Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Bildgedichte (Teil 2)

Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie

Teil 1 siehe hier …

Das Bildgedicht ist eine Sonderform der Bildbeschreibung, der gegenüber es einen sprachkünstlerischen Mehrwert zu erbringen hat. Worin dieser Mehrwert besteht und worauf er beruht, ist gar nicht so leicht auszumachen. Denn was gewinnt eine Beschreibung dadurch, dass sie in Versen und Strophen formuliert wird? In Metaphern statt in Begriffen? Wohl gewinnt sie an Prägnanz, an Wirkung und Eigenständigkeit, verliert dabei aber notwendigerweise an faktographischer Genauigkeit –
– was freilich für das Bildgedicht als solches kaum von Belang ist, da es ja gerade nicht objektiv beschreibend auf seine jeweilige Vorlage eingeht, sondern (umgekehrt:) assoziativ davon ausgeht, um das Bild als ein anderes, eben sprachlich verfasstes gleichsam neu zu erschaffen.
Um zunächst bei der Vorlage zu bleiben: Diese kann durch ein bildnerisches Originalwerk gegeben sein, aber auch – häufiger – durch eine Reproduktion (Grafik nach einem Gemälde, Xerografie, Kunstpostkarte, Kunstkatalog, Fotografie, Selfie usf.); und nicht zu vergessen: Manche Bildgedichte werden von bereits bestehenden, konventionellen Bildbeschreibungen hergeleitet, bisweilen auch von fiktiven Bildbeschreibungen, zu denen es kein Original gibt.
Festzuhalten ist folglich, dass das Bildgedicht keineswegs auf persönlichen Augenschein angewiesen ist, dass es oft auf Kopien beruht und dass es – darüber hinaus – auch frei erfunden werden kann (als Fantasieschöpfung, Traumbild, Vision).
Der elementare (oder prinzipielle) Unterschied zwischen Bild und Bildgedicht besteht darin, dass dieses auf der Zeitachse linear-progressiv geschrieben und gelesen wird, wohingegen jenes statisch im Raum vorgegeben ist. Auch diesbezüglich gehören Bilder und Bildgedichte verschiedenen Dimensionen an.

… Fortsetzung hier …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik