Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie
Teil 10 siehe hier …
In neueren Bildnisgedichten werden gern auch Fotografien zum Gegenstand der Betrachtung, vorab solche, auf denen Personen der Zeitgeschichte oder Angehörige und Bekannte aus privatem Kreis festgehalten sind. Von Christian Morgenstern gibt es (in der Lyriksammlung »Melancholie«, 1906) ein Gedicht, das von einem Fotobild seiner verstorbenen Mutter inspiriert ist:
Dieser zarte Leib hat mich geboren;
grausam drängt’ ich mich aus seinem Schoß,
riß mein Leben von dem seinen los,
hab’ ihn hinter mir in Nacht verloren.
Kehrst du nie zurück, auch nicht im Geiste?
Bist du mir gestorben ewiglich?
Und doch gab es eine Zeit: da kreiste
deines Herzens Blut durch dich und mich!
Ein Bildgedicht ist das nur insofern, als «dieser zarte Leib» – durch das hinweisende Fürwort – auf die fotografierte Mutter bezogen ist. Doch alles andere, ab zweitem Vers, sind Reflexionen und Erinnerungen, die durch das Bild zwar ausgelöst, nicht jedoch auf ihm festgehalten sind, so der »Schoss», das «Herz», das «Blut» der Dargestellten – ein weiterer Beleg dafür, dass das Bildgedicht in aller Regel mehr zum Ausdruck bringt, als die Bildvorlage als solche zu bieten vermag.
Bei Felix Philipp Ingold («Tagesform», 2007) findet sich unter dem Titel «Bildnis» ein Gedicht auf Wladimir Majakowskij nach einer Fotografie von 1929. Die Schwarzweissaufnahme kann nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, das Bildgedicht soll deshalb möglichst viele physiognomische Details festhalten und auch ohne Seitenblick auf das Original den Dichter in seiner Körperlichkeit vergegenwärtigen:
Da ist die Wir!-Stirn
mit dem Anflug von Trotz
und Traum und «warte nur balde».
Da ist – gehisst an Stelle
der Braue rechts – das pelzige Ohr
wie’s den Riesen verrät. Da ist – noch heiss –
das Lid das den vorletzten
Blick fällt. Da ist die Schläfe für den
bleiernen Schlusspunkt und – etwas weiter unten –
gewaltig der Schlaf.
Da ist denn auch bald schon –
zu schön und notwendig – der Engel.
Die Fotografie entstand ein Jahr vor Majakowskijs Freitod («bleierner Schlusspunkt»), der im Gedicht mit dem Zitat «warte nur balde» annonciert und später als gewaltiger Schlaf, schliesslich als notwendiger Engel bezeichnet wird. All dies ist auf der Fotografie nicht zu sehen, es lässt sich aber – nachträglich – imaginieren, wie im vorliegenden Gedicht.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
Schreibe einen Kommentar