Dichtung als Schwarzkunst
Teil 3 siehe hier …
In der Poesie ist die übliche flüchtige Lesart unergiebig. Defizitär bleibt sie (bliebe sie) aus verschiedenen Gründen. Erstens ergibt sich Bedeutung in poetischen Texten nie «erwartungsgemäss»; zweitens hat das Einzelwort nebst (und vor) seiner Bedeutung einen klanglichen Eigenwert und ist Teil einer rhythmischen Struktur; drittens kann das Wort auf der Schriftebene (etwa als Anagramm, als Palindrom, als Reim) eine Sonderfunktion übernehmen, die nur bei buchstäblicher Lektüre erkennbar wird.
Lektüre, so praktiziert, nähert sich der Betrachtung an, figurative Gedichte sind Text und Bild in einem, Figurenalphabete evozieren die physiologische Grundstruktur von Schriftzeichen, oder umgekehrt – die Schriftzeichen evozieren physiologische (menschliche, tierische, pflanzliche) Strukturbildungen. Doch diese besondere, besonders nahsichtige Optik wird nur selten eingesetzt, und die Buchstaben als solche treten bei normalem Lesen gleichsam hinter die Wörter und Sätze zurück, deren Elementarteilchen sie sind.
Doch in jedem Fall bleibt für den Text die kontrastive Verschränkung von Schwarz mit Weiss unabdingbare Voraussetzung nicht bloss seiner Entstehung, sondern auch seiner Lesbarkeit. Dieses schlichte Faktum wird in vielen Gedichten thematisiert, dabei oft metaphorisch überhöht oder symbolisch erweitert und verallgemeinert. Das weisse (leere) Blatt als horrender Abgrund, die Schwärze der Schrift als fataler Schattenriss – das sind die dominanten Bilder für die dichterische Passion: «Auf weissem hellwachem Papier | in die Irre gehen …» (Günter Grass). Passion als Leidenschaft und auch als Leidensweg.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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