Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Die Farbpalette der Dichtung (Teil 18)

Die Farbpalette der Dichtung
Eine kleine koloristische Poetik

Teil 17 siehe hier

Die Farbe Grün, aufgemischt aus Gelb und Blau, hat ein deutlich engeres Beziehungsfeld als Rot und Blau; sie evoziert generell die Biosphäre («im Grünen», «ins Grüne»), vorab die Pflanzenwelt (Blattwerk, Wiese, Wald), steht für die Selbsterneuerung des Lebens (Frühling, Weiblichkeit) wie auch für dessen soziale Ordnung («wir» statt – wie bei Rot – «ich» oder – wie bei Blau – «man»).
Im Deutschen klingt «grün» passenderweise mit «blühn» zusammen und wird denn auch gern zur Reimbildung genutzt. Friedrich Hölderlin hat dafür in zwei Versen (aus «Der Wanderer», zweite Fassung 1801) die gültige Formel geprägt: «Und das heilige Grün, der Zeuge des ewigen, schönen | Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling mich um.» Ewig, schön, frisch in stetigem Wandel – diese Qualifikationen werden der Farbe Grün noch heute (ja, heute vermehrt) zugute gehalten, gestützt und propagiert durch «grüne», ökologisch engagierte Parteien und Institutionen.
​In der Poesie ist das kühle «Grün» nicht sonderlich gefragt und bietet auch kein besonderes Interesse. Die Verwendung des Begriffs bleibt weitgehend klischeehaft, wird fast ausschliesslich auf naturhafte Realien bezogen und hat keine nachhaltige symbolische Relevanz, es sei denn als Farbe der Jugend («Grünschnabel» u.ä.) oder der Hoffnung. Immerhin hat sich Goethe (im «West-östlichen Divan», 1819) für Grün das extravagante Eigenschaftswort «augerquicklich» einfallen lassen.
Hans Werthmüller gibt (in «Der Weltprozess und die Farben», 1950) generell zu bedenken: «Der unbelebten Natur, der Physis gegenüber erscheint uns das Leben als das ganz Andere. Es ist der Übergang von den Noch-nicht- oder Nicht-mehr-Farben Weiss, Schwarz und Grau zum Grün. Es ist gleichzeitig der Übergang von der Antinomie zur Polarität, von der kausalen Naturforschung zur finalen Biologie, von der Analyse, die nur Bestandteile des stofflichen Geschehens zutage fördert, zur Synthese, die das Ganze des Organismus zu erfassen sucht.»

… Fortsetzung am 2.2.2025 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00