Anthologika
Teil 26 siehe hier …
1. Mein eigenes Desiderat wäre eine als Gesamtkunstwerk komponierte Anthologie, die die Texte unabhängig von Entstehungszeit und Epochenstil zur Geltung brächte, sie zu einem gemeinsamen Resonanzraum zusammenschlösse. So bräuchten die Gedichte für nichts anderes einzustehen als für sich selbst und wären unmittelbar zu erfassen in ihrer sinnlichen Qualität – ihrer Rhythmik, Strophik, Melodik. Heutige Leser sollten sie auf ihre aktuelle, auch individuelle Brauchbarkeit prüfen, sollten sich aufgerufen fühlen oder sich dazu verführen lassen, etwas anzufangen damit, statt sie nach verblichenen Bedeutungen und gestrigen Wirklichkeitsbezügen abzufragen.
2. Optimal wäre unter diesem Gesichtspunkt eine Anthologie ohne Autorennamen und ohne historische Chronologie. Mein Vorschlag wäre, die Texte umgekehrt zur Chronologie anzuordnen, das heisst von der Gegenwart aus die Anfänge aufzusuchen. Die Namen der Autoren und die Entstehungsdaten der Gedichte würde ich nur im Inhaltsverzeichnis oder in einem gesonderten Index anführen.
3. Die Auslese der Gedichte sollte unabhängig vom literarhistorischen Rating des Autors erfolgen. Es gibt bei mediokren Autoren singuläre Meisterstücke, so wie es schwache Texte bei hoch kotierten Autoren gibt.
4. Mit durchschnittlich 1000 Druckseiten beziehungsweise rund 1500 Gedichten sind die meisten Anthologien zu voluminös. Je mehr der Umfang reduziert wird, desto schwieriger gestaltet sich die Auswahl und desto strenger müssen demzufolge deren Kriterien formuliert sein. Mehr als 500 Seiten sollte es eigentlich nicht brauchen, um eine grosse dichterische Kultur wie die deutsche in ihrem gegenwartstauglichen Bestand präsent zu machen.
5. Dieser Bestand kann niemals ultimativ gegeben sein, er bedarf ständiger Bereinigung und Erneuerung. Nicht alle Gewächse erreichen ihre Hochblüte zu gleicher Zeit, manche brauchen dazu Jahrzehnte, Jahrhunderte, andere blühen kurzfristig auf und welken ab über Nacht. Darauf hat die Anthologie – nochmals griechisch: „Blütenlese“ – Rücksicht zu nehmen. Statt von allem, was jemals geblüht hat, eine Trockenprobe im Herbarium aufzubewahren und somit Vergangenes zu archivieren, sollte sie sich besser als meteorologisches Register bewähren; sollte dartun, was uns blüht.
Zürich, August 2024
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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