Bildwerk und Sprachwerk
Teil 6 siehe hier …
Wenn Malerei auch dort, wo sie Darstellung verunklärt oder verweigert, das Begehren nach verstehendem Sehen weckt, gilt ein Gleiches für die Dichtung, die ihre Mitteilungsfunktion zu Gunsten künstlerischer Qualitäten (Rhythmus, Melodik, Metaphorik usf.) in unterschiedlichem Ausmass reduziert beziehungsweise – wie Richter bei manchen seiner Bilder – «verwischt». Das Begehren nach verstehender Lektüre wird dadurch, nicht anders als beim Sehen, merklich verstärkt: Schwierigste Literatur provoziert die vielfältigsten und produktivsten Lesarten.
Was für Richter produktive Möglichkeit, produktiver Zufall ist («es passiert», «plötzlich stimmt es» und «ist fertig»), ergibt sich in der Dichtung auf vergleichbare Weise dort, wo sich die Sprache assoziativ als Klangmaterial entfaltet, also nicht mehr primär auf Bedeutung abhebt, sondern auf Melos, Rhythmus, Variation. Daraus erwächst der von Martin Buber so genannte «Leitwortstil», der den Text unabhängig von seiner Mitteilungsebene lautlich vernetzt durch stetig sich wiederholende und immer wieder abgewandelte Klangereignisse (Assonanzen, Alliterationen usf.), die teils bewusst herbeigeführt werden, teils «wie von selbst» sich ergeben. Von der biblischen Genesis bis hin zu Paul Celan finden sich dafür beliebig viele Fallbeispiele, so viele, dass man darob ins Grübeln kommt und sich tatsächlich fragt, inwieweit sich starke Dichtung dem formbildenden Eigensinn der Sprache und … oder der Formkunst des Autors verdankt.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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