Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Anthologika (Teil 20)

Anthologika

Teil 19 siehe hier

Im Hinblick auf Lyrik allgemein ist festzustellen, dass die meisten (nicht nur die «besten») Gedichte irgendeinen Vers bereithalten, der als separate «Aussage» – ähnlich wie ein Aphorismus, ein Sinnspruch oder ein Slogan – zitierfähig ist, und oft bleibt eine solche Aussage länger und genauer in Erinnerung als der Text, dem sie entstammt.
Aus Reclams jüngster Anthologie, «Deutsche Gedichte» von 2024, führe ich hier ein paar versifizierte Sätze dieser Art an, Sätze, die auf den Kontext des jeweiligen Gedichts eigentlich nicht angewiesen sind und die denn auch nicht primär lyrisch wirken sollen, sondern didaktisch, mahnend, motivierend oder provozierend:

«Was gehen dich die Stunden an, die du nichst kennst» (Bossong) – «der sabbat wird wie eine braut empfangen» (Kirsten), «Nichts ist tödlich. Es ist alles lebendig …» (Federspiel), «Was auch geschieht: die verheerte Welt | sinkt in die Dämmrung zurück …» (Bachmann) – «Gedenke derer, | Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.» (Huchel). – «Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreissen.» (Brecht) – «… es gibt nur eines: ertrage | – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage – | dein fernbestimmtes: Du musst (Benn) – «Manche freilich müssen drunten sterben …» (Hofmannsthal) – «Oh Mensch! Gieb acht! | Was spricht die tiefe Mitternacht?» (Nietzsche), – «Brecht die Sklaverei der Not! | Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!»(Herwegh) – «Es wächst hienieden Brot genug | Für alle Menschenkinder.» (Heine) – «Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, | Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!» (Platen) – «Warte nur, balde | Ruhest du auch (Goethe) – «Der Geist wird verklärt sich erheben, | Wenn Lethe sein Fahrzeug verschlang(Salis-Seewis) – «Üb immer Treu und Redlichkeit, | Bis an dein kühles Grab(Hölty) – «Gibst du der Liebe selbst nicht Raum, | So lass dich dann ihr Bild vergnügen.» (Hagedorn)  – «Die Liebe muss bei Beiden | allzeit verschwiegen sein …» (anonym, 18. Jh.) – «Durch leben, sterben, flehen. | Wer führt uns ab, wer zeucht uns Kleider aus? Der Tod.» (Czepko) – Und so fort, zurück zu Walther von der Vogelweide: «gewalt ist ûf der strâze, | fride unde reht sint beidiu wunt. | diu  driu enhabent geleites niht | diu zwei entwerden ê gesunt.»

Das sind lauter vielsagende Sprüche aus angeblich bester lyrischer Dichtung, lauter Behauptungen, Bekenntnisse, Ahnungen, Mahnungen, Befürchtungen mit dem Anspruch auf Triftigkeit, wenn nicht «Wahrheit». Aber kaum etwas daran ist dichterisch.
Was aber ist das Dichterische?

 

… Fortsetzung am 21.12.2024 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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