Dichtung als Schwarzkunst
Teil 4 siehe hier …
Pathetisch und idyllisch zugleich vergegenwärtigt Conrad Ferdinand Meyer in einem oft zitierten metapoetischen Gedicht von 1872 (Erstdruck 1882) sowohl die Grandiosität als auch die Vergänglichkeit literarischen Tuns, indem er es einem Naturereignis gleichsetzt: Der dichterische Text als «schwarzschattende Kastanie», d.h. das Geschriebene, das Gedruckte tritt wie der verästelte, gitterartige Schatten eines Kastanienbaums in Erscheinung:
Schwarzschattende Kastanie,
Mein windgeregtes Sommerzelt,
Du senkst zur Flut dein weit Geäst,
Dein Laub, es durstet und es trinkt,
Schwarzschattende Kastanie!
Im Porte badet junge Brut
Mit Hader oder Lustgeschrei.
Und Kinder schwimmen leuchtend weiß
Im Gitter deines Blätterwerks,
Schwarzschattende Kastanie!
Und dämmern See und Ufer ein
Und rauscht vorbei das Abendboot,
So zuckt aus roter Schiffslatern
Ein Blitz und wandert auf dem Schwung
Der Flut, gebrochnen Lettern gleich,
Bis unter deinem Laub erlischt
Die rätselhafte Flammenschrift,
Schwarzschattende Kastanie!
Die «schwarzschattende Kastanie», die hier mit Du angesprochen wird, kehrt in dieser langen ungereimten Strophe als dichterisches Bild viermal wieder. Der manierierte Ausdruck bildet den ersten und den letzten Vers, also die Klammer, die den Text im Zeichen der Schwärze zusammenhält. Zeitlich wird auf Sommer und Abend verwiesen, räumlich auf einen Seeanstoss. Die alte «schwarzschattende Kastanie» steht in Kontrast zu den Kindern, die «leuchtend weiss» im schwarzen «Gitter» ihres «Blätterwerks» am Baden sind.
Mit Einbruch der Dunkelheit lässt Meyer ein Boot aufkreuzen, dessen rotes Bordlicht als Reflex («Blitz») über die Wellen «wandert» und so, «gebrochnen Lettern gleich», eine «rätselhafte Flammenschrift» erzeugt. Das ursprüngliche Bild der «schwarzschattenden Kastanie» wird dadurch überblendet und zugleich ins Gegenteil verkehrt: Meyer ergänzt die naturhafte schwarze Schattenschrift (auf dem sonnigen Ufer) durch die künstliche Lichtschrift (auf dem finsteren Wasser). Warum diese – wie ein «Blitz»!? – «rot» sein muss, wird nicht plausibel gemacht. So oder anders ist die Schrift bewegt, der poetische Vergleich soll demnach den Prozess des Schreibens evozieren, und nicht den Text als dessen Ergebnis.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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