Dichtung als Schwarzkunst
Teil 5 siehe hier …
Fast anderthalb Jahrhunderte nach Conrad Ferdinand Meyer verfasst die Lyrikerin Erika Burkart ein Gedicht («Die Nacht», 2005), dessen Setting so auffällige Übereinstimmungen mit «Schwarzschattende Kastanie» aufweist, dass man eine direkte Beeinflussung vermuten könnte; das Gedicht liest sich wie folgt:
Durchwirkt
von der Geheimschrift der Zweige,
stimmt der Himmel sich ein
auf den Schwarzen Planeten.
Im Herzumdrehen
wird alles schwarz sein,
der Wald, das Feld, seine Muhme, das Moor.
Schwarz passieren Bäume die Grenze,
erlöschen im Wasser Gesicht und Licht,
rollt der Igel sich ein, kriechen Hecken,
setzt Zaun- von Zaunpfahl sich ab,
befühlt der Wind Sagen-Steine,
wachsen Steine sich ein ins Grab.
Weiss scheint allein
das unbeschriebene Blatt,
ein Brief von Unbekannt,
nachts zu lesen,
ohne Anschrift und Gruss,
eine Seite Schnee
aus dem Lebensbuch
meiner Winter.
Wie bei Meyer fügt sich auch hier das Geäst eines Baums zu einer naturhaften «Geheimschrift», allerdings nicht in Form eines Schattenwurfs auf dem Boden, vielmehr direkt als ein schwarzes Muster, das sich vom Himmel – vor dem Himmel – abhebt. Der Himmel ist im Begriff, sich «einzustimmen» auf die Nacht, die die Erde zum «Schwarzen Planeten» machen wird und überhaupt «alles» mit ihrer Schwärze überzieht.
«Schwarz» kehrt wieder mit der Nebenbedeutung von «heimlich» oder «illegal»: «Schwarz passieren Bäume die Grenze …» Gemeint ist wohl die Grenze zwischen Licht und Dunkel, Tag und Nacht, womöglich auch zwischen Leben und Tod («wachsen Steine sich ein ins Grab»).
Gegenüber oder entgegen all dieser Schwärze tut sich in der Schlussstrophe die grosse Weisse auf, das unbeschriebene, also das zu beschreibende Blatt, das sich – merkwürdig – wie «ein Brief von Unbekannt» ausnimmt, obwohl es doch keinerlei Nachricht übermittelt, ein «Brief», der angeblich auch «nachts zu lesen» ist: «… eine Seite Schnee | aus dem Lebensbuch» der Autorin, die sich im letzten Vers pronominal («meiner») zu erkennen gibt.
Der konventionelle Vergleich des weissen Blatts mit einer «Seite Schnee» dient auch bei Erika Burkart dazu, Künstlichkeit und Naturhaftigkeit kontrastiv zusammenzuführen. Die Natur scheint dabei Vorrang zu haben: Der Schnee bietet sich (wie der Himmel) als die leere weisse Seite dar, auf der die schwarze «Geheimschrift der Zweige» sich abzeichnen kann.
… Fortsetzung hier …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
Schreibe einen Kommentar