– Zu Felix Philipp Ingolds (?) Gedicht „Fremd“ aus dem Band Felix Philipp Ingold: Leben & Werk. –
FELIX PHILIPP INGOLD?
Fremd
ist was sich berührt und
aber Entferntes
so ähnlich. Wo nämlich
Liebe nährt statt
nähert. Kostet Gabe als
Schwester der
Schwere das Begehren.
Eine Apfelblüte
lang wehrt sich die
Glut. Länger
währt immer Verrat. Bis
der Freude die Luft
wegbleibt und keine Lust
ihr Lachen nicht
entlässt. Kein Ja ist
achtsam genug.
Ist genug auch ohne Sieg
und Schmerz. Nun
versteht sich vielleicht ein
bisschen besser
wer abkommt vom Menschen.
Bleibt kein Du und
kein Hauch sonst wenn eine
Nacht wie Wir
hereinbricht von unten.
Bei Durchsicht meiner Tagebücher bin ich heute unterm Jahr 2002 auf ein Gedicht gestoßen, das eigentlich nur von mir sein kann, das ich aber nicht mehr als mein Gedicht erkenne. Datiert ist es mit »20/XII«, eine Signatur gibt es nicht, als Original ist es allein durch meine Handschrift ausgewiesen und … aber eigentlich nicht einmal dies, denn es könnte sich ja auch um eine Abschrift – um die Abschrift eines Fremdtexts – handeln. »Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.« Lang ist es her, da der Autor mit solcher Selbstgewissheit auftreten durfte und sich darauf verlassen konnte, dass Autorschaft fraglos mit Autorität gekoppelt war. Das Diktum hat sich inzwischen in sein Gegenteil verkehrt und müsste dementsprechend auch ganz anders lauten; nämlich so:Was ich geschrieben habe, das habe ich nicht. Doch wem, wenn nicht mir, ließe sich dieses mehrstrophige Gedicht (das im Übrigen den Titel Fremd trägt) zuschreiben? Ich rücke es hier ohne jede Änderung in der vorgefundenen Textfassung ein: Fremd
aaaaaist was sich berührt und
aaaaaaber Entferntes
aaaaaso ähnlich. Wo nämlich
aaaaaLiebe nährt statt
aaaaanähert. Kostet Gabe als
aaaaaSchwester der
aaaaaSchwere das Begehren.
aaaaaEine Apfelblüte
aaaaalang wehrt sich die
aaaaaGlut. Länger
aaaaawährt immer Verrat. Bis
aaaaader Freude die Luft
aaaaawegbleibt und keine Lust
aaaaaihr Lachen nicht
aaaaaentlässt. Kein Ja ist
aaaaaachtsam genug.
aaaaaIst genug auch ohne Sieg
aaaaaund Schmerz. Nun
aaaaaversteht sich vielleicht ein
aaaaabisschen besser
aaaaawer abkommt vom Menschen.
aaaaaBleibt kein Du und
aaaaakein Hauch sonst wenn eine
aaaaaNacht wie Wir
aaaaahereinbricht von unten. – Ich habe dieses Gedicht seit seiner Entstehung vor mehr als einem Jahrzehnt nie wieder vor Augen gehabt, habe es auch – soweit ich’s überprüfen kann – nie publiziert, und jede Erinnerung daran ist mir abhanden gekommen. Ich kann mir weder den Anlass noch die Umstände seiner Entstehung vergegenwärtigen. Doch es hat auch ohne mich überlebt. Heute lese ich es wie einen »verlorenen« oder jedenfalls gründlich »vergessenen« Text – ich kann … ich muss das Gedicht lesen, als wär’s nicht von mir. Das ist für mich nun allerdings keine besonders abwegige Erfahrung, da ich, erstens, eigene Gedichte, wenn sie einmal geschrieben und abgelegt, womöglich gar gedruckt sind, ohnehin nicht lese, und da, zweitens, wenn mir zufällig – etwa in einer Anthologie, im Internet – ein Gedicht unter meinem Namen begegnet, es mir noch jedes Mal fremd vorkommt. Von daher ist die Befremdung vor dem eigenen Text und ist auch das Befremdliche am eigenen Text eine rekurrente Leseerfahrung. Doch wie erkenne ich im Entfremdeten das Eigene wieder? Das Eigene! Was kann denn überhaupt, mit Blick auf ein Gedicht, von mir sein … von mir gemacht und gemeint sein? Denn die Wörter sind ja immer schon gegeben, die Sprache hält sie auf unterschiedlichen Stilebenen immer schon bereit, an mir als Autor ist es dann bloß noch, mich ihrer zu bedienen beziehungsweise sie nach bestimmten Prämissen in bestimmte Konstellationen einzubringen. Diese Konstellationen sind das, was an einem Gedicht … was an einem Gedicht von mir original, erstmalig, einzigartig sein kann. Nur darin bin ich als der, der’s geschrieben und unterschrieben hat, erkennbar; nur darin und nur auf diese Weise kann sich Eigenes im Gedicht konkretisieren. Als Erkennungszeichen eines Personalstils reicht dies freilich nicht aus. Erst wenn … einzig dort, wo sich gewisse – formale wie inhaltliche – Dominanten im Wortgefüge eines Gedichts erkennen lassen, wird dessen Eigenart und damit auch der Personalstil des Autors fassbar. Beim vorliegenden Text (wie überhaupt in meinen Gedichten) sind als Dominanten die Assonanz und das Paradoxon auszumachen, beides ist für meine poetische Rhetorik gleichermaßen bestimmend. Die Assonanz wird, ausgehend von einem beliebigen Leitwort, als Klangentfaltung bewerkstelligt, das Paradoxon gibt dem Widersinn eine gleichsam definitorische Bedeutung. Allein an diesen Charakteristika kann ich mein vergessenes Gedicht als meinen Text wiedererkennen. Für dessen aufwendige, stellenweise vielleicht etwas aufdringliche Instrumentierung werden auf engem Raum so gut wie alle dafür sich anbietenden Möglichkeiten genutzt – die einfache Lautähnlichkeit, die Paranomasie, der Gleichklang, der Stabreim. Assonantisch sind in diesem weiten Verständnis Klangverbindungen und Echoklänge wie ähnlich :: nämlich; nährt :: nähert; Schwester :: Schwere :: Begehren, nährt :: wehrt ::
währt; Luft :: Lust :: (ent)lässt usf. Mit den Klangähnlichkeiten kontrastieren die hier gehäuften paradoxalen Wortverbindungen und Metaphernbildungen, z. B . »fremd ist was sich berührt«; »Entferntes so ähnlich«; »kostet Gabe«; »keine Lust ihr Lachen nicht entlässt«; »Sieg und Schmerz«; »eine Nacht wie Wir hereinbricht von unten« usf. Aus der Spannung zwischen harmonischer … zwischen harmonisierter Klanggestalt und entschiedenem Widersinn ergibt sich die poetische Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit des Gedichts, dessen Qualität sich darin allerdings nicht erschöpft. Die hier erwähnten technischen Daten und Verfahren seiner Herstellung machen aus ihm noch lange kein Meisterwerk. Das Werk – als das Bewerkstelligte – gewinnt erst bei integralem Lesen … wird erst unter den Augen und im Verständnis des Lesers den Sinn gewinnen, der es zur Kunst macht. Mein über so lange Zeit unter Verschluss gebliebenes Gedicht war, ungeachtet seiner diskutablen Qualitäten, ebenso lang ein Gedicht ohne Sinn und – ohne mich. So leben sich Autor und Text auseinander.
Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Leben & Werk, Matthes & Seitz Berlin, 2014
Schreibe einen Kommentar