Dichtung als Textil
Teil 2 siehe hier …
Es finden sich aber auch – nebst den sich kreuzenden Fäden – Leerstellen (Löcher, Lücken) in dem Gewebe, das sich als Text zu lesen und zu verstehen gibt. Die Leerstellen sind integraler Bestandteil davon, Ergebnis der Webetechnik – ihnen kommt die wichtige, vom jeweiligen Autor unabhängige Funktion zu, der Lektüre eine dritte Dimension zu verleihen, nämlich den Frei- beziehungsweise Spielraum für die selbstbestimmte, eigensinnige Deutung des Texts insgesamt. Gäbe es solche (wenn auch winzigste) Löcher im Gewebe nicht, wäre mit dem Text immer schon alles gesagt – er liesse sich lesen, wohl auch verstehen, doch der Sinn (der nur bei interpretativ oder assoziativ praktiziertem Lesen aufkommen kann) hätte ohne jene Leerstellen keine Entfaltungsmöglichkeit.
Was sich in der Beschreibung allzu kompliziert darstellt, ist ohne Zusatzerklärung auf einen einfachen Nenner zu bringen: Der Schreibende (als «Weber») verfertigt aus Wörtern und Worten (den Zeilen oder «Fäden») einen Text, mithin ein «Gewebe», dessen Leerstellen («Durchschüsse», «Löcher») dem Lesenden eine zusätzliche Dimension eröffnen – den Raum für die eigene Sinnbildung.
Folglich ist der Text, so verstanden, nicht bloss ein Produkt, er ist auch ein beliebig währender hermeneutischer Prozess.
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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