Anthologika
Teil 15 siehe hier …
Wenn Matthias Claudius in seinem «Abendlied» die Nacht hochleben lässt, tut Jahrzehnte danach Eduard Mörike ein Gleiches mit Blick auf den beginnenden Tag: «Septembermorgen»(1827).
Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.
Das ist eine der bekanntesten Strophen deutscher Dichtung, ein Obligatorium für jede Anthologie, ein naturlyrisches Meisterstück, das seinen Gegenstand allein durch kunstvolle Beschreibung – zu beachten: die komplexe Reimfolge a :: b :: a :: a :: a :: b – vergegenwärtigt, ohne jeden Kommentar und ohne beiläufige Moral. Feststellung dessen, was ist, und nicht – was sein könnte oder sein sollte.
Gerade der Verzicht auf Verständnishilfe und (wie bei Claudius) auf vorgreifende Deutung macht die Vollkommenheit des kleinen Gedichts aus, sein In-sich-Ruhen, seine Selbstgenügsamkeit. Und gleichzeitig realisiert man beim Lesen und Wiederlesen, dass hier tatsächlich nichts besagt und bedeutet wird, dass die Verse – gewissermassen – reine Sage sind, dichterisch gehöht, von jeglicher Gedankenschwere frei.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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