Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie
Teil 2 siehe hier …
Gerade – aber nicht nur – unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage, ob und inwieweit das Bildgedicht von seiner Vorlage unabhängig bestehen kann. Tatsache ist, dass die meisten Bildgedichte ohne Reproduktion des Originals auskommen, mithin als eigenständige Texte gelesen werden wollen. Der unmittelbare Bezug des Gedichts zum Bild geht demzufolge verloren, es sei denn, der Leser, die Leserin habe die Vorlage als bildhafte Erinnerung präsent.
Andrerseits eröffnet ein Bildgedicht, das ohne sein Vorbild abgedruckt wird, die Möglichkeit, beim Lesen ein eigenes, davon unabhängiges Nachbild durch Vorstellung und Assoziation entstehen zu lassen.
Paul Eluard, wohl der produktivste, auch versierteste, variantenreichste Bilddichter der europäischen Moderne, hat diese Wahrnehmungsproblematik vielfach bedacht und experimentell erkundet. Beispielhaft dafür ist ein kurzes lyrisches Stück mit dem Titel «Das Offenkundige» (L’évidence, 1937), das er eigens zu einer gleichnamigen Zeichnung von Man Ray verfasst hat und das er probeweise mit der Bildvorlage und auch ohne sie erscheinen liess.
Der mensch die pflanze der wasserstrahl
Die sanften flammen gewisse tiere
Und der unfaltbare vogel der nacht
Gesellen sich zu deinen augen
Sie stehn aufrecht
Du wahrst dein gleichgewicht
Den händen zum trotz den zweigen zum trotz
Dem rauch zum trotz und den flügeln
Zum trotz der unordnung und deines betts
(deutsch von Felix Philipp Ingold)
Der Vergleich von Text und Bild macht klar, dass Eluard zwar diverse Motive von Ray übernommen (Flammen, Hände, Zweige, Auge, dazu das Gleichgewicht und die Unordnung der Komposition), andere jedoch (Mund, Stern, Schleife) fortgelassen und wieder andere hinzugefügt hat (Wasserstrahl, Vogel, Bett u.a.m.); dazu kommt die willkürliche Anrede eines Du, mit dem eine aussenstehende Person, aber auch die vorliegende Zeichnung als solche gemeint sein könnte – alles Belege dafür, wie frei die Bilddichtung mit ihren Vorlagen verfahren kann.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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