Das Gedicht als Sprachereignis
Inwieweit Gedichte entstehen oder gemacht werden; ob sie also Produkt eines Wachstums– oder eines Arbeitsprozesses sind – das ist eine alte und entsprechend oft gestellte Frage, die sich noch differenzieren (und damit zusätzlich komplizieren) liesse durch die naheliegende Annahme, dass stets beides, Automatismus und gewollte Bewerkstelligung, für die Hervorbringung eines Gedichts vonnöten ist; was sogleich die Zusatzfrage auslöst, in welchem Verhältnis dann aber eigengesetzliches «Wachstum» und gezielte «Arbeit» zueinander stehen müssten?
Der Genfer Linguist Ferdinand de Saussure ist diesen Fragen forschend nachgegangen, als er im frühen 20. Jahrhundert Tausende von Textbelegen zusammentrug, die seine These stützen sollten, wonach die Versdichtung weitgehend durch Leitwörter (Hypogramme) bestimmt sei, die entfaltet und dabei vervielfacht werden, indem man ihren Buchstaben- oder Silbenbestand durch Versetzung, Vertauschung, Verkehrung anagrammatisch immer wieder anders arrangiert.
De Saussure glaubte einem univeralpoetischen Prinzip auf der Spur zu sein, das für die Dichtersprachen aller Epochen Geltung hätte, doch es gelang ihm trotz jahrelanger Beschäftigung mit der Materie nicht, seine Beobachtungen widerspruchsfrei auf den Punkt zu bringen, sie in einen kohärenten Theorierahmen einzupassen. Es blieb bei der vorläufigen These: Die dichterische Rede entfaltet sich über einem vorgegebenen (oder vorgefassten) Subtext von ungeordneten Silben und Wörtern, welche im Vers, in der Strophe zu klangähnlichen Wortverbindungen (darunter auch Metaphern) synthetisiert werden. De Saussure unterstellt also, dass der Wortbestand eines Dichtwerks in jedem Fall auf vorgegebenem unterschwelligem Sprachmaterial beruht und aus diesem hervorgeht – oder hervorgebracht werden muss.
Der mehrfach bezeugte «Horror», gar «Wahnsinn» des Linguisten gründete in der letztlichen Ungewissheit, ob und in welchem Grad die Arbeit am dichterischen Text durch solche Vorgaben gleichsam programmiert, wenn nicht automatisiert wird, oder andersherum – inwieweit der Autor an seinem Werk überhaupt produktiven Anteil hat. Das ist eine poetologische wie auch sprachphilosophische Grundfrage. Martin Buber und Franz Rosenzweig haben sie im Zusammenhang mit ihrer Neuübersetzung des Alten Testaments eingehend erörtert und daraus das Konzept des «Leitwortstils» entwickelt, das ebenfalls auf die assoziative lautliche Eigendynamik sprachlicher Vorgaben Bezug nimmt.
Ferdinand de Saussure wiederum hat seine diesbezüglichen Zweifel nie überwinden können: Ist Dichtung zumindest teilweise ein Werk des Zufalls oder ist sie ausschliesslich das Ergebnis zielstrebiger, selbstbestimmter auktorialer Arbeit? Ist in den zwei Dutzend Buchstaben des Alphabets und deren nahezu unbeschränkter, immer wieder neuer Kombinierbarkeit immer schon angelegt, was an Texten daraus entsteht oder eben gemacht wird?
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Ich rücke hier ein eigenes, bisher unveröffentlichtes Gedicht ein, um de Saussures Beobachtungen, die ja allgemeine Geltung haben sollten, beispielhaft zu veranschaulichen:
Was dem Blinden die Nacht (1)
ist? Eine Binde nein
eher ein Wortgewicht. Nicht
viel schwerer als echtes
Licht oder ein falsches Versprechen. (5)
Ech! komm und aber nein
geh nicht zu weit. Am weitesten
reicht (noch weiter als
Blindheit) der geräumige Himmel
des Unwissens. (10)
Tatsächlich lässt sich hier leicht der fragmentarische Subtext erkennen, aus dem heraus das Gedicht sich entfaltet. In den Versen (1) bis (3) sind es die Lautverbindungen «inde» (Blinden/Binde), «ein» (eine/nein/ein), «ich» (Gewicht/nicht), dazu die Umlautung «acht»/»icht» (Nacht/Gewicht/nicht). In (3) bis (6) fungieren entsprechend «icht» (nicht/Licht), «ech» (echtes/Versprechen/ech!) sowie «wer»/»ver» (schwerer/Versprechen), derweil (5) bis (9) dominiert sind vom Doppellaut «ei» (ein/nein/weit/weitesten/reicht/ weiter/Blindheit). Die solcherart sich häufenden Lautverbindungen scheinen als Attraktoren automatisch immer noch mehr klangähnliche Kombinationen nach sich zu ziehen.
So weit so klar.
Doch eindeutig ist die Sachlage auch für mich nicht, der ich als Autor doch eigentlich wissen müsste, welche Wortwahl ich beim Schreiben bewusst getroffen habe und was mir beiläufig eingefallen, zugefallen ist.
Nein, genau weiss ich’s nicht.
Der Vorgang ist mir nicht mehr präsent, und ich kann ihn auch nicht rekonstruieren. Ob (und inwieweit) der Text gewollt oder ungewollt so geworden ist, wie er nun dasteht, muss offenbleiben. Nur als das, was dasteht, soll er – als Gedicht – gelesen und (so oder anders) verstanden werden.
© Felix Philipp Ingold
aus unveröffentlichten Manuskripten
P.S. Wie gefragt, so getan. Einige redaktionelle Erläuterungssätze zu dem Skorpioversaprojekt in seinen Grundfesten finden sie hier.
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