Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Bildgedichte (Teil 5)

Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie

Teil 4 siehe hier

Wenn die Gioconda ein reales Vorbild hatte, so ist dies bei der mythischen Venus natürlich nicht der Fall. Die Venus wird als Frau schlechthin in Stellung gebracht und als Verkörperung purer Weiblichkeit gefeiert, anders als beispielsweise die biblische Eva, die durchwegs für Verführung, Verrat, Sündhaftigkeit einzustehen hat und auf Requisiten wie Baum, Apfel, Schlange angewiesen ist.
Die Venus-Gedichte beziehen sich mehrheitlich auf die antike Skulptur der Venus von Milo (Louvre) sowie auf Sandro Botticellis «Geburt der Venus» (Uffizien) – Triumph der Schönheit da wie dort, bei Botticelli gepaart mit souveräner Heiterkeit und Sinnlichkeit, malerisch vorgeführt mit schwelgerischer Farbenpracht; bei der Venus von Milo, schlicht gestaltet aus grauem Marmor, dominieren Strenge und Unnahbarkeit.

 

Die Venus von Milo (auch Aphrodite von Melos), eine halbnackte Statue der Göttin Aphrodite, ist eines der bekanntesten Beispiele der hellenistischen Kunst. Die im Original 2,02 Meter hohe und somit leicht überlebensgroße Statue entstand gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr.

Die Venus von Milo (2. Jh. v. Chr.)

 

„Die Geburt der Venus“ (La nascita di Venere) zählt zu den berühmtesten Werken des italienischen Malers und Zeichners Sandro Botticelli (1446-1510). Es zeigt kein christlich-religöses, sondern ein Motiv der klassischen Mythologie: Venus, die römische Göttin der Liebe und der Schönheit.

Sandro Botticelli, «Die Geburts der Venus» (1485:1486)

Rainer Maria Rilke bringt Botticellis «Geburt der Venus» in einem vielstrophigen gleichnamigen Bildgedicht (1907) enthusiastisch zur Geltung, indem er die Gestalt der Kindfrau aus ihrer Geburt und der Herausbildung ihrer Leiblichkeit erwachsen lässt (Auszüge):

[…] Von erster Sonne schimmerte der Haarschaum
der weiten Wogenscham, an deren Rand
das Mädchen aufstand, weiß, verwirrt und feucht.
So wie ein junges grünes Blatt sich rührt,
sich reckt und Eingerolltes langsam aufschlägt,
entfaltete ihr Leib sich in die Kühle
hinein und in den unberührten Frühwind.
[…]
Und in dem Kelch des Beckens lag der Leib
wie eine junge Frucht in eines Kindes Hand.
In seines Nabels engem Becher war
das ganze Dunkel dieses hellen Lebens.
darunter hob sich licht die kleine Welle
und floß beständig über nach den Lenden,
wo dann und wann ein stilles Rieseln war.
Durchschienen aber und noch ohne Schatten,
wie ein Bestand von Birken im April,
warm, leer und unverborgen, lag die Scham.
[…] Dann kam in dieses Leibes dunkle Frühe
wie Morgenwind der erste Atemzug.
Im zartesten Geäst der Aderbäume
entstand ein Flüstern, und das Blut begann
zu rauschen über seinen tiefen Stellen.
Und dieser Wind wuchs an: nun warf er sich
mit allem Atem in die neuen Brüste
und füllte sie und drückte sich in sie, –
daß sie wie Segel, von der Ferne voll,
das leichte Mädchen nach dem Strande drängten.
So landete die Göttin.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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