Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie
Teil 5 siehe hier …
Zu Botticellis naturhaft-kindlicher Liebesgöttin steht die sehr viel ältere Venus von Milo in eklatantem Kontrast. Bei ihr handelt es sich gerade nicht um ein buntes Figuren- und Szenenbild, sondern um eine Statue aus kaltem grauem Marmor, Darstellung einer reifen, unnahbaren, bis zu den Hüften geschürzten Frau mit eher heroischer denn erotischer Ausstrahlung. Als Kunstwerk ist sie auf Harmonie, Schönheit, Perfektion angelegt, fern aller Naturhaftigkeit, nah dem ästhetischen Ideal.
Solcherart tritt sie in einem kulturpessimistischen Bildgedicht des russischen Symbolisten Dmitrij Mereshkowskij auf («Die Venus von Milo», 1891) als schweigende Künderin und Garantin einer kommenden, besseren, durch Schönheit überhöhten Welt; die Schlussstrophe des Gedichts lautet:
Doch du, du bist noch immer die Göttin der Schönheit,
blicktest schweigend in die Ferne, ohne uns zu sehen,
über uns hinweg, wie der Himmel mit klaren Augen …
Vielleicht sahst du ein neues, besseres Jahrhundert,
jene Tage, wo der Mensch zu dir zurückkehrt,
wo du von neuem Herrscherin des Alls sein wirst,
in Schönheit ähnlich der unwandelbaren Natur!
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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