Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Anthologika (Teil 12)

Anthologika

Teil 11 siehe hier

Dichterische Rede ist und hat eine Doppelfunktion – einerseits spricht sie (wie andere Texte auch), um etwas zu besagen beziehungsweise zu bedeuten, andrerseits ist sie (etwa im Extremfall der hermetischen Lyrik, der Laut- oder Unsinnspoesie) intransitives, aussagefreies, selbstbezügliches Sagen und als solches ein rein sprachliches Klangereignis.
Die unterschiedlichen, manchmal gegenläufigen Funktionen des Sagens und Besagens in dichterischen Texten sollten, finde ich, viel eingehender bedacht werden, als es bisher der Fall war.
Produktive Ansätze dazu bietet weiterhin in erster Instanz der russisch-amerikanische Philologe Roman Jakobson – einerseits mit seinen linguistischen Studien über Wortlaut und Sprachbedeutung («Six Lectures of Sound and Meaning», 1942; «The Sound Shape of Language», 1979), andrerseits mit seinen poetologischen Untersuchungen zur Grammatik der Dichtung (in «Dialogues», 1980).
Von Jakobson stammt auch das streitbare Diktum, wonach der wahre «Held» aller Poesie deren «Machart» sei, d.h. das Verfahren ihrer formalen Herstellung. Für Paul Valéry wiederum, den Lyriker und Dichtungstheoretiker, ist es der Vers, der diese dominante Position einnimmt – nicht der Vers als Satz («Aussage»), sondern als sprachliches Konstrukt. Ein einzelner Vers kann damit zum Impulsgeber des daraus erwachsenden Gedichts werden. Dabei handelt es sich, nach Valéry, zumeist um einen in der dichterischen Imagination vorgegeben Vers («vers donné»), der gewissermassen die Funktion einer Keimzelle übernimmt: Der gegebene Vers enthält das poetische Programm und bestimmt als solches die Mach- und Bauart des potenziellen Gedichttexts.

… Fortsetzung am 13.12.2024 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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