Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Anthologika (Teil 5)

Anthologika

Teil 4 siehe hier

In dieser Hinsicht hat Dietrich Bode mit seinen «Deutschen Gedichten» nicht eben viel Unterscheidendes vorzuzeigen. Zu seinen Auswahlkriterien schweigt er sich aus, stellt lediglich fest, dass «so etwas wie ästhetische Qualität» auch für ihn Geltung habe und dass diese Qualität «das Populäre» selbstverständlich mit einschliesse; sein dürftiges Fazit lautet: «Allgemeingültigkeit bildet ein Mass.»
Die hier genannten Kriterien der Allgemeingültigkeit, der Popularität und der «ästhetischen Qualität» erfüllt wohl optimal Hermann Hesse mit seinem weithin bekannten, auch heute noch von schulischen Lesebüchern kolportierten Gedicht «Stufen» aus dem Kriegsjahr 1941. Es ist das einzige von Hesses zirka 1’400 Gedichten, das Bode in seine Anthologie eingerückt hat, und da er die Chronologie nicht an der Entstehung oder am Erstdruck der Texte, sondern am Geburtsjahr der Verfasser orientiert, kommt es ungut zwischen je ein viel früheres Gedicht von Däubler (1910) und Stadler (1914) zu stehen.
​Hier der Wortlaut:

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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