Ingold und Urs Leimgruber wie auf einer Partitur aufbaut. Herausgearbeitet, aufgeschlüsselt, aufgefächert werden in der Aufführung allerdings viele Stimmen, Ebenen, Schichten – in Sprache, als Sprache und als Musik.
Die – im jeweiligen Augenblick entstehende – Komposition von Urs Leimgruber ist nicht Vertonung im üblichen Sinn, sondern entsteht fern jeglicher Illustrationsmusik in einer Auseinandersetzung mit dem Sprecher, tritt dabei aber nicht hinter den Text zurück. Der Komponist entwickelt eine eigene Tonsprache, ein Klangszenarium, in dem es nicht darum geht, in Rhythmus oder Tonfall den bedeutungstragenden Elementen des Textes zu entsprechen, sondern in dem eigene Formen gebildet werden. Der momentanen Reaktion auf das Gelesene, auf den Sprachklang geht im Komponisten ein Hören nach innen, ein Hören auf eine „innere Stimme“ voraus, einem Klang, der bereits in seinem Kopf und Körper ist und der umgesetzt werden will in der ihm eigenen Struktur, die sich – bereits in ihrem Entstehen – durch das Hinhören auf den Impuls, den er vom vortragenden Dichter empfängt, wiederum ständig wandelt.
„Der Zufall kennt die Mitte nicht“ – ergibt solch spontanes Komponieren („Instant Composing“) dann ein Indeterminiertes, Unbestimmtes? Nein, eher könnte man von einem Feld sprechen, in dem sich die Künstler mit großer, wenn nicht größtmöglicher, Offenheit bewegen, diese ganz bewusst zulassen oder überhaupt erst aufdecken im Aufzeigen der möglichen Welten – als Realität.
Dieser vielschichtige An-Klang verlangt höchste Aufmerksamkeit von den Künstlern in ihrer spontanen Kommunikation wie vom Zuhörer. Bestechend in der Offenheit, im Anklingenlassen ist die Präzision des Dichtens und Komponierens, ist die Präzision, die in der Bewegtheit, im Entstehen des Werks liegt. Das Vagieren, Fluktuieren zwischen Realem und (daraus sich herausbildendem) Möglichem, die Vorläufigkeit, die im Werden – dem Ablauf in der Zeit – liegt, eröffnet beiden Künstlern weitere Freiräume: der Musiker fühlt sich in seiner von Inhalt oder Bedeutung „unbesetzten“ Musik „entlastet“ die im Wortlaut der Sprache mitgetragenen Bedeutungen erschließen ihm neue musikalische Umsetzungsmöglichkeiten, während der Dichter – durch die freischwebende Musik getragen – sich freier fühlt, die klanglichen Aspekte (Dynamik, Rhythmus) von Sprache verstärkt zu modellieren, die Wörter zu reinen „Klangkörpern“ zu gestalten jenseits des alltäglichen Gebrauchs, weit entfernt von der Eindeutigkeit, auf die hin Sprache sonst angelegt ist.
„Verstehen ist immer eine Einschränkung“ – in den Gedichten von Felix Philipp Ingold werden Wörter zerdehnt, zerklüftet, ausgefranst, überbraucht, unterspült, es gibt Brüche, Ausbuchtungen, Einschiebsel, Einsprengsel, Mengsel – jedoch stets klar durchgeformt. Der Text knüpft in diesem Sinn nicht notwendigerweise an ein Äußeres, ein Außen an, sondern baut sich auf aus einem Hinhören auf die Sprache selber, baut aus offen gelassenen Möglichkeiten im Gedicht eine Welt auf, die im Werden zur wirklichen wird.
Gleichermaßen schreitet Urs Leimgruber Klangräume ab, die von vor einer Musik (im üblichen Sinn) bis weit nach ihr liegen: mit einem durch das Saxophon verstärkten, rhythmisierten Atmen beginnend erschließt er Klangbereiche, die weit über die Grenzen dessen hinausgehen, was üblicherweise mit dem Klang des Saxophons in Verbindung gebracht wird. Mit seiner sparsamen aber zugleich weitgreifendsten Technik erzeugt er über die Melodiehaftigkeit hinaus ein Pochen, Klopfen, Zupfen, Zischen, Schlagen, Trommeln, eine Vielzahl von Klängen und Geräuschen, die subtil oszilliert zwischen musikalisch Höchstentwickeltem und Elementarem. Die Verläufe dieser Musik sind in ihrer Vielschichtigkeit aber ebenso organisch wie der Verlauf der Sprache in den Gedichten von Felix Philipp Ingold.
Im Instant Composing Urs Leimgrubers lassen sich Bögen und leitmotivische Entwicklungen auf ähnliche Weise heraushören wie in Felix Philipp Ingolds Gedichten weitgezogene Bögen herauszulesen sind. Die Mehrdimensionalität der Texte – oft sind die einzelnen Strophen durch Wortübergänge verbunden, die sich aus der Eigengesetzlichkeit des sprachlichen Materials, durch anagrammatische Vertauschungen oder minimale Verschiebungen ergeben –, ihre Mehr- oder Vieldeutigkeit erlauben dem Autor in der ihm eigenen Lesart, den Text in jedem Moment neu erstehen zu lassen, neu zu „komponieren“. Auf diese Weise sind auch die einzelnen Texte des 13 Sätze – der Untertitel verweist auf die musikalische Anlage – langen Gedichts einer ständigen Veränderung ausgesetzt, einem unentwegt neu „Geschaffenwerden“ anheimgestellt, wie es sich übrigens ja auch bei jedem Gelesenwerden, jedem Wahrnehmen durch den einzelnen Leser vollzieht.
„Ein Wortlaut kann das Vorhergesehene dementieren“; die Gedichte Felix Philipp Ingolds zeichnet ein ständiges Fluktuieren zwischen Sinn und Bedeutung aus. Die Möglichkeit des Hin und Her, des Wechsel(n)s, des Wählens, Auswählens macht auch die höchst poetische Performance zu einem Dialog zwischen zwei „Stimmen“, nicht unbedingt als Wechselrede im üblichen Sinn, sondern als Kommunikation in der Suche – nach all den Möglichkeiten, die in Sprache und Musik heute liegen.
Klang. Gegenklang. Ein Zweiklang – vielleicht könnte man diese neue Art einer künstlerischen Zusammenarbeit am ehestens als kammermusikalische Auseinandersetzung bezeichnen, in der auf authentische Weise zu jeder Zeit zwei neue Werke entworfen werden, zu jeder Zeit – wenn auch aufgrund einer Vorlage – zwei neue Kompositionen entstehen, die zu einer zusammenklingen. Kontrapunktisch wird Stimme zu Stimme (Stimme gegen Stimme?) gesetzt, ganzheitlich kommen zwei Klangkörper zum Tragen.
Und führt dabei das Werkzeug die Hand?
Wie Felix Philipp Ingold zu den Dichtern zu zählen ist, die aus der Sprache schöpfen, denen die Sprache die Hand führt, die sich so zum Instrument der Sprache machen (lassen), so ist das Saxophon nicht nur Verlängerung der Hand, sondern führt die Hand des Komponisten. Durch das Instrument wird der Körper des Musikers zum Resonanz-, zum Klangkörper. Dichter und Komponist werden zur Klangskulptur.
In der reichen Anlage verbindet die beiden Künstler in ihrer Sprache und ihrer Musik zugleich aber der Mut zur Reduktion, insbesondere ihr Mut zur reinen Klanglichkeit, zum Minimalen, auch zur Pause, zur Stille. Nah liegt der Gemeinplatz, dass Musik eine Art Sprache ist. Nicht unbedingt ungewöhnlich, aber gewöhnlich viel weniger bedacht, in Betracht gezogen wird, dass Sprache eine Art Musik, Sprechen ein musikalischer Vorgang ist, für den – neben den bedeutungstragenden Elementen – das Mit-, Nach- und Nebeneinander von Klang und Rhythmus wesentlich ist und hier in präziser Zufälligkeit auf den Punkt gebracht wird.
„Von einem bewegten Lüftchen hängt alles ab, was Menschen je auf der Erde Menschliches dachten…“ kann man bereits bei Herder lesen. In der vorliegenden Zusammenarbeit zwischen Dichter und Komponist wirkt jeder der beiden Künstler durch sich selbst, erfüllt sich der Sinn der Sprache wie der Sinn der Musik. Im Anheben des Worts, im Abheben der Musik geht alles ineinander über: die Sinnhaftigkeit, die Bildhaftigkeit und die reine Klanglichkeit von Sprache und von Musik, das Vergangene und das Gegenwärtige, das Gelebte, das Wahrgenommene, das Wirkliche, das Mögliche, das Imaginäre fließen, strömen zusammen in ein Klangkontinuum, eine Ur-Musik – eine unendliche Melodie?
Ingrid Fichtner
Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012
Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie
Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012
Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022
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