Anthologika
Teil 5 siehe hier …
Was ist mit Hesses «Stufen», diesem «wichtigen», «besten» Gedicht, heute anzufangen?
Mag ja sein, dass die vielzitierten Zeilen «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, | Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben» bei Hesses gealterter Lesergemeinde noch in tröstlicher Erinnerung ist, doch wer unter den gegenwärtig Heranwachsenden wird sich von so schlicht gereimten Weisheiten einnehmen oder gar belehren lassen?
Das Gedicht kommt formal und gehaltlich daher, als hätte die literarische Moderne – mit dem Expressionismus, dem Futurismus, dem Surrealismus – nicht stattgefunden; seine Beschaulichkeit und Ausgewogenheit erinnert an Mörike, Meyer, Keller, Storm, die im vorvorigen Jahrhundert langfristig den lyrischen Kammerton bestimmten.
So gut wie alles an Hesses Text entspricht althergebrachten Regeln und Usanzen poetischer Rede. Lediglich die ungleiche Dimensionierung der drei Strophen sowie gelegentliche Abweichungen vom metrischen Grundschema beeinträchtigen – geringfügig – die Perfektion.
Die durchwegs korrekten (teils gekreuzten, teils gepaarten) Endreime wiederum sind gerade wegen ihrer perfekten Fügung uninteressant, sie wirken wie Findlinge aus dem Reimlexikon: Jugend :: Tugend; geben :: leben; hängen :: engen; erschlaffen :: entraffen usf. Dass die Sprachkunst des frühen 20. Jahrhunderts solchen Reimzwang durch bewusst unreine oder arhythmische Reime nachhaltig konterkariert und daraus neue poetische Qualitäten entwickelt hat, scheint für Hermann Hesse irrelevant gewesen zu sein.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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