Dantesk
Wer liest heute noch die Göttliche Komödie – und wie?
Im Vorwort zu seinen ingeniösen «Versuchen» (1945-1982) über Dante Alighieri hält Jorge Luis Borges bedauernd fest, dass uns heute «das Glück verwehrt» sei, die Göttliche Komödie «unschuldig lesen zu können» – zuviel sei über das Werk im Verlauf der Jahrhunderte geforscht und geschrieben, zuviel an Hintergrundwissen angehäuft worden, als dass man zum Text noch unmittelbar Zugang finden könnte: Ohne Rückgriff auf die einschlägige Sekundärliteratur, die das Werk umfangmässig weit hinter sich lässt, ist dessen Verständnis in keiner Weise zu bewerkstelligen. Dante zu lesen heisse nichts anderes, meint Borges, als Dantes Editoren und Kommentatoren zu studieren; eine naive Lektüre der Komödie, ob im Originaltext oder in Übersetzung, sei deshalb längst nicht mehr praktikabel.
Fast scheint Borges sich entschuldigen zu wollen dafür, dass auch er bei seiner «lectura Dantis» unentwegt auf Lesarten anderer Autoren zurückgreift, zurückgreifen muss, weil es «auf Erden nichts gibt, was nicht in der Göttlichen Komödie enthalten wäre», und all dies – mythologische, biblische, philosophische, literarische, zeitgeschichtliche, wissenschaftliche und sonstige Quellen – zu erschliessen, sei einzig in geteilter beziehungsweise kollektiver Arbeit am Text noch möglich.
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© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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