Die Farbpalette der Dichtung
Eine kleine koloristische Poetik
Teil 4 siehe hier …
Farben sind auch ohne metaphorische Überhöhung mehrdeutig. Das ist bezeugt dadurch, dass man sie spontan mit Wärme (rot bis gelb) oder Kälte (grün bis violett) assoziiert oder sie als rein oder gemischt, hell oder dunkel, brillant oder matt, durchsichtig oder undurchsichtig wahrnimmt und so auch empfindet.
Diese Sinnesqualitäten lassen sich von der jeweiligen Farbe als solcher nicht trennen, weshalb sie denn auch in der Dichtung bei jedem Farbwort – bewusst oder unbewusst – die Lesart mitbestimmen. Wird also der gemeinhin als kalt geltende Mond, wie bei Zech, als «rote Zote» bezeichnet, kommt damit unweigerlich die gegenteilige Empfindung von Wärme, sogar Hitze ins Spiel, und umgekehrt mutiert Artmanns Sonne als «grünes Ei» gleichsam naturgemäss zu einem eher kalten Himmelskörper.
Allerdings fallen Wahrnehmung und Bewertung von Farben auch generell sehr unterschiedlich aus, oft sind sie ambivalent, bisweilen widersprüchlich. Mancherlei Faktoren tragen dazu bei – das Farbsehen ist in hohem Mass sowohl kulturell und sprachlich wie auch subjektiv determiniert, es bleibt in einem unaufhebbaren psychophysikalischen Relativismus befangen.
In seinem sprachspielerischen Gedicht «An Anna Blume» (1919) thematisiert Kurt Schwitters indirekt diesen Relativismus, indem er disparate Farbadjektive willkürlich ineins setzt, sie auch willkürlich auf unterschiedliche Träger projiziert oder etwa mit «rot» einen klanglichen Eindruck («girren») wiedergibt. Beleg dafür ist dieser Textauszug:
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage: 1. Anna Blume hat ein Vogel.
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel
Blau ist die Farbe deines gelben Haares.
Rot ist das Girren deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes
Tier, ich liebe dir! – Du deiner dich dir, ich dir, du mir, –
Wir?
Die Beliebtheit gewisser Farben, die Häufigkeit gewisser Farbwörter und deren jeweilige Bedeutung sind gleichermassen schwankend, selbst zwischen den Geschlechtern (männlich/weiblich) oder zwischen Alt und Jung gibt es diesbezüglich messbare Differenzen, ebenso zwischen historischen Epochen: Bei Homer kommt der Begriff «blau» (etwa als Farbe des Meeres, des Himmels) nicht vor, erst viel später ist «Blau» als Farbe eigens wahrgenommen und begrifflich bestimmt worden.
… Fortsetzung am 20.1.2025 …
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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