Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Bitte um Gewogenheit (Teil 1)

Bitte um Gewogenheit

 

Hier ein Gedicht von Rose Ausländer, titellos und ohne Interpunktion; zu lesen ist es so:

Sei mir gewogen
Fremdling
ich liebe dich
den ich nicht kenne

Du bist die Stimme
die mich betört
Ich hab dich gehört
ruhend auf grünem Samt
du Moosatem
du Glocke des Glücks
und der unsterblichen Trauer

Ein einfaches Gedicht, dabei stimmungsvoll und aussagestark – Anrufung eines namenlosen «Fremdlings», der zugleich Adressat einer Liebeserklärung ist und nacheinander als «Stimme», als «Moosatem», als «Glocke» imaginiert wird; in all diesen disparaten Erscheinungsformen wirkt der (oder das) Fremde «betörend» auf das lyrische Ich; dass die Betörung ausser «Glück» auch «unsterbliche Trauer» erbringt, ist das ambivalente Fazit des Gedichts.

Soviel zur Aussage. Aber ist das nun ein romantisch intoniertes Liebesgedicht oder ein gefühlvolles Klagelied? Steht der «Fremdling» für eine Sehnsucht, ein Verhängnis? Bringt er Erlösung, Verlust? Oder ist (oder wäre) er selbst das «Glück», dessen stets absehbare Sterblichkeit «unsterbliche Trauer» auslöst? Die paradoxale Verschlaufung bleibt – zum Vorteil des Gedichts – unaufgelöst.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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