Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie
Teil 11 siehe hier …
Gegenstand und Anlass von Bildgedichten können auch reale, fiktive, symbolische Szenen (Episoden) sein, beispielsweise aus den Homerischen Epen, aus Ovids Metamorphosen, aus biblischen Geschichten und Gleichnissen oder aus historischen Zusammenhängen (Alexanderschlacht, Erdbeben von Lissabon oder Messina, Erstürmung des Winterpalasts in Petersburg usf.).
Die Malerei ist reich an derartigen Darstellungen, entsprechend weitläufig auch die Bilddichtung, die populäre Motive wie «Die Blinden» und «Sturz des Ikarus» von Breughel, «Leda und der Schwan» oder «Das Jüngste Gericht» von Michelangelo, Rembrandts «Anatomie des Doktor Tulp» und so fort bis hin zu Picassos «Guernica» und darüber hinaus.
Sarah Kirsch nimmt sich Pieter Breughels d. Ä. figurenreiches Gemälde der «Jäger im Schnee» zum Vorbild für ein lyrisches «Breughel-Bild» (1965), das sich allerdings unter ihrer Schreibhand bis zur Unkenntlichkeit verändert – nicht die titelgebenden Jäger und auch nicht deren Hunde stehen hier im Fokus, ja, sie werden nicht einmal erwähnt, so wie auch die vielen Schlittschuhläufer im Bildhintergrund unbemerkt bleiben. Statt dessen konzentriert sich das Interesse ausschliesslich auf die paar wenigen Krähen, die am oberen Bildrand lediglich als marginale Ausschmückung zu sehen sind:
Der Himmel schneit sich nackt und grün
schon häuft sichs besetzt die Erde auf Landsknechtart
fallen Krähen ein belauben den Baum
schrein spähn sammeln sich fliegen weiter
werden grauer im Schnee sind klein fast weiss
Kältevögel wohin geht eure Strasse was zieht euch
ein dampfender Maissilo ein Schlachthaus ein Rapsfeld das Schlachtfeld
womit wollt ihr euch mästen wie denkt ihr
ohne Verluste übern Winter zu kommen wartet
nicht diesen Winter ist es umsonst fliegt
über die schwarzborstigen Berge: hier fällt nichts ab
Dieses «Breughel-Bild» blendet seine Vorlage fast völlig aus, nimmt es lediglich zum Anlass für eine dezidierte Überblendung: Die Suche der Jäger nach Beutetieren wird ersetzt durch die Suche der hungrigen Krähen nach Nahrung, die dörfliche Szenerie mit den dahinter aufragenden Schneegebirgen wird willkürlich verfremdet durch zusätzlich eingeführte Elemente wie «Maissilo», «Schlachthaus», «schwarzborstige Berge»: Als Gedicht mutiert das «Breughel-Bild» zu einem «Kirsch-Bild», das auf das Original nicht mehr angewiesen ist und durchaus eigenständig sich behaupten kann.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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