Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Anthologika (Teil 3)

Anthologika

Teil 2 siehe hier

Dass es unter den «wichtigsten» immer auch noch besonders «wichtige» gibt, ist an der Anzahl von Einzeltexten pro Autor zu erkennen. Unangefochten an der Spitze steht in diesem Fall Goethe mit 17 Gedichten, gefolgt von Brecht mit 11, Schiller, Heine und Benn mit je 10, Meyer mit 8, Mörike mit 7, Rilke mit 6. Die meisten späteren Beiträger sind bloss noch mit einem oder zwei Gedichten vertreten, nur Eich mit 5 und Enzensberger mit 4 heben sich davon ab.
Diese quantitative Übersicht bestätigt das konservative, klar am Kanon orientierte Konzept der vorliegenden Anthologie. Entdeckungen, Überraschungen sind hier nicht zu erwarten, die Bestätigung des Vertrauten geht vor.
Demgegenüber sind die Defizite der wohltemperierten Auswahl um so augenfälliger. Dutzende von wichtigen Autoren bleiben im Schatten der angeblich «wichtigsten» unberücksichtigt.
Davon ist namentlich das weite Feld der experimentellen Dichtung betroffen: Der literarhistorisch doch längst aufgearbeitete Dadaismus (mit den Protagonisten Arp, Ball, Hennings, Huelsenbeck, Schwitters, Hausmann) bleibt ebenso ausgeblendet wie der Grossteil der viel später geschlossen aufrückende Avantgarde mit Autoren wie Heissenbüttel, Pastior, Artmann, Gerstl, Czurda, Achleitner, Eisendle und manch andern, die die neuere formalistische Poesie für lange Zeit mehrheitsfähig, sogar populär gemacht haben.
Auch sprachmächtige Einzelgänger vom Rang eines Ulrich Zieger, einer Inge Müller oder Christine Lavant warten weiterhin darauf, den «Besten» an die Seite gestellt zu werden – Voraussetzung dafür wäre (aus Platz- wie aus Qualitätsgründen) der Verzicht auf mancherlei Texte, die vielleicht über längere Zeit den «besten» zugerechnet wurden, heute jedoch anders gelesen und begutachtet.

… Fortsetzung am 4.12.2024 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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