Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Dichtung als Schwarzkunst (Teil 7)

Dichtung als Schwarzkunst

Teil 6 siehe hier

Beliebig viele Gedichte, welche die Dichtung oder das Dichten zum Gegenstand haben, stimmen mit diesem schematischen Konzept überein: Das weisse leere Blatt ist Himmel und Abgrund zugleich. Als geläufige Metaphern dafür dienen hingebreitete Schneelandschaften oder stille Gewässer, von denen sich Schatten, Vögel, kriechende Tiere wie Schriftzüge abheben und solcherart eine geheimnisvolle Bedeutung gewinnen. – Dementsprechend imaginiert Jürgen Becker («Vom Wandern der Gedanken übers Papier», 2009) das weisse Schreibblatt als «eine Fläche, die leer ist | in der Vorstellung etwa ein riesiges Schneefeld | weiss und leer», auf dem sich ein Vogelschwarm niederlässt, um in der Art von schwarzen Lettern einen Schriftzug zu bilden, der von «Veränderung» und «Vergänglichkeit» kündet.
In einer launigen Strophe führt Raphael Urweider («danke trage lieber schwarz», 2003) die üblichen Versatz- und Vergleichsstücke zu einem Phantasiebild zusammen, das den Dichter vor dem leeren Blatt durch den Aeronauten vor dem leeren Himmel ersetzt. Die Rede ist von «spitalweiss» und «schnee» und «weiss wie der beste himmel | für aeronauten weiss wie papier».
Doch gibt es zu diesem Schema auch mancherlei Abweichungen und Varianten. Karl  Henckell («Ein weisses Blatt», 1921) begreift die weisse Schreibseite als Kehrseite zur schwarzen Alltagswelt und Weltzeit, die sich finster und qualvoll darauf niederschlägt: «Ein weisses Blatt – mit Versen noch zu füllen! | Ein weisses Blatt, dem wilden Fluch bereit. | Die Qual rückt an, mich finster zu verhüllen | Und Blut zu sprühn aufs schwarze Blatt der Zeit.»
Bei Arno Reinfrank («Das weissumrissene Quadrat», 1975) wird das leere Blatt zu einem abstrakten Quadrat, das nicht mehr in der Natur, sondern in der Wissenschaft seine Grundlage hat: «Das Unsagbare kann auch der Poet | nicht sagen, aber sagen kann er wohl, | dass es unsagbar ist in dem Quadrat, | das weiss die Wissenschaft ihm offenhält.»
Am eindringlichsten führt Eugen Gomringer die Weisse des unbeschriebenen Blatts in einem visuellen Gedicht (1961) vor Augen, das ein leeres Viereck stellvertretend für die leere Seite mit der Schwärze der Druckschrift umrahmt und es durch eben diese Kontrastbildung hervorhebt:

 

Gedicht von Eugen Gomringer: „das schwarze geheimnis“ als Kunstwerk

 

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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