Die Farbpalette der Dichtung
Eine kleine koloristische Poetik
Teil 16 siehe hier …
In der Poesie hat Rot – das «laute Rot» (Günter Eich) – eine ähnliche Präsenz wie Blau, wird jedoch weit weniger differenziert und eher realistisch denn symbolisch eingesetzt. Meistenfalls geht es dabei um objektgebundenes Rot – rote Früchte, rote Blumen (mit natürlichem Vorrang von Rose und Mohn), rote Blätter (Herbst), Abend- oder Morgenrot, Feuer («roter Hahn»), Rotwein, rote Fahnen, rote (abgearbeitete) Hände, rote Lippen, am häufigsten allerdings um Blut: «Die ganze Welt scheint rot, | Als ob des Lebens weite Seele blutet.» (Lasker-Schüler) – Auch «blutige Tulpen» (Claire Goll), die blutrote Sonne, sogar der blutrote Mond haben in der Dichtung ihren Platz. Doch insgesamt dominiert die konventionelle Verwendung der Farbe Rot, selbst auf metaphorischer Ebene bleiben originelle Fügungen rar, derweil Befindlichkeiten wie Wut, Schmerz, Scham, Glück, Liebe durchwegs klischeehaft dem Rotbereich zugeordnet werden.
Als Schriftform bietet (böte) das Wort «rot» im Übrigen weitere Möglichkeiten beziehungsweise Spielarten poetischer Nutzung, sei es als Palindrom («Rot», rückwärts gelesen, wird zu «Tor»), sei es als Anagramm («Rot» wird durch Letternversetzung zu «Ort», so wie «Blau» zu «Laub» mutieren kann), doch haben solche Operationen eher experimentellen Charakter und demzufolge auch eher marginale Bedeutung.
Ein einziges (vielleicht das einzige?) Gedicht, in dem Rot nicht als Eigenschaft oder als Symbolwert angeführt, sondern in seiner buchstäblichen Schriftform demonstriert wird, sei hier abschliessend eingeblendet. Es handelt sich um eine lettristische Konstellation von Franz Mon («rotor», 1963), die das Wort «Rot» anagrammatisch variiert, es mithin mehrfachlesbar macht:
… Fortsetzung am 1.2.2025 …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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