Die Farbpalette der Dichtung
Eine kleine koloristische Poetik
Teil 14 siehe hier …
Rot steht zu Blau in vielfältigem Gegensatz – im Unterschied zu diesem verbindet sich Rot mit der Empfindung von Wärme, Nähe, Aktivität, aber auch Aggressivität, Animalität, Krieg und Revolution, Gefahr und Sieg. Rot ist ausserdem, wiederum anders als Blau, eine Farbe mit ambivalenter Symbolik, sie steht gleichermassen für akute Liebe (Begehren, Leidenschaft), Kraft, Impulsivität und Fortschritt wie für Wut, Gewalt und Kampf, und gerade diese Ambivalenz scheint sie für die Dichtung besonders attraktiv zu machen.
In solchem Verständnis charakterisiert Hans Werthmüller in seiner Abhandlung «Der Weltprozess und die Farben» (1950) das Rot in seiner Komplexität als die dominante Farbe des Spektrums; er schreibt: «Wir können also das Rot als den Scheitelpunkt eines Halbkreises ableiten, wie das Goethe getan hat, wo sich das Gelb und das Blau, jedes einen Viertelkreis beschreibend, gleichzeitig dort hinauf in Bewegung gesetzt haben und gleichzeitig dort oben ankommen. Wir können es aber auch linear als einen Prozess ableiten, der sich, zwischen Weiss und Schwarz, die transzendent bleiben, in der Immanenz vom Gelb über das Rot zum Blau hinüberzieht. Und beide Ableitungen sind richtig oder falsch …»
Fast gleichzeitig hat Wolfgang Borchert die ambivalente Dominanz der Farbe Rot in seinem nachgelassenen «Graurotgrünen Großstadtlied» (1937/1947) dichterisch vorgeführt in wechselndem Bezug zu andern Farben, ausgehend von «roten Mündern», endend in «rotem Blut». Rot (warm) gerinnt hier mit der Komplemenärfarbe Grün (kühl) zu einem desolaten Grau, das als Grundfarbe der Großstadt zu gelten hat:
Rote Münder, die aus grauen Schatten glühn,
girren einen süßen Schwindel.
Und der Mond grinst goldiggrün
durch das Nebelbündel.
Graue Straßen, rote Dächer,
mittendrin mal grün ein Licht.
Heimwärts gröhlt ein später Zecher
mit verknittertem Gesicht.
Grauer Stein und rotes Blut –
morgen früh ist alles gut.
Morgen weht ein grünes Blatt
über einer grauen Stadt.
… Fortsetzung am 30.1.2025 …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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