Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Dichterische Philosophie (Teil 2)

Dichterische Philosophie

Der französische Lyriker Roger Munier

Teil 1 siehe hier

«Die Poesie ist künftig», notierte Munier einst in einem seiner Schreibhefte, doch ihr übliches Geschick bestehe darin, über kurz oder lang zur blossen «Redensart», zum «Gemeinplatz» zu verflachen. Gemeint ist damit, dass Gedichte, sobald sie verständlich und zitierbar werden, ihren künstlerischen Status verlieren und nur noch als Allgemeingut überdauern. Also wäre das Gedicht nie zeitgenössisch, schon gar nicht zeitgemäss; unverständlich oder jedenfalls schwer zu verstehen heute, und morgen – nichtssagend wie die automatisierte Alltagsrede.

Elitäres Postulat das Hermetismus? Rückgriff auf orphische Urworte? Absage an jede Form engagierter Dichtung? Resignative Kunst- und Selbstverachtung des Autors?

Eine schwerwiegende Ambivalenz in jedem Fall. Das Gedicht – letztlich wie ursprünglich – als Orakelspruch, der wohl zu vernehmen, zu lesen ist, nicht jedoch adäquat gedeutet werden kann: Das Geheimnis des Orakels ist das Geheimnis, keineswegs die Lösung.

Bei Roger Munier bleiben die schärfsten Gegensätze und Widersprüche in der Schwebe, heben sich wechselseitig auf. Macht und Ohnmacht, Wert und Unwert des Gedichts bedingen einander, und gleichzeitig verhindern sie jegliche Eindeutigkeit. Auch diesbezüglich ist das Paradoxon Muniers bevorzugte rhetorische Figur: Nur was der formalen Logik zuwiderläuft, kann höhere Bedeutung gewinnen – Sinn.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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