Die Farbpalette der Dichtung
Eine kleine koloristische Poetik
Teil 19 siehe hier …
Über zwei Jahrhunderte hin ist Grün in der deutschen Dichtung konventionell mit Feld, Wald, Wiesen, Gärten verbunden geblieben, ohne dass darüber hinaus auch metaphorisches Gelände erschlossen worden wäre. Wenn Ernst Ortlepp im mittleren 19. Jahrhundert («Klänge aus dem Saalthal», 1856) den Wald als «grüne Stadt» feiert, «die lauter grüne Häuser hat», dazu viele «krumme Strassen» und «bunte Blumen», dann kann dies heute fast schon als ökologische Vision aufgefasst werden, ist aber doch eine eher bescheidene dichterische Leistung.
Die Stereotypie der Farbe Grün bestätigt sich bei Durchsicht diesbezüglicher Gedichte von Mal zu Mal; unentwegt ist da die Rede vom «grünen Tale, dort, wo der frische Quell | Vom Berge täglich rauscht …» (Hölderlin), von der «Wiese grün | Und um die Hecken sah ich blühn …» (Novalis), «Grün schmückt rings die Welt …» (Tieck), vom grünenden «Rasen, das Aug still zu erquicken» (Mörike), vom «Bummler», der «auf der Heide lag | im Grünen …» (Scheffel), von «Grün, alles grün so rings und rund» (Müller), vom «grünen Knospenschuh» des Frühlings (Fontane), von «Wiesen voll | und nur mit Grün, mit Grün, | das treulich stille hält» (Walser) usf. – Selbst Rainer Maria Rilke, der sonst so produktive Neuerer, bleibt in dieser Klischeehaftigkeit befangen («Leise weht …», 1898):
… Und der Blütenbaum wird blühn,
blühn vor allen Bäumen,
sonnig wird dein Saum erglühn
und verklärt im Laubengrün
wird dein junges Muttermühn
Kinderhemdchen säumen.
… Fortsetzung am 4.2.2025 …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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