Bildgedichte
Eine kleine kommentierte Anthologie
Teil 8 siehe hier …
Als Sonderform des Bildnisses ist das Selbstbildnis zu betrachten, das sich in doppelter Umkehrung darbietet. Die Position des Dargestellten wird hier vom Darsteller eingenommen (erste Umkehrung), und dessen Abbild erscheint, da es notwendigerweise über den Spiegel vermittelt wird, seitenverkehrt (zweite Umkehrung).
In der Bildnisdichtung kommt das Selbstporträt kaum zur Geltung. Das ist bemerkenswert und schwerlich erklärbar. Bei Johannes Bobrowski findet sich dafür ein rares Beispiel, das Gedicht «An Runge» (1962), angeregt durch das von 1810 datierte Selbstporträt des Malers Philipp Otto Runge; hier die zweite und letzte Strophe:
Runge, der Blick
über die Schulter, der Schritt
aus der Tür, die Münze
unter der Zunge, ein kleines
Silber – hinter den Zäunen
Schatten,
über die Wiesen mit hohem Haupt
kommt der Feldberg und redet
in Vogelsprüchen.
Einzig «der Blick | über die Schulter» lässt sich direkt auf die Bildvorlage beziehen, alles andere – Tür, Zunge, Zäune, Wiesen usf. – hat Bobrowski frei dazu imaginiert. Runges Selbstporträt (linke Schulter vorn im Bild, Brust nach links ausgerichtet, Kopf zum Betrachter gekehrt) kommt ohne Hintergrundstaffage und ohne jedes Requisit aus.
Im vorliegenden, mit mancherlei Allusionen und gegenständlichen Zutaten angereicherten Bildgedicht könnte Runge durch einen beliebigen andern Namen beziehungsweise eine andere Person ersetzt werden, ohne dabei an Ausdrucks- und Aussagekraft zu verlieren. Dass man das Originalbild beim Lesen nicht vor Augen hat, ist in diesem Fall keineswegs ein Defizit, im Gegenteil, das Gedicht gewinnt dadurch an Autonomie und Eigenart.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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