Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Blind geschrieben, blind gelesen (Teil 2)

Blind geschrieben, blind gelesen
Dichtung als Klangereignis

Teil 1 siehe hier

Bleiben die Dichter, denen seit jeher magische, gar prophetische Fähigkeiten zugesprochen werden – nebst ihrer Neigung zu Lügenhaftigkeit, Verschleierung oder Verführung, die bekanntlich schon Platon gerügt hat. Dass die Sprachkunst nicht selten tatsächlich «von Blindheit geschlagen» war, hat die Dichter erst recht als «Seher», als Visionäre glaubhaft gemacht – zwischen Homer und Milton und Joyce gibt es manch ein Beispiel dafür, wie die getrübte oder verhinderte Sicht hinaus in die Welt die Sicht nach innen, die Einsicht, vertiefen kann. Jorge Luis Borges, ebenfalls blind, bringt dies mit einer knappen rhetorischen Frage auf den Punkt: «Wer kann sich, dem sokratischen Satz [‘erkenne dich selbst’] folgend, besser erkennen als ein Blinder?»
Darüber sollte nicht vergessen werden, dass der blinde Visionär in jedem Fall ein aufmerksamer Hörer und ein klangbewusster Sprecher ist, der gleichsam mit den Ohren sieht und das Gesehene mit eigener Stimme als mündlichen Text artikuliert. Die alten Rhapsoden und Skalden wie auch die Ammen mit ihren Wiegenliedern haben (ohne sehbehindert zu sein) die Lautqualität der Sprache allgemein, besonders jedoch die Musikalität der Dichtung nachhaltig herausgestellt.

Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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