Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Die Farbpalette der Dichtung (Teil 4)

Die Farbpalette der Dichtung
Eine kleine koloristische Poetik

Teil 3 siehe hier

In der künstlerischen Literatur (nicht anders, übrigens, als in der Alltagssprache) werden Farbwörter oft und gern und ganz selbstverständlich in übertragener, also uneigentlicher Bedeutung verwendet. Beispiel: Das Wort «rot» kann die Farbe Rot oder beliebige rote Objekte in der realen Welt bezeichnen. Die Morgenröte, der Rotwein, das Rotwild, die Rotkehlchen, die Rötlinge werden «rot» genannt, weil sie rot sind, doch häufig steht «rot» auch für Phänomene wie Zorn, Revolution, Gefahr, Leidenschaft oder Erhabenheit, was mit der Farbe Rot nichts zu schaffen hat, konventionell aber – völlig willkürlich – damit in Verbindung gebracht wird.
​Bemerkenswert, ja, wesentlich ist nun, dass diese alternative, übertragene, also zeichenhafte oder symbolische Verwendung von Farbwörtern für die Dichtung absolut vorrangig ist, während andrerseits deren üblicher Einsatz zur Bezeichnung realer Farbigkeit («blauer Himmel», «grünes Laub», «gelbe Sonne», «graue Maus» usf.) durchwegs vermieden wird. Das entspricht der generellen Tendenz dichterischen Schreibens, sich von der Gebrauchssprache abzuheben und eigene stilistische, rhetorische, metaphorische Verfahren durchzusetzen.
Die Farben – selbst die meistgenannten Grundfarben – können dadurch ungeahnte Frische gewinnen und gleichsam in neuem Licht erscheinen, etwa dann, wenn Paul Zech den Mond als «rote Zote» verunglimpft, Paul Eluard «die Erde blau wie eine Orange» imaginiert, Paul Celan ein «Wort mit all seinem Grün» aufruft oder H. C. Artmann die Sonne als «ein grünes Ei» zur Anschauung bringt.

… Fortsetzung am 19.1.2025 …

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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